Mikanowski, Jacob - Adieu, Osteuropa

Veröffentlicht am 17.08.2023
Kulturgeschichte einer verschwundenen Welt.
Das sogenannte Osteuropa, der osteuropäische Kulturraum insgesamt etwa von der Oder bis Sibirien, von der Krim bis zum Baltikum wird in diesem Buch zum ersten Mal wird ins Auge gefasst, ja gleichsam neu entdeckt. Obwohl es Osteuropa ja nicht mehr gibt, wie der Autor, der amerikanische Historiker, Kritiker und Publizist Jacob Mikanowski in seiner Kulturgeschichte gleich am Anfang feststellt.
Zumindest gibt es Osteuropa nicht mehr in seiner alten Form, als eine Region, die gerade durch das Nebeneinanderexistieren einer Vielfalt an Sprachen, Religionen und Ethnien verbunden war, so Mikanowski. Er entwirft ein Panorama einer reichen Welt, die dem Westen jedoch stets fremd war und zugleich überaus starke Impulse gab, in der Kunst und der Literatur etwa, im jüdischen Leben und in der Erfindung des Nationalismus. In der ersten Hälfte seines Buches beschäftigt er sich mit der Entwicklung des östlichen Europas seit dem Beginn der Neuzeit, in der sich der Kulturraum, so Mikanowski, mit einem „bunten Wandteppich“ vergleichen lässt.
Umfassend und durchaus souverän schildert Jacob Mikanowski die wechselhafte Geschichte von großen wie unbekannten Volksgruppen, Reichen, Religionen. Imperien wie Österreich-Ungarn oder Russland, auch der Islam werden in diesem Gesamtbild wie neu begreiflich. Und Entlegenes beschreibt er geradezu romanhaft spannend, beispielsweise die jüdische Kriegersekte der Karäer, nomadische Räuberdynastien oder Werwolf-Familien. Und er porträtiert faszinierende Figuren wie den „Guru“ Jakob Frank, der Goethe erstaunte, den türkischen Dandy und Reiseautor Evliyâ Çelebi, der ab 1630 halb Europa und Afrika erkundete, oder die kaiserliche Augenärztin Salomea Pilsztyn. In der deutlich politischeren zweiten Hälfte wird die Zeit bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion behandelt, in der die „mehrsprachige und multikonfessionelle Prägung“ immer weiter abnimmt.
Jacob Mikanowski lässt eine ganze große untergegangene Welt lebendig werden, die in ihrer Vielfalt an Sprachen, Ethnien, Künstlern, Spielern und Herrschern sehr modern war und erst im Kapitalismus des späten 20. Jahrhunderts verschwand. Das wunderbare Buch ist auch ein starkes Plädoyer dafür, die Vielfältigkeit dieses einzigartigen Kulturraumes wieder neu zu entdecken und zu bewahren. Kurz: Eine glänzend erzählte, große Kulturgeschichte.
Georg Pichler
Mikanowski, Jacob - Adieu, Osteuropa
Kulturgeschichte einer verschwundenen Welt. Berlin: Rowohlt 2023. 512 S. : zahlr. Ill. - fest geb. : € 35,00 (GK) ISBN 978-3-7371-0139-4