Benecken, Burkhard / Reinhardt, Hans - Unschuldig verurteilt
Veröffentlicht am 18.10.2023
Zwei Strafverteidiger über den Albtraum Justizirrtum.
In dubio pro reo – „im Zweifel für den Angeklagten“. Dieser strafrechtliche Grundsatz besagt, dass immer dann, wenn in einem Gerichtsverfahren ein Umstand nicht zweifelsfrei geklärt werden kann, die für die Angeklagte/den Angeklagten günstigere Tatsache angenommen werden muss. Und: reformatio in peius – in Österreich bezieht sich das Verbot der reformatio in peius stets auf ein vom Beschuldigten eingebrachtes Rechtsmittel. Ein solches darf die Ausgangsposition des Beschuldigten nie verschlechtern. Erhebt hingegen die Gegenpartei (Staatsanwaltschaft im Strafverfahren) ein Rechtsmittel, so kann die Strafe sehr wohl erhöht werden. Handelt es sich bei beiden juristischen Fachbegriffen tatsächlich nur um diffuse theoretische Floskeln?
Nach der Lektüre dieses packenden und äußerst informativen Sachbuchs tauchen Zweifel auf. So wie überhaupt am sogenannten Rechtsstaat und seinen Institutionen. Die beiden renommierten deutschen Strafverteidiger Burkhard Benecken und Hans Reinhardt gewähren einen ernüchternden Einblick hinter die Kulissen des deutschen Rechtssystems. Bereits im Vorwort gehen sie im Detail auf die unsägliche Geschichte von Jens Söring ein, der im Jahr 2019 nach 33 Jahren, 6 Monaten und 25 Tagen Haft auf Bewährung freikam und aus den USA nach Deutschland abgeschoben wurde und nunmehr dort sein Leben verbringt. Sein Fall zeigt, wie schnell einem mit objektiv unrechtmäßigen Methoden eine Straftat angehängt werden kann und die vermeintliche Schuld an einem kleben bleibt.
In weiteren Kapiteln gehen die Autoren auf Fälle ein, bei denen sich Beschuldigte selbst belasten, wie es durch Zeugenaussagen zu einem Risiko bei der tatsächlichen Wahrheitsfindung kommen kann oder wie bei so manchen Gerichtsverfahren im Zweifel gegen den Angeklagten gehandelt wird. Sehr zu denken geben auch die problematischen Erfahrungen beider Autoren mit amateurhaften Schöffen, die über Schuld und Strafe zu richten haben, mit ehrgeizigen Staatsanwälten, die sich in ihre Verfahren wie Jäger verbeißen, mit der immer wieder bei Verfahren erkennbaren unseriösen Absprachen („Kantinensolidarität“) und mit Gerichtsfällen, bei denen Anwälte als Doppelagenten agieren („Minimalverteidigung“).
Sehr zu denken geben auch die Erfahrungen beider Autoren mit Aktionen der Polizei und dem Verhalten so mancher sogenannter Gesetzeshüter, mit Sachverständigengutachten und deren Ersteller:innen u.v.m. Natürlich gilt es darauf zu verweisen, dass es sich hier um Fälle im deutschen Rechtsstaat und in dessen Rechtswesen handelt. Dabei drängt sich hintergründig die Frage auf, ob man in Österreich nicht auch unfreiwilligerweise zwischen die Mühlsteine des Gesetzes und seiner Hüter geraten könnte? Ein Schelm, der allerdings so denkt, oder?
Adalbert Melichar
Benecken, Burkhard / Reinhardt, Hans - Unschuldig verurteilt
Zwei Strafverteidiger über den Albtraum Justizirrtum. Wals: ecoWing 2023. 240 S. - fest geb. : € 24,95 (GS) ISBN 978-3-7110-0326-3