John Wray - Sprachlicher Grenzgänger und literarischer Verwandlungskünstler
Veröffentlicht am 08.11.2024
Ein Porträt des noch immer unterschätzten amerikanisch-österreichischen Schriftstellers John Wray. Von Heimo Mürzl.
John Wray ist ein Grenzgänger zwischen den Sprachen, und ein Verwandlungskünstler zwischen den Genres und zwischen Realität und Fiktion. In seinen Romanen beschäftigt er sich immer wieder mit Charakteren, die in jenem labilen Schwebezustand zwischen Jugend und Erwachsensein ihren Weg erst finden müssen – angetrieben von Euphorie, Neugierde, Sehnsüchten und verfolgt von Unsicherheit, Ängsten, Paranoia und hormonellem Irrwitz.
John Wray ist das Pseudonym von John Henderson. Geboren 1971 in Washington, D.C., als Sohn eines amerikanischen Onkologen und einer österreichischen Onkologin, besuchte er das Oberlin College, studierte an der Columbia University und an der Universität Wien. Danach hielt er sich jahrelang mit Gelegenheitsjobs – er verdingte sich als Gärtner, Kellner und Plattenhändler – über Wasser, ehe er zu Beginn des neuen Jahrtausends gleich mit seinem Romandebüt den Durchbruch als Schriftsteller schaffte. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Brooklyn, New York, und Friesach (Kärnten), dem Geburtsort seiner Mutter und Wohnort seiner Großmutter. 2007 wurde John Wray vom angesehenen Literaturmagazin „Granta“ unter die zwanzig besten jungen US-Autoren gewählt und 2017 erhielt er beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb für einen Textauszug aus „Madrigal“ (einem 2021 veröffentlichten Band mit Erzählungen) den Deutschlandfunk-Preis. John Wray ist ein Grenzgänger zwischen den Sprachen, und ein Verwandlungskünstler zwischen den Genres und zwischen Realität und Fiktion.
Im Würgegriff kriegerischer Jahrzehnte
„Trotzdem werden bestimmte, ausgewählte Existenzen von Zeit zu Zeit scheitern, denn: kein Scheitern, keine Geschichte.“ In der Person Oskar Voxlauers vereinen sich die Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Protagonist in John Wrays Debütroman „Die rechte Hand des Schlafes“, Sohn eines psychisch kranken Komponisten und einer Opernsängerin, wird im Alter von 16 Jahren an die italienische Front eingezogen. Dort erfährt er vom Selbstmord seines Vaters, erlebt die fürchterlichen Gräuel auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges und erschießt auf Befehl einen Deserteur. Nach schrecklichen Monaten sinnlosen Gemetzels gelingt es ihm gegen Ende des Krieges selbst zu desertieren.
Seine Flucht führt ihn in den Osten, bis in die Ukraine. In der Sowjetunion findet er eine Frau und vermeintlich die Erfüllung seines Traumes von Gleichheit und Gerechtigkeit. Ein sehr kurzer Traum, der mit dem Wirken des Terrorregimes der Bolschewiki sein Ende findet und zum Albtraum wird. Und Oskar Voxlauer für viele Jahre als Zwangsarbeiter in einem Straflager verschwinden lässt. Am Ende seiner traumatisierenden Odyssee kehrt Oskar Voxlauer in seine Heimat zurück – vom Leben gezeichnet, vom Schicksal gebeutelt, mit leeren Händen und wenig Hoffnung. Sein Vater ist tot, seine Mutter alt und hilfsbedürftig und das einst schmucke Elternhaus verwahrlost. In Niessen bei Villach möchte er zurückgezogen leben und seinen inneren Frieden (wieder-)finden. Voxlauers Jugendfreund Pauli Ryslavy, jüdischer Gasthausbesitzer und freiheitsliebender Wohltäter, stellt ihm eine Hütte in den Bergen, inmitten von Wiesen- und Waldflächen und zahlreichen Fischteichen, als Rückzugsort zur Verfügung. Aber das Jahr 1938 mit den folgenden Entwicklungen macht ihm den angestrebten Rückzug fast unmöglich.
Der Anschluss Österreichs steht unmittelbar bevor und die Nazis sind schon da – sogar in der abgelegenen Kärntner Provinz. So bleibt Oskar Voxlauer auch hier, mehr getrieben als selbst gestaltend, weiterhin im Würgegriff der politischen Entwicklungen und kriegerischen Jahrzehnte. In Zeiten des politischen Umbruchs ist es einfach nicht möglich, sich aus allem herauszuhalten. Während die rechten Fanatiker und die Opportunisten mehr und mehr Oberwasser gewinnen, werden die Außenseiter und Aufrechten sehr schnell zu Opfern. Die aufgeheizte Stimmung am Vorabend des deutschen Einmarsches ist auf jeder Romanseite spürbar. Recht bald werden die Häuser mit Hakenkreuzfahnen geschmückt und Oskars jüdischer Freund Pauli Ryslavy wird in den Ruin getrieben. Oskar Voxlauer hingegen gerät zwischen alle Fronten und hat sich auch in der selbstgewählten Abgeschiedenheit den Tatsachen zu stellen. Seine Liebesbeziehung zu Else Bauer, der Cousine des lokalen SS-Obersturmführers, macht sein Leben noch komplizierter und der Tod seiner Mutter und die erfolgreiche Machtergreifung der Nazis treiben Oskar Voxlauer endgültig aus der selbst gewählten (inneren) Isolation.
Wie gekonnt und authentisch John Wray die Ereignisse und die Stimmung in diesem kleinen Ort in der Kärntner Provinz nachzeichnet, mit wie viel Empathie und Wertschätzung er die Beweggründe und Selbsttäuschungen der Menschen offenzulegen versucht und der Leserschaft über 382 Romanseiten Figuren nahebringt, die zu Leben erwachen und einen auch nach der Lektüre begleiten! Indem Wray offenlässt, ob seine Romanprotagonisten wissen, dass ihre Taten und ihr Tun gut oder böse, richtig oder falsch sind, bietet er der Leserin/dem Leser die Möglichkeit, selbst Position zu beziehen und eine Entscheidung zu treffen. John Wrays Debütroman ist ein schonungslos ehrliches sowie ein trauriges, aber kein hoffnungsloses Buch. Die Menschlichkeit der vom Leben Gezeichneten, die sich dennoch nicht brechen lassen, macht Mut: „Sollen die sich hier in ihrem Dreck breit machen. (…) Sollen sie sehen, wie sie zurechtkommen. (…) Sie wussten, dass der Krieg näher kam, aber es war ihnen gleichgültig.“
Wahnwelten
John Wray beschäftigt sich in seinen Romanen immer wieder mit Charakteren, die in jenem labilen Schwebezustand zwischen Jugend und Erwachsensein ihren Weg erst finden müssen – angetrieben von Euphorie, Neugierde, Sehnsüchten und verfolgt von Unsicherheit, Ängsten, Paranoia und hormonellem Irrwitz. Er selbst meint dazu: „Diese Phase, in der man eigentlich die eigene Identität zu gestalten anfängt, habe ich immer wahnsinnig spannend gefunden. Natürlich ist es auch eine extrem beklemmende und oft sehr traumatische Zeit. Als Rohmaterial für einen Roman könnte man sich kaum etwas Besseres wünschen.“
In seinem zweiten Roman „Retter der Welt“ (2009) beschreibt der amerikanisch-österreichische Autor eine Welt, in der die Realität von der wahnhaften Weltwahrnehmung des jugendlichen Romanhelden zersetzt wird. Will(iam) Heller oder Lowboy, wie er sich nennt, ist 16 Jahre alt, paranoid-schizophren und wird als gefährlich eingestuft. Er soll seine Freundin Emily vor die U-Bahn gestoßen haben. Aus der Jugendanstalt ausgebrochen, befindet er sich auf der Flucht durch die Tunnels und Katakomben der New Yorker U-Bahn. Verfolgt wird er von „Schädel“ und „Knochen“, zwei wenig zimperlichen Krankenpflegern, von den Cops vom NYPD, wie auch vom schwarzen Polizeidetektiv und Profiler Ali Lateef in Begleitung von Wills Mutter Yda, der Will den Kosenamen Violet gegeben hat. Will hat ein weiteres Problem. Er ist überzeugt davon, dass die Welt am 12. November, seinem Geburtstag durch Hitze zerstört werden wird und nur er sie vor dem Untergang bewahren kann: indem er (das erste Mal) mit einer Frau schläft.
Lowboy, der selbsternannte „Retter der Welt“, will den zerstörerischen Klimawandel stoppen, indem er geheime Botschaften befolgt, die schubweise sein Teenagergehirn fluten. Leitmotivisch zieht sich Will Hellers Frage „Warum bin ich auf der Welt?“ durch den gesamten Roman. Seine Antwort darauf, „um die Welt zu retten“, verweist auf Lowboys wahnhafte, paranoid-schizophrene Weltwahrnehmung, von der er durch den New Yorker Untergrund getrieben wird. Die gelungene und überaus virtuose Gegenüberstellung einer kranken (New Yorker Untergrund) und scheinbar gesunden (die Welt an der Oberfläche) Welt wie auch die gewagte Mischung aus Öko-Thriller, Entwicklungsroman und dystopischer Lovestory machen diesen Roman so unverwechselbar.
Atmosphärisch dicht und vibrierend-soghaft treibt John Wray die Geschichte mit Tempo voran und erzählt davon, wie Lowboy den ganzen Tag im U-Bahn-System verbringt, Fahrgäste verstört, sich vor den Sicherheitsleuten und seinen Verfolgern versteckt und einer Obdachlosen durch das weit verzweigte Tunnellabyrinth folgt. Trotz aller Spannung und den vielen Wendungen, die der Roman bereithält, sind es zwei zart gesponnene und unerfüllt bleibende Beziehungsgeschichten (die zwischen Will und Emily und die zwischen Wills Mutter Yda und dem Profiler Ali Lateef), die besonders nachhaltig wirken. Der fast verzweifelte Wunsch nach Nähe, Geborgenheit und Zärtlichkeit ist immer spürbar, seine Erfüllung bleibt den Romanprotagonisten aber letztlich verwehrt.
Zeitreisen
John Wray könnte man mit Fug und Recht als literarischen Verwandlungskünstler bezeichnen. Thematisch und stilistisch erweist er sich von Roman zu Roman mehr als Chamäleon und überrascht stets mit unerwarteten Erzählideen und deren sprachmächtiger und virtuoser literarischer Umsetzung. Sein dritter Roman „Das Geheimnis der verlorenen Zeit“ (2016) bildet dahingehend keine Ausnahme. „Liebe Mrs. Haven, um 08:47 Uhr EST bin ich heute Morgen aufgewacht und fand mich von der Zeit ausgeschlossen.“ So beginnt ein großer, turbulenter, aus- und abschweifender Roman, der vom Wien der Jahrhundertwende bis ins Manhattan der Gegenwart führt. Ein skurriler Parforceritt über 732 Seiten, eine verschlungene Familiengeschichte, die sich über vier Generationen und zwei Kontinente erstreckt.
Waldemar „Waldy“ Tolliver sitzt eingeschlossen in einer Zeitloch-Blase in einem geräumigen Apartment am Central Park in New York und versucht in Briefen an eine ominöse Mrs. Haven herauszufinden, wie er dort hingekommen ist, und was es eigentlich mit seiner Familie auf sich hat, die über Generationen hinweg nach dem Geheimnis der verlorenen Zeit, ja mehr noch, nach dem Geheimnis menschlicher Reisen durch die Zeit geforscht hat. Waldys Urgroßvater Ottokar Gottfriedens Toula, Gewürzgurkenfabrikant und Hobbyphysiker in Mähren, wurde im Jahre 1903 auf dem Weg zu seiner Geliebten, der Metzgersgattin Martha, von einem Daimler überfahren. Sein auf einem Zettel vermerktes Vermächtnis lautete: „Heute ist es passiert. Die verlorene Zeit. Habt Erbarmen mit uns allen.“ Jahrzehnte später erkennen Ottokars in Wien studierende Söhne Kaspar und Waldemar, dass ihr Vater ein Jahrhunderträtsel gelöst hat: „Es war eine Gewürzgurke, die den alten Schleimbeutel auf den Gedanken brachte, dass die Zeit krumm ist.“ Die Frage nach dem Wesen der Zeit treibt die Brüder Toula um, bis sie von den Erkenntnissen eines Mitarbeiters des Berner Patentamtes namens Einstein erfahren. Sie beenden ihre (Nach-)Forschungen. Kaspar heiratet Sonja Silbermann, die Tochter seines Physikprofessors, und zeugt mit ihr die Zwillinge Enzian und Gentian und emigriert in die USA.
Die Leidenschaft, das Geheimnis der Zeit zu ergründen, teilen auch Enzian und Gentian, die in ihrer opulenten Wohnung am Central Park legendäre Mittwochabend-Empfänge veranstalten (die illustre Gästeschar reicht von Charles Mingus über Aga Khan bis zu Joan Didion) und schließlich als Messies unter Tonnen von Tageszeitungen in ihrer vermüllten Wohnung ihr skurriles Ende finden. Orson Tolliver, Waldys Vater, ist Science-Fiction-Autor und Verfasser eines „Sternenpornos“, der zum Bestseller avanciert und als Inspirationsquelle für die „Kirche der Synchronologie“ dient.
Dieses Buch ist ein verspielter, aberwitzig-fantasievoller und hinterlistig-kluger literarischer Geniestreich, der reale und fiktive Personen unter einen Hut bringt, mit Witz und Verve Genres und Stilmittel mischt und Motive und Geschichten verwebt und der in einem kühnen literarischen Parforceritt durch Jahrhunderte, Kontinente und Gedankenspiele galoppiert. In seinem zugemüllten Palast der Erinnerungen in New York verfasst Waldy als jüngster Spross einer Sippe von gelehrten Narren also seinen mehr als 700 Seiten langen Brief. Dieser Brief ist der Roman, den wir lesen und er ist an seine Geliebte, die ominöse Mrs. Haven, gerichtet. Waldy will sie aus den Fängen ihres millionenschweren Mannes und Sektengründers Richard Haven befreien und für sich gewinnen, indem er ihr die Geschichte seiner Familie und der mit ihr verknüpften Rätsel und Geheimnisse erzählt. Trotz der sprunghaften Chronologie und der zahlreichen Erzählfäden kann man der Romanhandlung gut folgen. Das Geheimnis der verlorenen Zeit, von dem John Wray in seinem raffiniert-konstruierten und süffig-lesbaren Roman erzählt, ist unmittelbar verknüpft mit dem Verhängnis einer wahnhaft-eingebildeten Liebe. Wobei uns die Lektüre von Wrays Roman aber nachdrücklich lehrt, dass die vergangene und erinnerte Zeit der größte Illusionist von allen ist.
Nichts ist, wie es zu sein scheint
John Wray versteht es, in seinen Romanen immer wieder auf subtile Art vorzuführen, wie schmal der Grat zwischen Traum und Albtraum, Imagination und Realitätsverlust, Überzeugung und Fanatismus sein kann. Die Realität ist mit zahlreichen Falltüren ausgestattet und nichts ist, wie es zu sein scheint. In seinem Roman „Gotteskind“ (2019) erzählt er von einer jungen Frau, Aden Grace Sawyer, die in Berkeley in Wohlstand aufwächst, aber ihr Leben als sinnlos und leer empfindet. Ihr Vater ist ein lieblos wirkender Professor für Islamstudien an der Universität Berkeley und ihre Mutter eine verzweifelte Alkoholikerin im Endstadium. In Aden wächst die Sehnsucht nach Liebe und Leidenschaft so lange, bis sie sich im Alter von 18 Jahren ganz der Suche nach spiritueller Erfüllung und Erlösung zuwendet. Sie bricht zu einer Reise nach Pakistan auf und findet Platz in einer pakistanischen Koranschule. Diese allerdings ist von Dschihadisten unterwandert, die versuchen, Kämpfer für den Gotteskrieg zu rekrutieren.
John Wray schildert auf nachvollziehbare und gleichzeitig beklemmende Weise, wie aus Sinnsuche, Idealismus und aufrichtigem Glauben Schritt für Schritt, fast unmerklich, Radikalisierung, Fanatismus und Gewaltbereitschaft entstehen. Aden nennt sich nun Suleyman, beginnt ein Leben als Mann und schließt sich den Taliban an. Gehirnwäsche und Indoktrination machen sie zur Gotteskriegerin, die nicht nur in eine andere Identität schlüpft, sondern auch ihre Persönlichkeit aufgibt. Sie gerät in die Kriegswirren in Afghanistan, legt Minen, erschießt einen alten Mann und wohnt der Steinigung einer Frau bei.
Dem amerikanisch-österreichischen Autor gelingt es auf meisterhafte und zugleich fast verstörende Weise Adens Wunsch nach Unterwerfung unter den Glauben verständlich werden zu lassen. Seine Romanprotagonistin hat keine Geborgenheit in der Familie erfahren und sehnt sich auf krankhafte Weise nach gemeinschaftlicher Hingabe an eine Idee – an eine Idee, die die Welt besser machen soll. So wird aus einer jungen Frau, die Liebe, Geborgenheit, Halt und Leidenschaft sucht, eine verirrte Sinn- und Glückssucherin, die letztlich als Gotteskriegerin bei Fundamentalismus, Intoleranz, Radikalisierung und Gewaltbereitschaft landet.
Ängste, Sehnsüchte, Geheimnisse, unerklärliche Phänomene und rätselhafte Ereignisse bilden auch das Fundament für John Wrays erstem auf Deutsch verfassten Buch, den Erzählband „Madrigal“ (2021). Für die titelgebende Erzählung wurde Wray beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2017 mit dem Deutschlandfunk-Preis ausgezeichnet. Paranoia und toxische Männlichkeit stehen leitmotivisch im Zentrum der Erzählungen, die die subtilen Risse in der Oberfläche der Realität zeigen (nichts ist, wie es zu sein scheint) und so in faszinierend-düstere oder auch beängstigend-verstörende Welten führen. Die zwischen Traum und Albtraum, Imagination und Realitätsverlust, Faszination und Verstörung oszillierenden Geschichten können ihre Nähe zu Kafka, Poe, Calvino und Murakami kaum verleugnen. Wray erzählt von einem pädophil veranlagten Mann, von sturen Bauern und einem Zweikampf in den Bergen, dem Maler Michelangelo, einem Schriftsteller, dem die Handlungsfäden und die Geschichte von einer Stimme im Kopf und vom Figurenpersonal aus der Hand genommen werden, und von einem Baby im Gitterbett, das im Verlauf der Erzählung zum Amokläufer heranwächst.
Adoleszenzjahre auf der Flucht
zjahre auf der FluchtIn seinem aktuellen Roman „Unter Wölfen“ erweist sich John Wray einmal mehr als großartiger Erzähler, der in diesem Buch eine Coming-of-Age-Geschichte mit einer Road Novel und einem dunkel grundierten Thriller verknüpft und auf mitreißende Art und Weise über das Jungsein und Aufwachsen, musikalische Subkulturen und die verzweifelte Suche nach Identität und Liebe erzählt.
Die drei jugendlichen Protagonisten in diesem Roman kommen alle aus desolaten familiären Verhältnissen. Kip Norvald wohnt bei seiner Oma und leidet unter psychischen Problemen, Leslie Vogel ist schwarz und schwul und leidet unter homophoben Anfeindungen, Kira Caron haust im Trailerpark mit ihrem Vater und leidet unter dem Missbrauch durch ihren Vater. Was die drei Jugendlichen zusammenbringt und zusammenhält, sind zwei sehr unterschiedliche Dinge. Die Sehnsucht nach Liebe und die Begeisterung für eine neue, extreme, faszinierend-bedrohliche Musik: Death Metal, Trash Metal und Black Metal.
Deren archaisch-kathartische Kraft lässt die Jugendlichen für Momente vieles vergessen – Kips psychische Probleme, die Übergriffe von Kiras Vater und Leslies Leiden unter den homophoben Angriffen. „Dann traf ihn das Tempo mit voller Wucht, was sich anfühlte, als würde in einem Raumschiff eine Luftschleuse geöffnet. Kip wurde in sich selbst zurückgesaugt: Er spürte seine Umgebung wieder, spürte seinen Körper im Verhältnis zu anderen Körpern. Das grelle Neonlicht. Das Blut auf seinem Shirt. Überall ekstatische Kids, himmelhoch verzückt. Er rückte so nahe wie möglich an die Verstärker, ließ die Luft in seinen Lungen vom Woofer zum Vibrieren bringen.“
Man spürt bei diesen Sätzen förmlich, dass John Wray etwas von der Materie versteht und ihm diese musikalische Subkultur nicht fremd ist. Die Zukunftsaussichten für die drei Jugendlichen sind im erzkonservativen Florida nicht eben prickelnd. Venice wird hauptsächlich von Pensionisten, Drogenbanden, gewalttätigen Cops und homophoben Jugendgangs bevölkert und so verwundert es nicht, dass die Jugendlichen zu einer ernüchternden Erkenntnis gelangen: „Die Einsicht nämlich, dass nichts, aber auch rein gar nichts gut werden würde. Jetzt nicht. Später nicht. Nie.“ So steigen die drei Jugendlichen eines Tages in ein heruntergekommenes Auto (es ist nicht ganz zufällig nach Cthulhu, dem grausamen Urzeitmonster aus H.P. Lovecrafts Büchern benannt) und flüchten nach Kalifornien. Doch auch in Los Angeles, der Hauptstadt des Glamrock, der Clubszene und des Trash Metal, erwartet sie nur ein selbstzerstörerisches Leben mit Drogen, psychischen Belastungen, Gewalt und persönlichen Beschädigungen.
Im letzten Teil des Romans flüchten Kip, Kira und Leslie nach Norwegen, wo sich das Mekka des Black Metal befindet und die Coming-of-Age-Geschichte wird endgültig zu einem düsteren Thriller, der in die Welt von satanischen Sekten, Kirchenverbrennern und Mördern führt. Doch bei aller Brutalität, Gewalt und Düsternis gelingt John Wray mit seinem Roman „Unter Wölfen“ eine zutiefst einfühlsame, glaubwürdige und berührende Coming-of-Age-Geschichte, die mit ihren unverwechselbaren Hauptfiguren (mit ihren charmanten Eigenheiten und verstörenden Abgründen), ihrem rasanten Erzähltempo und ihren vielen Wendungen und mit den authentischen Einblicken in eine extreme Subkultur überzeugt und diesen Roman zu einer faszinierenden Lektüre machen. „Die Wahrheit zu sagen gehört zu dem wenigen, was mir wichtig ist. Die Dinge zu sehen, wie sie sind. Nicht so zu tun, als wären sie besser. Dafür ist Metal da, Metal ist wie ein Flammenwerfer, der allen Bullshit verbrennt.“
Foto: (C) Christopher Ho