Pluhar, Erika - Gitti

Pluhar, Erika - Gitti

Veröffentlicht am 30.08.2023

Erika Pluhar hat ihrer geliebten älteren Schwester ein wunderbares Denkmal gesetzt.

Kinder im Krieg – das neueste Buch von Erika Pluhar hat ungewollt eine traurige Aktualität. Dabei schreibt sie sich doch nur die Erinnerungen an die Kindheit ihrer Schwester (und ein wenig auch der eigenen Kindheit) von der Seele. Die „große“ Schwester wird 1933 in Rio de Janeiro geboren, wo ihr Vater bei einer Ölfirma arbeitet. Die Mutter ist aber dort nicht glücklich und so wird das Kleinkind schon bald zum „Halt“ für die Mutter. Sie ziehen also wieder um, der Vater (ein überzeugter Nationalsozialist) will heim. Die Dreijährige landet im Vorkriegs-München. Für das Kind beginnt eine ruhige, friedliche Zeit.

1938 steigt der Vater in der neuen Regierung die Karriereleiter hinauf und die Familie zieht nach Wien um. In eine schöne Wohnung, wobei nicht hinterfragt wird, wem diese Wohnung noch vor kurzem gehörte. Ein Schwesterchen (Erika) wird geboren und die Fünfjährige ist eine „echte Hilfe“. So wächst die brave Gitti auf und umhegt mit der Mutter das Baby. Bis man dem Kind versucht, zu erklären, dass es einen großem Krieg gibt. Aber die Bedrohung ist noch nicht real, nur das Kind spürt die Veränderungen, ohne zu wissen, was sie bedeuten. Wieder zieht die Familie um, nach Lemberg in Polen. Der Vater wird Adjutant des Gouverneurs. Für die Mutter bedeutet das gesellschaftlichen Aufstieg, für Gitti den Verlust der Großeltern.

Aber das Drama holt die „heile“ Welt der Pluhars wieder ein. Spät, aber doch, erkennen die Eltern, dass der Weg in den Abgrund führen wird. Der Vater meldet sich freiwillig zum Frontdienst und Gitti muss mit ihrer Mutter und der kleinen Erika zurück nach Wien. Das hat den Vorteil, dass die schwangere Mutter mehr familiären Rückhalt hat. Gitti ist immer da, hilfsbereit und freundlich. Ein Segen für ihre zwei kleinen Geschwister. Die Mutter wird dann mit den drei Kindern evakuiert und landet in Oberösterreich. Das Leben wird immer beschwerlicher, besonders mit einem Säugling. Aber mit dem Mut der Verzweifelten meistert die Mutter (und die vernünftige 12-jährige Gitti) auch diese Zeit der Entbehrungen. Und wieder eine dramatische, verstörende Reise in einem Viehwaggon, denn der Frieden treibt die Mutter in das zerbombte Wien zurück. In Wien herrscht Wohnungsnot und Hunger, eine Besatzung, man muss sich anpassen. Man wohnt beengt und notdürftig, wie soviele andere Menschen auch. Und Gitti ist da ...

Aber sie muss schon wieder umziehen. Aus Platzmangel und weil es „vernünftig“ ist, findet sie Unterschlupf bei der Oma und ihrer Cousine Lisi. Langsam wird ihr klar, dass dies keine vorübergehende Lösung ist. Und sie findet sich damit ab. Weinen kann sie nur heimlich. Der Vater hat Glück, sein Frontdienst hilft bei der Entnazifizierung und er findet Arbeit. Man zieht wieder um, aber diesmal wird Brigitte schon gar nicht mehr als Mitbewohnerin fix eingeplant. Sie wird nicht mehr wirklich gebraucht.

Ihr Leben bekommt eine neue Richtung – sie darf in die bekannte Lehranstalt Michelbeuern gehen und dort „etwas mit Mode machen“. Dieser Wunsch erfüllt sich nun bald anders als geplant. Ein Lehrer, Roland Pleterski, verliebt sich in das hübsche „Kind“ und macht seinen Heiratsantrag letztendlich wahr. Und so heiratet die 16-jährige Brigitte in einem traumhaften Kleid von Adlmüller, wo ihr Mann jetzt arbeitet! Langsam wird aus dem jungen, eher unscheinbaren und zu früh erwachsenen Kind eine selbstbewusste Frau. Dank ihres Mannes, der sie gekonnt in Szene setzt und sich zu einem begnadeten Fotografen entwickelt. Wieder ein Umzug, sie gehen beide nach New York und behaupten sich in einer aufstrebenden, aufregenden Modewelt. Ein Foto von Gitti 1958 zeigt eine wunderschöne, selbstsichere, aufregende Frau. Leider endet damit diese berührende Lebensgeschichte, die die „kleine Schwester“ Erika Pluhar so einfühlsam aufgeschrieben hat. Man möchte doch noch viel mehr von dieser Frau Brigitte Pleterski, später King, wissen! Aber die Autorin schreibt: „Wie aber das Frauenleben meiner Schwester weiterhin verlief, entzieht sich der Möglichkeit meiner – bei aller Fiktion – wahrhaften Nacherzählung.“

Erika Pluhar hat ihrer geliebten Schwester, die, wie sie schreibt, „dabei ist, in das Vergessen ihres Lebens zu gleiten“, ein wunderbares Denkmal gesetzt. Und dazu auch den vielen Millionen von Frauen, die im Elend jedes Krieges mit ihren Kindern um das Überleben kämpfen. Ein großartiger, berührender Roman.
Renate Oppolzer

Pluhar, Erika - Gitti
Roman. Salzburg: Residenz 2023. 220 S. - fest geb. : € 25,00 (DR) ISBN 978-3-7017-1779-8

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