Reinhard Kaiser-Mühlecker - Ewige und nicht überwindbare Entfremdungen

Reinhard Kaiser-Mühlecker - Ewige und nicht überwindbare Entfremdungen

Veröffentlicht am 14.03.2023

Simon Berger über seine einzigartige Romanwelt

„Ich sehe es wirklich als eine Art Verpflichtung an, die Welt, die ich kenne, darzustellen, also erfahrbar zu machen - einem, der sie nicht kennt.“, so Reinhard Kaiser-Mühlecker in einem Interview. Und tatsächlich schildert er seit seinem Debüt „Der lange Gang über die Stationen“ in all seinen bislang erschienenen Romanen und Erzählungen diese Landschaft, in die er geboren wurde, er mischt Historisches mit gegenwärtigen Gegebenheiten, möchte die Lebenswirklichkeiten so beschrieben haben, dass alles genauso wirklich hätte sein können.

In Hallwang, einem Ortsteil von Eberstalzell, steht der Hof der Eltern Reinhard Kaiser-Mühleckers. Sechzehn Hektar hat die kleine Landwirtschaft, früher hat man auch noch von Schafzucht gelebt, jetzt sind nur noch die Schweine geblieben, und schon als Kind war der Schriftsteller der Jungbauer am Hof. Morgens in den Stall und später auf die Felder. Das ist er auch heute wieder. Geboren am 10. Dezember 1982 in Kirchdorf an der Krems wuchs Reinhard Kaiser-Mühlecker im Ortsteil Hallwang in Eberstalzell in Oberösterreich auf. Von 2003 bis 2007 studierte er unter anderem Landwirtschaft, Geschichte und Internationale Entwicklung in Wien. Als 2008 sein erstes Buch erscheint, sind die Eltern erstaunt. Sie wussten gar nicht, dass er neben seinem Studium der Landwirtschaft auch schreibt.

Auf den ersten Blick wirkt das Debüt „Der lange Gang über die Stationen“ wie ein Abkömmling der typischen Anti-Heimatliteratur, in denen sich in der Nachkriegszeit als postfaschistoider Feudalismus ein Großbauer mit Billigung der Kirche als tyrannischer Gutsherren aufspielt und der Führer immer noch in den Köpfen herumspukt. Es ist auch riskant, einen Roman über einen jungen Bergbauern in der österreichischen Provinz der 50er Jahre zu schreiben, denn schnell gerät man da unter ideologischen Verdacht: entweder ist man ein ewiggestriger Heimat-Fanatiker oder ein überzeugter Heimat-Hasser.

Erzählt wird vom jungen Theodor, der als einziges Kind gebrechlicher Eltern einen wenig profitablen Bauernhof in den oberösterreichischen Alpen bewirtschaften muss. Sein Vater liegt seit langem sterbenskrank im Bett, die Mutter ist depressiv. Der Hof-Nachbar Franz erhängt sich aus Einsamkeit mit einem Kälberstrick. Und der Dorfpfarrer weigert sich, den Selbstmörder zu bestatten. Kein Wunder, dass der junge Bergbauer aus diesem von Enge und Verzicht geprägten Alltag zu entfliehen versucht. Theodor verliebt sich in eine junge Frau aus der Stadt und drängt sie, ihn schnellstmöglich zu heiraten, um auf seinem abgelegenen Hof nicht mehr ganz so alleine zu sein. Man ahnt früh, dass die anfänglichen Wunschträume des jungen Bergbauern Theodor enttäuscht werden müssen. Und dass seine Ehe mit der Frau aus der Stadt, die den ganzen Roman lang namenlos bleibt, in der engstirnigen Dorfgemeinde kein gutes Ende nehmen wird.

Der Roman ist eine Chronik einer allmählichen Entfremdung zweier Ehepartner, die nicht aufzuhalten ist, weil sie auf einem nie ausgeräumten, gegenseitigen Missverständnis beruht. Nicht nur Theodor vertut sich von Anfang an, auch seine Frau verkennt ihn völlig, als sie dem Bauernsohn zum ersten Mal in Linz zufällig auf der Straße begegnet. Er fällt der jungen Frau damals auf, weil er spontan für einen Fremden bei einem Streit Partei ergreift. Sie, eine überzeugte Sozialistin, beobachtet die Szene – und missdeutet sein Engagement als politisches Statement. Hinterher spricht sie ihn an, weil sie ausgerechnet in ihm einen linksutopistischen Seelenverwandten vermutet. In der Ehe gewinnt der notwendige Prozess einer Desillusionierung schließlich große Sprengkraft, da beiden Partnern die gemeinsame Sprache fehlt, um sich wirklich verständigen zu können. Auf die Enttäuschung folgt deswegen auch der beiderseitige Rückzug, auf den Rückzug dann die Heimlichtuerei, und auf die Heimlichtuerei schließlich der Verrat.

Theodors landwirtschaftlicher Alltag ist in dem Roman lebensecht beschrieben, ohne seinen altmodischen Helden aber zum hinterwäldlerischen Deppen herabzuwürdigen – oder ihn umgekehrt zum Vorreiter eines nostalgischen „Früher-war-alles-besser!“ zu verklären. Mit seiner poetisch-gefühlvollen, verlangsamten Art zu erzählen, gelingt es Kaiser-Mühlecker, mit seinem Bericht tatsächlich ein verpöntes Genre quasi zu rehabilitieren, indem er das einfache Bauernleben weder romantisch überhöht noch ideologisch abwertet.

Im zweiten Roman „Magdalenaberg“ (2009) erzählt er die Geschichte von Joseph, einem jungen Mann, der nach dem Tod seines Bruders Wilhelm ganz neu über sein Leben, seine Vergangenheit und sich selbst nachdenken muss. Eigentlich sitzt er an seiner Abschlussarbeit, doch nun muss er sich ganz anderen Lebensfragen stellen. Der wortkarge Bauernsohn ist Anfang dreißig, raus gekommen aus der Enge Pettenbachs, hat studiert. Doch nun zerbröseln Gegenwart und Zukunft, hat Katharina ihn verlassen, weil er nicht über sich spricht, weil ihm das Fundament fehlt. Der plötzliche Tod seines Bruders Wilhelm hat ihm das bewusst gemacht. Ursprünglich wollten beide Brüder weg von zu Hause, doch Joseph hat sich mit dem Gedanken gequält.

Fern von allen möglichen Aktualitäten des modernen Stadtlebens lässt uns der Erzähler an Josephs knirschenden, teils schemenhaften, manchmal auch komischen Gedankengängen, an dem ganz unspektakulären Versuch einer Selbstvergewisserung teilhaben, der gerade wegen seiner Entrücktheit ohne Umwege an einen Kern der menschlichen Existenz rührt. Wie funktioniert Erinnerung? Wie funktioniert Verdrängung? Welche Rollen spielen der spät erst angedeutete Verrat am Bruder, am besten Freund? Welche das Sprechen, die Sprachlosigkeit, das Schweigen? Woran kann er sich halten? Der Roman zeigt ein Puzzle im Kopf dieses Joseph, das noch kein fertiges Bild ergibt, das aber seinen Willen zur Veränderung umso kraftvoller erahnen lässt: „Es ist bestimmt so, dass etwas in seinem Denken sich verändert. Er beschließt ja, dass er dieser Frau Katharina einen Brief schreibt, zum Beispiel. Er beschließt ab sofort, dass er nichts mehr verlieren möchte, er will nicht, dass etwas verschwindet, oder nicht noch mehr verschwindet, wo ja ständig alles verschwindet.“

Nach der Veröffentlichung des Buches kommt es beinahe zum Dorf-Eklat. Ob denn nicht Ruhe sein könne mit den alten Geschichten, warum die Sache mit dem polnischen Zwangsarbeiter noch einmal aufgekocht werden müsse? Die Romanhandlung war erfunden, aber dass sie recht hat, war im Nachhinein klar. Es gibt in den Dörfern archaische Bilder, die an den Wirtshaustischen überlebt haben, und es gibt auch die dunklen Stellen in der eigenen Familiengeschichte. Kaiser-Mühleckers Urgroßvater mütterlicherseits war NS-Ortsgruppenführer und musste aus nicht weiter bekannten Gründen sein Heimatdorf verlassen. „Es hieß in der Familie immer: Es ist dort oben nicht mehr gegangen“, sagt Kaiser-Mühlecker in einem Gespräch, und dass der Vorfahr auch im neuen Dorf schnell wieder NS-Ortsgruppenführer war.

In „Wiedersehen in Fiumicino“ schickt Reinhard Kaiser-Mühlecker seinen Helden nach Buenos Aires und schildert die Suche nach einem angemessenen Ort in der Welt als Generationsproblem. Neben Joseph lässt er drei weitere Ich-Erzähler im Alter um die dreißig auftreten, die alle zuweilen von existentieller Müdigkeit befallen werden. Da ist Augusto, Sohn eines Grundbesitzers aus dem Norden Argentiniens, der Wälder roden lässt, um im großen Stil genmanipuliertes Soja anzubauen. Augusto hat sich von seinem cholerischen Vater und seinen eigenen Privilegien distanziert und steht zu seinem mühseligen Leben als Arzt in der Großstadt, in der er sich aber oft „stumpf und leer“ fühlt. Er interessiert sich für Joseph, auf einer Reise in den Norden entdecken sie die Ähnlichkeit ihrer Geschicke, aber zu der von Augusto erhofften Freundschaft kommt es nicht. Auch Savina, bei der Joseph zur Untermiete wohnt, hat unter seiner Unnahbarkeit, seiner scheinbaren Unabhängigkeit und unablässigen Arbeitswut zu leiden. Sie hat ihre Fortbildung als Musikerin im Zweifel am eigenen Talent aufgegeben und schlägt sich als Kellnerin durch. Sie hält an ihrer Liebe zu ihm fest, er aber wird sie bald mit der gleichen Unbarmherzigkeit verlassen wie seine Freundin in Wien.

Der Einzige, der in Argentinien einen Einklang mit der Welt gefunden zu haben scheint, ist Hans, Juan genannt, auch er ein Bauernsohn aus Österreich. Zwar hat er nur einen schlechtbezahlten Job als Museumswärter gefunden, aber der gefällt ihm. Noch mehr gefällt ihm Cecilia, die er heiraten will. Der Erfolg seines Buches über einen vor den Nationalsozialisten geflohenen jüdischen Emigranten bildet seine warmherzige Fähigkeit zur Empathie ab. So kann er verschmerzen, dass Joseph auch ihm die Freundschaft verweigert. Dass der ausgerechnet in der Einöde bei Rohr in Niederösterreich, dem Dorf, aus dem Hans stammt, ein Haus kauft, findet er abwegig, „als wäre sein Leben schon vorbei“.

An Joseph aber werden sein Solipsismus und sein Mangel an Verständnis immer deutlicher. Nach seiner Rückkehr zieht er nach Rohr in die Unwirklichkeit, um sich wegzusperren, „um nicht mehr zu verletzen, nicht mehr zu enttäuschen“. Dabei entdeckt sich der Umweltaktivist unversehens als Schriftsteller und die Literatur als Medium der Empathie. „Ich war verwundert, dass ich im Aufschreiben scheinbar doch imstande war, andere Menschen in ihren Gedanken und Handlungen nachzuvollziehen. Doch letztlich zeigt sich hier Literatur nicht nur als Medium der Verständigung, sondern auch der schmerzhaft empfundenen Isolierung des prekären Individuums.

Der umfangreiche Roman „Roter Flieder“ (2012) beginnt mit einer Vertreibung. Vater und Tochter verschnüren notdürftig einen Teil ihres Hab und Guts auf einem Pferdewagen, verlassen den angestammten Ort, einen Hof im Innviertel, ziehen im Schutz der Nacht davon und nehmen das Vergangene, die Erinnerungen an die tote Frau und Mutter gleichsam als schweres Gepäck mit sich. Was dann beginnt, ist die leise Tragödie einer Familie, die sich über mehrere Generationen erstreckt, etwa von Paul Goldberger, der es in Bolivien versucht und dort auf rätselhafte Weise zu Tode kommt. Es ist eine epische Erzählung von Schuld und Sühne, von Aberglaube und Duldsamkeit – und vom Rhythmus der Zeit.

Der Auftakt ist das Bild des Wagens, der dem Ungewissen entgegenfährt, auf dem der alte Goldberger und seine Tochter Martha wegziehen oder besser flüchten in eine andere Gegend rund um den schon aus einem früheren Buch von Reinhard Kaiser-Mühlecker bekannten Magdalenaberg. Es ist eine Voralpenlandschaft, agrarisch geprägt, kleinteilig. Diese Umgebung spielt eine Hauptrolle in dem Roman. Immer wieder entwirft Kaiser-Mühlecker weniger Landschaftsbilder als vielmehr Landschaftsstimmungen. Er lässt wie nebenbei die Jahreszeiten zwischen den Absätzen und Kapiteln wechseln, die Natur ihre Farben und die Welt, ohne dass man es zunächst gleich merkt, ihre angestammte Ordnung. Hier in dieser Region kommen seine Figuren an und müssen, vertrieben und ihres Erbes beraubt, neu beginnen.

Zum ersten Mal lässt er hier auch keinen Ich-Erzähler sprechen, sondern hat eine Vogelperspektive eingenommen: Der Roman wird dadurch epischer, die Wahrnehmung sehr viel umfassender, die einzelnen Figuren in ihren Verletzungen und ihrem Fühlen greifbarer. Der Blick, so könnte man sagen, erfasst mehrere Dimensionen, verändert sich und kann die Richtung wechseln. Mit „Schwarzer Flieder“ (2014) beschließt Reinhard Kaiser-Mühlecker seine Saga der Familie Goldberger („Magdalenaberg“ und „Roter Flieder“ waren die beiden ersten Bände). Die drei Bücher der Goldberger-Saga beschreiben auf verschlungenen Wegen die Geschichte der Familie Goldberger bis ins 21. Jahrhundert hinein. Aufstieg und Zerfall einer Landwirtschaft, Selbstherrlichkeit und Gewalt spielen da eine große Rolle, und der Widerstand, die Würde und der Fatalismus.

Hier nun wird von der Vertreibung aus dem Paradies erzählt, von einem Fluch, der auf dieser Bauersfamilie liegt, von Verwerfungen und Sprachlosigkeit, Schuld und blindem Ehrgeiz. Anfang der 1940er Jahre setzt die Erzählung ein und kommt nun mit der siebten Generation in der Gegenwart an ihr Ende. Ferdinand ist der uneheliche Sohn des einst nach Bolivien geflüchteten Paul. Erst nach dessen Tod, da ist Ferdinand 16, erfahren die verbliebenen Goldbergers, was es mit ihm auf sich hat. Aber auch Ferdinand hält es nicht lange auf dem Hof seines Onkels aus, geht nach Wien, findet Arbeit im Landwirtschaftsministerium, findet seine große Liebe Susanne wieder und verliert sie von Neuem. Schließlich macht er sich auf nach Südamerika und kehrt erst zurück, als der Hof seiner Familie zu zerfallen droht. Was dann geschieht, schildert der ansonsten extrem ruhige Erzähler schier wütend: In einem gerechten Furor räumt der verschlossene Ferdinand mit Familienlügen und überkommenen Traditionen auf. Er vollendet den Fluch, der auf den Goldbergers lastet. Er verkauft all das, was über Jahrzehnte dem Hof zugeschlagen wurde, bis nur noch ein kleiner Flecken übrig bleibt – jener, mit dem einst alles begann. Kaiser-Mühlecker erzählt das mit poetischer Kraft. Selbst in den dramatischsten Szenen vertraut er noch einer den Einzelheiten nachspürenden Sprache als ein Beobachter des Scheiterns und ein Bewahrer von Gesten, Sprache und Sehnsüchten.

Jede der drei Geschichten in dem Band „Zeichnungen“ (2015) umfasst rund 100 Seiten, alle spielen rund um das schon aus den Romanen bekannte Dorf Rosental. Das bäuerliche und kleinstädtische Milieu ist die Grundierung des Erzählens, aber eben nicht als Idylle, sondern als Ort der Unbehaustheit, der Kälte und auch der abgefeimten Intrigen. Alle drei Erzählungen sind aus der männlichen Ich-Perspektive geschrieben; alle drei Protagonisten sind Einzelgänger, Außenseiter – Männer, die schicksalhaft an eine Herkunft gebunden sind, unter der sie leiden, aus der sie sich befreien wollen und in die sie dennoch verstrickt bleiben.

Die erste Erzählung, überschrieben „Spuren“, berichtet von einem jungen Mann, der auf dem Land als Finanzberater scheitert, der von seiner Frau verlassen wird und sich vollständig aus der Gesellschaft zurückzieht. Ihm bleibt nur die Natur, ein See und ein gegenüberliegendes Haus am See. Dort sitzt ein Mann in einem Liegestuhl auf der Terrasse, scheinbar reglos, ausgeliefert der heimlichen Beobachtung durch die Ich-Figur, die mit Hilfe eines Fernglas dem Fremden zu Leibe rückt – warum, das bleibt offen. Verstörend ist die zweite Erzählung „Male“. Ein alter Bauer liegt sterbend im Bett, der Ich-Erzähler, der den Alten als Kind gefürchtet und gehasst hat, soll sich seine Geschichte und Lebensbeichte anhören. Alle sind irgendwie verflucht, böse, hinterhältig; die Alten sind wie die Jungen eine verlorene Generation. Zu viele Fäden hängen in der Luft, bedeutungsschwangere Anspielungen häufen sich und bleiben nebulös.

Auch die letzte Erzählung „Zeichnungen“ ist eine Lebensbeichte, in einem Brief an einen Fremden mitgeteilt. Die Ich-Figur erfährt als Jugendlicher durch den Dorfklatsch, dass sein Vater gar nicht sein wirklicher Vater sei. Der Junge befragt seinen Vater, der schweigt, also stimmt das Gerücht, und der Jugendliche verlässt am nächsten Tag den großen Hof, den er eigentlich erben sollte. Er wollte kein Leben in Schande. Da er aus begütertem Hause stammt, hat der junge Mann für ein Jahr genug Geld zum Existieren. Der Begriff „Zeichnung“ meint so etwas wie einen Lebensplan. Die alte Zeichnung als Erbe des Hofes ist für den jungen Steinau, so sein Name, hinfällig geworden. Das Geld zerrinnt ihm schneller zwischen den Händen als vorgesehen, nach einem halben Jahr ist er bankrott. Er muss sein Leben neu gestalten und Arbeit finden. Auf Umwegen gerät er an den allseits geachteten Unternehmer M., wird schließlich seine rechte Hand, heiratet die verschmähte Tochter des Unternehmers, bootet seinen Rivalen in der Firma aus, wird selbst der Nachfolger des alten Firmenchefs. Alles scheint stimmig zu sein, Steinau ist ein Erfolgsmensch geworden – so wie ihm früher alles zuzustehen schien, so hat er sich nun Ansehen und Karriere erobert. Aber nichts stimmt in diesem Leben. So wie Steinau die Menschen rücksichtslos zu seinem Vorteil benutzt, so wird auch er zum Handlanger dunkler Geschäfte degradiert. Der alte M. hat ihn durchschaut, seine Frau hat ihn durchschaut, er lädt einen Mord auf sich, um seine skrupellosen Pläne zu verwirklichen. Die Erzählung liest sich wie ein packender Krimi.

Die Geschichte der beiden ungleichen Brüder Alexander und Jakob, Bauernsöhne, die in „Fremde Seele, dunkler Wald“ (2016) erzählt wird, hätte sich auch anders entwickeln können, wenn nicht die Umstände gewesen wären: „Daran zeigt sich der Charakter“, ist der Großvater überzeugt, „ob die Umstände einen verändern oder nicht.“ Der leutselige Alexander kehrt dem Dorf den Rücken. Er wird Zögling des Stiftgymnasiums, doch seine Priesterkarriere scheitert an einem amourösen Zwischenfall, den er als Erwachsener, inzwischen unter den Schutzschirm des militärischen Korpsgeists geschlüpft, wieder erinnert. Seine Zeit schlägt er bei Auslandseinsätzen tot, während der gerade 17-jährige wortkarge Jakob, Bauer aus Leidenschaft, den elterlichen Hof am Laufen hält. Um den allerdings steht es schlecht, weil der Vater Acker für Acker verkauft, um seine fantastischen „Investments“ zu realisieren. Geld aus dunklen Quellen besitzt nur der Großvater.

Als Alexander auf den Hof zurückkommt, hat Jakob mit Nina angebandelt. Er liebt sie nicht, dennoch stolpert er in eine Ehe und wird Vater. Aber „nichts reichte an ihn heran, als hätte nichts mehr etwas mit ihm zu tun“. Aus der Nicht-Liebe wird harsche Abneigung, selbst das Kind lehnt er ab. Jakob fühlt sich mehr und mehr „umstellt“. Der bindungsscheue Alexander seinerseits wechselt ins Verteidigungsministerium in Wien. Erst der Verlust seiner Affäre Lilo, der Frau seines Vorgesetzten, macht ihn zu einem ewig wartenden, stillen und scheuen Mann. Die Ehe von Jakob indessen zerbricht, als ein Jugendfreund Selbstmord begeht. Aber auch der Tod des Großvaters bringt ihm keine Erlösung, denn die Großmutter vermacht das Geld am Ende lieber der „rechten Partei“, sodass es wieder dorthin geht, wo es hergekommen ist, wie der Vater konstatiert: „das einzig Richtige“.

Kaiser-Mühlecker umkreist wie in seinen früheren Romanen die Schuldzusammenhänge in dieser unentrinnbar engen dörflichen Gemeinschaft. Die „Bewegung nach vorne“, die Alexander mit seinem Ausbruch anstrebte, fällt zusammen „wie ein Kartenhaus“. Und auch für Jakob scheint es keine Lösung zu geben. Sein dahintreibendes Leben ist wie der Sommer „allzu kühl und wie nicht recht gewesen“.

In „Enteignung“ (2019) kehrt nach Jahren auf Reisen Jan, ein Journalist, in den Ort seiner Kindheit zurück, an dem er nie heimisch war. Er schreibt für das kriselnde Lokalblatt, er beginnt eine Affäre und arbeitet auf dem Hof eines Mastbauern, dessen Land enteignet wurde. Ines und Jan, Flor und Hemma, die Arbeit auf dem Hof von früh bis spät, die kleinen und großen Heimlichkeiten, der Selbstbetrug, die Illusion von einem Leben und Überleben im ländlichen Raum, der nur noch als Kulisse zu funktionieren scheint – all das verdichtet sich zu einem apokalyptisch aufgeladenen Szenario. Es scheint nichts zu passieren, und doch ist das Buch spannend, spielen sich ungeheure Geschehnisse ab, angetrieben auch von einem Mann namens Beham, der vermeintlich im Interesse der Gemeinde die Expansionsbemühungen Flors zu hintertreiben versucht. Rätselhaft und faszinierend wird Jan in die Kämpfe um ihr Leben, das ihnen weggenommen wird, hineingezogen. Es ist ein existenzieller und aufwühlender Roman darüber, wie diese Welt im Umbruch die Gefühle und Beziehungen verändert.

In „Wilderer“ (2022) möchte die Künstlerin Katja als Praktikantin auf dem Hof arbeiten, den Jakob seit seinem 15. Lebensjahr bewirtschaftet. Inzwischen ist er Mitte zwanzig, etwas jünger als Katja, und er ist es gewohnt, in jeder Hinsicht ohne Hilfe auszukommen. Was soll die Künstlerin bei ihm? „Du bist also Landwirt? Das stelle ich mir aufregend vor“, hatte sie Jakob zuvor geschrieben, der sich schwertat, an seinem Alltag irgendetwas aufregend zu finden. Dass es ihr ernst ist mit der Arbeit auf dem Hof in Oberösterreich, dass sie rasch lernt und gern mit anpackt, stellt sich schnell heraus. Aus der einen Woche werden zwei, schließlich bleibt sie ganz da, die beiden heiraten, ein Sohn wird geboren.

Zu welcher Familie sie da stößt, ist ihr in diesem Moment wahrscheinlich noch nicht klar. Der junge Bauer jedenfalls erweist sich, je weiter der Roman fortschreitet, als äußerst zuverlässig bei der Arbeit und als sehr fragwürdige Quelle, um die Vergangenheit und die Gegenwart der Familie darzustellen. Auf seinen Vater ist nicht zu zählen, er hat den Hof, glaubt Jakob, mit wüsten Ideen runtergebracht und trägt die Schuld daran, dass Acker um Acker aus dem Familienbesitz an die Nachbarn verkauft werden musste. Dabei ist die Familie eigentlich reich, die Rede ist von „Judengeld“, von Vermögen, das die Familie in der Zeit des Nationalsozialismus an sich gerafft hat und über das einzig Jakobs verwitwete Großmutter verfügt – sie hat erklärt, es einer rechtsradikalen Partei vererben zu wollen.

Trotz der Erfolge mit Hilfe Katjas bleibt Jakob innerlich ein Getriebener. Den neuen Hund Alex, den er abgerichtet hat, muss er, weil der Vater es will, seinem Bruder Alexander geben. Diese scheinbar belanglose Szene bekommt am Ende des Romans Brisanz. Da Alexanders Frau allergisch auf Hundehaare reagiert, kommt das Tier zurück auf den Hof. Aber die Abrichtung misslingt; Alex ist ein „Wilderer“ und es scheint ein unausgesprochenes Gesetz zu sein, dass derart unzuverlässige Tiere grausam töten muss. Luisa beschimpft Jakob als „Versager“. „Das alte Leben musste beendet werden, und das hier war das Letzte, was noch zu tun war“ – so wird eine Szene eingeleitet, die den Leser noch lange nach der Lektüre verstören wird. Jakob glaubt danach: „Es war vorbei damit. Mit all dem. Nie mehr.“ Eine Prophezeiung, die sich anders als er denkt erfüllen wird. Irgendwie wird Luisa von Jakobs Handlung ein Handyvideo aufnehmen. Und alles wird sich ändern. Jakob wird plötzlich wie ein wildes Tier betrachtet und er „fiel und fiel und fiel. Er stand still, aber er fiel immer tiefer in einen schwarzen lichtlosen Trichter.“ Kurz schwankt Jakob und man befürchtet Schlimmes, aber im letzten Moment rettet ihn ein unverhofft gefundenes Plüschtier seines Sohnes.

Reinhard Kaiser-Mühlecker schreibt keine „Bauernromane“ und weder „Heimatroman“ noch das Gegenteil, der „Anti-Heimatroman“, sind zutreffende Genrebezeichnungen. Es gibt weder falsche, restaurative Idyllen noch Empörungsreden oder Moralpredigten. Kaiser-Mühlecker hatte mit seiner Goldberger-Saga begonnen eine ganz eigene Form zu kreieren, die er mit dem zweiten Jakob-Fischer-Roman fortführt. Es sind (so Lothar Struck) Unversöhnlichkeitsromane; flirrende und schonungslose, aber gleichzeitig verblüffend lakonisch daherkommende Darstellungen der ewigen und nicht überwindbaren Entfremdungen zwischen Stadt und Land, Digitalismus und Agrargesellschaft, Hedonismus und Abhängigkeit von der Natur.

Foto: (C) Jürgen Bauer