„Akzente“ und die Edition Akzente - Bücher für Minderheiten also

„Akzente“ und die Edition Akzente - Bücher für Minderheiten also

Veröffentlicht am 03.04.2022

Peter Klein über die Literaturzeitschrift „Akzente“ und die Edition Akzente

Die „Akzente“ waren die führende Literaturzeitschrift der Bundesrepublik Deutschland seit den 50er Jahren, dort wurde die internationale Moderne veröffentlicht, die Avantgarde und die vielen Neuentdeckungen.

Ingeborg Bachmann, Hans Magnus Enzensberger, Thomas Mann, Elias Canetti, Paul Celan und Nelly Sachs: das waren die ersten Autoren, die in der 1953 gegründeten „Akzente“ ihre literarischen Werke veröffentlichten. Walter Höllerer und Hans Bender hatten ein untrügliches Gespür für Literatur, Lyrik, Dichtung und Poesie und so wurde die Zeitschrift zu einer Institution, die von ihren Herausgebern mit Leidenschaft, Kompetenz und mit Instinkt kompiliert wurde. Von 1976 bis 2014 war Michael Krüger Herausgeber, seit 2015 nun widmet sich jedes Heft einem Thema, mit wechselnden Herausgebern.

Die Bedeutung, die die „Akzente“ in den 60er und 70er Jahren gehabt haben, kann gar nicht überschätzt werden, so wurden sie schon mal als das „Zentralorgan des Museums der modernen Poesie“ beschrieben oder als „umfangreichste Anthologie der internationalen Poesie in Deutschland“.

Ihre literaturhistorische Relevanz zeigt bereits eine kursorische Durchsicht der über 300 bisher erschienenen Hefte: „Die Akzente“, im Untertitel zunächst als „Zeitschrift für Dichtung“, später als „Zeitschrift für Literatur“ bezeichnet, verstanden sich selbst als Zeitschrift ohne Programm und als Plattform für die Förderung junger Autoren. Hans Magnus Enzensberger etwa debütierte in den „Akzenten“, Günter Grass publizierte dort als junger Autor und wurde in der Folge wesentlich von Walter Höllerer gefördert, Ingeborg Bachmann war seit der Gründung der Zeitschrift Autorin. Undogmatisch und reichhaltig, ist die Literaturzeitschrift zu einem Kreuzungspunkt der Literaturproduktion und der Literaturvermittlung gerade in der Adenauerzeit geworden: Das Spektrum der „Akzente“-Autoren ist weit und reicht von den Vertretern einer „inneren Emigration“ über die Exilanten und die Mitglieder der Gruppe 47 bis hin zu Vertretern radikaler ästhetischer und literaturtheoretischer Positionen. Außerdem spielten die „Akzente“ eine zentrale Rolle für die Vermittlung ausländischer Literatur in der jungen Bundesrepublik.

Die „Akzente“ (und das ist schon ein Wunder in diesen Zeiten) erscheinen auch heute noch regelmäßig. Seit 2015 widmet sich jedes Heft einem speziellen Thema, zusammengestellt von wechselnden Herausgebern (sehr oft bekannte Schriftsteller). Leser, die in die unendliche Schatztruhe der Dichtung, der Poesie, der Haikus, der Essays und Reden sowie des literarischen Gesprächs eintauchen wollen, finden in den „Akzenten“ großartiges Beweismaterial für die hohe Qualität, die Fantasie, die intellektuelle Größe, die Lust und den Humor, die Philosophie und die große Kunst heutiger Schriftsteller und Dichter.

Zuletzt war dies unter dem Thema „Begegnungen“ Anja Kampmann, die Texte versammelte, in denen die Freundschaft und die Kraft von Begegnungen gefeiert werden. Denn Einzelkämpfer sind die wenigsten. Wer schreibt steht unter dem Verdacht, aus der Abgeschiedenheit heraus auf die Welt zu schauen. Gleichzeitig schaffen aber Autorinnen und Autoren in Geschichten und Poesie Begegnungen, die oft intensiver sind als alltägliche Zusammenkünfte. Ist Schreiben denn nicht immer auch Dialog? Gibt es da nicht ein feines Netz des Miteinanders? Darüber gibt es da einiges zu lesen.

Die Ausgabe über den „Körper“ wird zu einem Heft mit der Feder als Skalpell. Hilft das Schreiben, wenn es um den eigenen Körper geht? Wie setzt sich die Literatur, wie setzen sich Autorinnen und Autoren heute mit Krankheit auseinander? „Statt am ganzen Körper zu zittern, las ich Zeitungen. Ich hörte Radio. Ich aß zu Mittag“, schreibt Colm Tóibín über den Moment, als er zum ersten Mal seine Chemotherapie bekommt. Was er schildert, ist brutal und anrührend, traurig und witzig zugleich.

In der Ausgabe 1/21 mit dem merkwürdigen Titel „Nachmittags um halb Fünf“ versammelt Aris Fioretos unterschiedliche Porträts in Bild und Text, von der Momentaufnahme über das Selfie bis hin zum unscharfen Blick aus der Ferne. Denn: Ohne Spiegel können Augen sich nicht selber sehen. Sehen wir uns also immer nur teilweise, in Bruchstücken – hier ein Fuß, da eine Armbeuge? Oder geht der Blick eher nach innen, wo eine andere Art von Vision nötig wird? Wen sehen wir, wenn wir uns aus der Perspektive anderer mustern?

In der Ausgabe über die „Wildnis“ geht es naturgemäß um die Zivilisation. Die Romantiker empfahlen die Nähe zur unberührten Natur, um die Seele zu heilen. Spätere Denker sahen in der Wildnis den Gegner und Feind. Und wir? Wenn ein winziges Virus es vermag, unsere Welt in Katastrophen mittelalterlichen Ausmaßes zu führen – zeigt sich die ungebändigte Natur dann nicht als letzte Antagonistin? Spannende Beiträge sind da zu entdecken. Der Schriftsteller, das unbekannte Wesen, kommt in der Ausgabe „Vom Schreibtisch“, herausgegeben von Jo Lendle, den heutigen Hanser-Verleger, aus der Deckung. Autorinnen und Autoren lüften das Geheimnis ihres Schreibens und nehmen die „Akzente“-Leser mit in ihre Arbeitszimmer. Sie sprechen über die Angst vor dem nächsten Roman, das Leben als Einzelkämpfer, über ihr Verhältnis zur Leserschaft und schriftstellerische Vorbilder.

Peter Stamm widmet sich in einem Heft mit dem Titel „Die Ungeborenen“ eben diesen Ungeborenen. Zusammen mit befreundeten Autorinnen und Autoren belebt er sie wieder und schenkt ihnen ihren längst verdienten Auftritt. Weil jede Schriftstellerin, jeder Schriftsteller trauert um ausgemusterte Figuren: Lebendig begraben in den Schubladen der nicht veröffentlichten Manuskripte, haben sie das Licht der Publikation nie erblickt.

Theresia und ihr Vater Hans Magnus Enzensberger haben Autorinnen und Autoren versammelt, um gemeinsam Wunder aufzuspüren: vielfältig, oft subjektiv, in der Gegenwart und zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte. Vom Alten Testament geht es bis zu Wonder Woman und vom Wonderbra zu Miracel Whip. Was ist ein Wunder, wer kann Wunder wirken und worüber wundern wir uns eigentlich? Eine Zeitschrift wird zur Wunderkammer.

"Die Welt muss nicht in Ordnung gebracht werden; die Welt hat eine ihr innewohnende Ordnung. Es ist an uns, mit dieser Ordnung zu harmonieren", so Henry Miller 1969. Gibt es eine natürliche Ordnung? John Burnside und Jo Lendle bitten in der Ausgabe „Ordnung“ Schriftsteller, Philosophen und Künstler zu einem literarisch-essayistischen Gespräch über Konzepte von Ordnung und Unordnung. Das Böse fasziniert und droht, in seiner scheinbar klaren Gegenüberstellung zum Guten verspricht es Orientierung. Doch können wir das eine tatsächlich vom anderen trennen? Gibt es das Böse überhaupt oder zeigt sich in der Substantivierung der Sündenfall der Grammatik? Nora Bossong und Jo Lendle stellen die Frage, wie wir uns ästhetisch dem Bösen nähern, in einer kompakten Ausgabe. Solcherart gibt es eine Menge zu entdecken in den vielfältigen aktuellen Ausgaben der „Akzente“.

Edition Akzente

In den von heute aus gesehen auf jeden Fall goldenen Zeiten des Literaturverlages, Mitte der 1980er Jahre, konnte Michael Krüger bei Amtsantritt als alleiniger Verleger des Hanser Verlages die bereits schon etwas länger geplante Edition Akzente in Ergänzung zu der Zeitschrift „Akzente“ realisieren.

Das Programm der Edition Akzente orientierte sich an der Zeitschrift, kurz gesagt, wenden sie sich bis heute vor allem an alle Liebhaber des Essays sowie einzelgängerischer Literatur der Moderne, auch an die immer weniger werdenden Leser von Gedichten. In einer Eigendarstellung liest sich das dann so: „Die Edition Akzente umfasst Poesie, literarische und kulturkritische Essays, Dokumentationen. Bücher für Minderheiten also, für Leser, die nicht unbedingt immer das lesen wollen, was alle lesen. Bücher, die ihrem spezifischen Gewicht nach für die Entwicklung der Literatur und des Denkens eine Bedeutung haben, die nicht auf den ersten Blick erkennbar ist. Die eine Wirkung haben, die an der Oberfläche nicht unmittelbar sichtbar wird.“