Ali Smith - Alles steht auf der Kippe

Ali Smith -  Alles steht auf der Kippe

Veröffentlicht am 24.03.2022

Ali Smith erhält verdientermaßen den diesjährigen Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. Von Brigitte Winter

Bereits der erste Teil des folgenden Satzes aus ihrem Roman „Frühling“ drückt wohl aus, wie derzeit viele empfinden: „Alles steht auf der Kippe – zu Chaos, Kollaps, Exil, aber es kommt auch, immer wieder, der Frühling“. Ali Smith hat dabei vor allem das Elend der britischen, brexithaften Gegenwart vor Augen, dazu politischen Populismus, europäisch und amerikanisch, und den globalen Klimawandel. Davon handelt ihre große Jahreszeiten-Tetralogie, die der in Schottland geborenen Ali Smith endgültig einen Platz unter den interessantesten europäischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern der Gegenwart verschafft hat und nicht zuletzt als „Schottlands Nobelpreisträgerin in Wartestellung“ gilt. Und dafür erhält sie in diesem Jahr auch den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur.

Ali Smith wurde am 24. August 1962 in Inverness in Schottland als Tochter von Ann und Donald Smith geboren. Ihre Eltern stammten aus der Arbeiterklasse und sie wuchs in einem Gemeindehaus in Inverness auf. Von 1967 bis 1974 besuchte sie die St. Joseph's RC Primary School, ging dann weiter zur Inverness High School und verließ sie 1980. Sie studierte von 1980 bis 1985, machte einen gemeinsamen Abschluss in englischer Sprache und Literatur an der University of Aberdeen, wurde 1982 erste in ihrer Klasse und erhielt 1984 einen ersten Platz in Senior Honours English. 1984 gewann sie den Bobby Aitken Memorial Prize for Poetry der Universität. Von 1985 bis 1990 besuchte sie das Newnham College, Cambridge, und promovierte in amerikanischer und irischer Moderne. Als junge Frau hatte Smith mehrere Teilzeitjobs inne, darunter Kellnerin, Salatreinigerin, Assistentin des Fremdenverkehrsamts, Rezeptionistin bei BBC Highland und als Werbetexterin. Während ihrer Zeit in Cambridge begann sie Theaterstücke zu schreiben und beendete ihre Promotion daher nicht. 1990 zog sie von Cambridge nach Edinburgh und arbeitete als Dozent für schottische, englische und amerikanische Literatur an der University of Strathclyde. 1992 verließ sie die Universität, weil sie unter dem chronischen Erschöpfungssyndrom litt und kehrte nach Cambridge zurück, um sich zu erholen. Während ihres Doktoratsstudiums in Cambridge schrieb Smith mehrere Theaterstücke, die beim Edinburgh Festival Fringe und Cambridge Footlights aufgeführt wurden. Nachdem sie einige Zeit in Schottland gearbeitet hatte, kehrte sie nach Cambridge zurück, um sich auf ihr Schreiben zu konzentrieren, insbesondere auf Kurzgeschichten und als freiberufliche Rezensentin für Belletristik für die Zeitung „The Scotsman“.

1995 veröffentlichte sie ihr erstes Buch, „Free Love and Other Stories“, eine Sammlung von 12 Kurzgeschichten. Die Geschichten handeln von Verlangen, Erinnerung, sexueller Mehrdeutigkeit und Vorstellungskraft. In diesem Licht der Verwirrung suchen die Menschen Verbindungen, Worte, die auf der Straße wehen, Liebe an unerwarteten Orten. So findet ein junges Mädchen auf einer Reise nach Amsterdam unerwartete sexuelle Freiheit oder eine Frau, die bei einer Dinnerparty gefangen ist, stößt auf eine hässliche Besessenheit. Ali Smith zeigt, wie Dinge zusammenkommen und wie sie auseinanderbrechen. Sie verunsichert und bringt die Menschen mit der leichtesten Berührung dazu, anders zu lieben und anders zu leben.

Im Hotel, zufällig

In ihrem ersten Roman „Hotel World“ (2001, „Im Hotel“) treffen in einem alten Hotel in einer schottischen Stadt fünf sehr unterschiedliche Frauen aufeinander: die Journalistin Penny, die im Hotel übernachtet, die warmherzige Rezeptionistin Lise, die Obdachlose Else, die vor dem Hotel bettelt, und die junge Clare, die herausfinden will, was mit ihrer Schwester Sara wirklich passiert ist. Denn das fünfte weibliche Wesen, um das es hier geht, ist der Geist des Zimmermädchens Sara, das vor kurzem im Hotel verunglückt ist, und dieser Geist versucht nun, starrsinnig am Leben festzuhalten. Und dies macht diese eine Nacht für alle fünf Frauen zu einer ganz besonderen Nacht.

Fünf unterschiedliche Stimmen bewohnen diese traumhafte, hypnotisierende Hotelwelt, die in der luxuriösen Anonymität des Global Hotels in einer namenlosen nordenglischen Stadt spielt. Zu den körperlosen, aber miteinander verbundenen Charakteren gehören also Sara, das 19-jährige Zimmermädchen, das kürzlich im Hotel gestorben ist; ihre hinterbliebene Schwester Clare, die den Schauplatz von Saras Tod besucht; Penny, eine Werbetexterin, die im Zimmer gegenüber wohnt; Lise, die depressive Empfangsdame des Global; und die obdachlose Else, die draußen auf der Straße bettelt. Sara führt die Leser zum Moment ihres Ausstiegs aus der Welt – und darüber hinaus. In ihrem verzweifelten Griff nach Worten und ihrem Sinn versucht sie, die Bedeutung ihres Todes zu vermitteln. Und dann kommt ein Blitz der Klarheit: „Das ist der Name dafür, der Name dafür; das ist es; stummer Kellner stummer Kellner stummer Kellner." Es vermischen sich andere Stimmen: Pennys milder Journalismus und Elses Besessenheit von metaphysischer Poesie. Der Roman ist abwechselnd verstörend und witzig, mit seinen Erzählern dem Strom des Bewusstseins folgen, die großen Themen erforscht: Liebe, Tod und auch der neue Kapitalismus.

In „The Accidental“ (2004, „Die Zufällige“) geht es um eine Familie, in der sich alle vier Mitglieder auf eine merkwürdige Art und Weise von einer jungen Frau verführen lassen. Warum hat niemand in der Familie die junge Frau gefragt, woher sie eigentlich kommt? Plötzlich war sie dann da, saß auf dem Sofa, erzählte von einer Autopanne – und schon bald gehört sie dazu, ein Feriendauergast, von dem alle fasziniert sind. Sowohl der Halbwüchsige, der sich gern verführen lässt, das zwölfjährige Mädchen, das sich gern führen lässt, als auch schließlich das Ehepaar: Die Frau bemerkt, dass auch ihr Mann sich verliebt hat, „und diesmal perlte es nicht wie sonst von ihm ab wie das sprichwörtliche Wasser vom Rücken der Ente“. Eine Familie wird in ihrer Mitte getroffen durch eine Person, die allerlei Begehren auf sich zieht. Die Mitte war leer, und alle merken es zu spät. Es ist ein wunderbar abgründiger Roman aus dem ganz normalen Leben.

2008 erschien, nach weiteren Erzählbänden, die noch nicht ins Deutsche übersetzt sind, „The First Person and Other Stories“ (2008, „Die erste Person“). Es sind zwölf virtuose, witzige und vor übermütigen Ideen strotzende Erzählungen, die tatsächlich (fast) alle, wie der Titel suggeriert, aus der Perspektive einer Ich-Erzählerin geschrieben sind. Doch natürlich hat Smith auch an die zweite und die dritte Person gedacht und sie im Laufe des Bandes mit eigenen Geschichten versehen. "Die zweite Person" etwa handelt von einem frisch getrennten Paar, das über den Satz "Du bist schon was Besonderes. Doch bist du" in Streit gerät, weil das, was die eine in der anderen zu sehen glaubt, von der anderen als Anmaßung empfunden wird. "Du würdest ein Akkordeon genau deshalb kaufen, weil du nicht Akkordeon spielen kannst", sagt die eine. "Das finde ich wirklich erstaunlich bei dir", sagt die andere, "dass du nach all den Jahren, all den Jahren, die wir miteinander sprechen, meinst, du hättest, als wärst du Gott, das Recht zu entscheiden, wer ich bin und wer ich nicht bin und wie ich nicht bin und was ich machen würde und was ich nicht machen würde." Wie Smith diese Zuschreibungsparade auffächert, ist großartig. Sie erzählt mit Humor und Fabulierlust, lenkt die Aufmerksamkeit auch auf unnütze Details, wie sie sich in jede Normalwahrnehmung schleichen können. Kurz fällt im Streit beispielsweise der Blick auf ein nicht zuzuordnendes Stück Holz, das auf dem Fensterbrett liegt und das Anschwellen einer neuartigen Fremdheit zwischen zwei ehemaligen Liebhabern markiert.

Alles in diesen Erzählungen geschieht mit größter Selbstverständlichkeit, man scheint zu bemerken, wie sich die Erzählerin dabei amüsiert bei der Herstellung von Irritationen von Erwartungshaltungen. Ali Smith lässt ihre zwölf Geschichten sozusagen um die Grammatik der Liebe und über allerlei Abgründe der Realität kreisen und füllt den Alltag mit lauter verblüffenden Geschichten. Da reden, denken und lieben überaus aufgeweckte Frauen, die sich auf Nähe einlassen und die Sprache beim Wort nehmen, sodass die Grenzen zwischen Realität und Fantasie verschwimmen und sich immer neue Welten auftun.

Es hätte mir genauso

Nach ihren wunderbaren Kurzgeschichten legte Ali Smith mit „There But For The“ (2011, „Es hätte mir genauso“ ihren wohl obskursten Roman vor. Da verlässt ein Mann eine typisch englische Dinnerparty, geht jedoch nicht nach Hause, sondern in den ersten Stock ins Gästezimmer und schließt sich solcherart bei seinen Gastgebern ein. Als Leser hat man durchaus bewunderndes Verständnis dafür, wenn Miles Garth zwischen Hauptgang und Nachspeise einfach aufsteht und sich davon macht. Die Gastgeberin erinnert an eine zitronensaure britische Version einer Akteurin der TV-Serie „Desperate Housewife“, ihr Mann traut sich selten etwas zu sagen. Richard spricht nur über die Überwachungsdrohnen, die sein Unternehmen herstellt, Caroline schimpft über stets über moderne Kunst, Hannah interessiert einfach gar nichts und Hugo spielt den treuen Ehemann, während er heimlich mit Mark schläft.

In Herman Melvilles berühmter Erzählung ist Bartleby der Schreiber eines Rechtsanwalts, der eines Tages im Büro (an der Wall Street) einzieht und mit den Worten „I would prefer not to“ jegliches gesellschaftlich erwartete Handeln niederlegt. Miles ist sozusagen ein moderner Bartleby in Greenwich. Doch er geht quasi noch weiter – nicht zur Tür hinaus, sondern hinauf in den ersten Stock, ins Gästezimmer. Und bleibt dort. Für Monate. Die Gastgeber sind echauffiert, die Öffentlichkeit jedoch begeistert. Miles, mit Spitznamen bald „Milo“, wird zum Popstar, bald zelten seine Fans unter dem Fenster.

Dabei erfährt man über ihn, der im 21. Jahrhundert Ethikberater für Firmen ist, kaum mehr als über Bartleby. Das wenige liefern vier Menschen, deren Leben sich irgendwann einmal mit seinem gekreuzt hat. Da ist etwa Anna Hardie, die mit ihm mit 17 in einer Europa-Reisegruppe war (und die gerade ihren Job gekündigt hat, bei dem sie Flüchtlingsschicksale in kurze Berichte packen musste). Oder der Bildredakteur Mark, der um seinen verstorbenen Lebensgefährten trauert und die Stimme seiner Mutter hört, die sich umgebracht hat, als er noch ein Kind war, und die ihn jetzt mit Reimen verfolgt. Überhaupt spielen bei Ali Smith Reime, Wortspiele und Andeutungen eine große Rolle (die im Zuge der Übersetzung aus dem Englischen allerdings ein wenig verloren haben dürften). Insbesondere die unverwechselbare, altkluge Brooke, der stärkste Charakter der Geschichte, macht sich die Welt zu eigen, indem sie nach Wörtern fragt und sich die Antworten einprägt. Sprache ist bei Smith der Stoff, der das Leben und seine Beziehungen zusammenhält. Aber eben auch der, der die Menschen in ihrer Einsamkeit einzementiert, wenn man sie für Party-Smalltalk missbraucht, bei dem doch nur alle aneinander vorbeireden.

Greenwich hat als Heimatort des Nullmeridians in dem Roman auch eine Hauptrolle, als Nullpunkt, von dem aus man in die eine oder die andere Richtung starten kann (oder den man einfach immer wieder überqueren kann, ohne willkürlich herausgefischt zu werden, weil man die falsche Hautfarbe hat, wie Brooke nach einschlägiger Erfahrung feststellt). Es ist ein rätselhafter Rahmen, mit dem Ali Smith ihren Roman versehen hat. Nichts ist vollkommen eindeutig, alles geschickt verwoben und zeichnet letztlich ein Bild unserer Zeit und unserer Unorientiertheit. Und wie schon bei Herman Melville, bei Bartleby, ist es der, der im System nicht mehr mitmacht, der die Dinge ans Licht bringt. Dieser rätselhafte Roman ist ebenso ein seltsam kluges Sittenbild von Ali Smith.

Wem erzähle ich das?

2012 sprach Ali Smith in vier Poetikvorlesungen in Oxford über ihr Schreiben. Ihre Vorträge, (2017 unter dem Titel „Wem erzähle ich das“ in deutscher Übersetzung erschienen) sind selbst kleine literarische Kunstwerke, in denen diverse Romanfiguren ein Eigenleben führen und in einen Dialog mit der Gegenwart treten. Die schottische Schriftstellerin skizzierte eine Ästhetik, die auf eine ständige und gleichsam organische Durchdringung von Kunst und Wirklichkeit zielt. Und sie stellte in ihren Vorträgen auch die provokante Frage, ob es nicht eine Anmaßung sei, zu behaupten, man kenne ein Buch, bloß weil man es einmal gelesen habe. Denn, so führte sie weiter aus: „Bücher brauchen Zeit, um sich uns nach und nach zu erschließen, wir brauchen Zeit, um zu begreifen, was sie ausmacht – strukturell, in den thematischen Anschlüssen, den Gedanken, die sie auslösen, und den Korrespondenzen mit Büchern, die ihre Vorläufer waren, denn Bücher werden eher von Büchern hervorgebracht als von ihren Verfassern; sie sind das Ergebnis aller Bücher, die vor ihnen da waren.“

Die vier Texte, die Ali Smith vortrug, tragen die Titel „Zeit“, „Form“, „Ränder“ und „Angebot und Widerspiegelung“ und sie drehen sich im Wesentlichen um diese Frage, auf die viele Literaturwissenschaftler immer wieder zurückkommen: Was ist das eigentlich, Literatur? Smith gibt darauf eine sprachliche, gleichsam erzählende Antwort. Ihre Texte sind keine klassischen Vorlesungen, sondern Mischungen aus Kurzgeschichten und Theorie, die sich zu so etwas wie einem Roman zusammenfügen.

Die Lebensgefährtin der Erzählerin, eine Literaturwissenschaftlerin, ist gestorben, geistert aber als eine Art freundlicher Zombie noch immer durch das gemeinsame Haus. Die Erzählerin lenkt sich mit Musicals und Romanen von Charles Dickens ab, sie wühlt in den Unterlagen der Geliebten, um die versprochenen Vorlesungen doch noch irgendwie in einen vortragbaren Zustand zu bekommen. Ihre Methode ist lesen und schreiben zugleich. Als Leser folgt man der Erzählerin, denn in ihren Texten weiß sie wortwörtlich um den Tod, der in Gestalt der verstorbenen Geliebten, als fast barockes memento mori immer anwesend ist. „You must remember this, as time goes by, the fundamental things apply“ (wo nötig oder nützlich, lässt die großartige Übersetzerin Silvia Morawetz auch den englischen Text stehen).

Bedeutsam ist sozusagen nur, was auch ein Ende hat. Oft wird eine Parallele zwischen Text und Tod gezogen. Der Vergleich ist selbst etwas beliebig, da er sich auch leicht umdrehen lässt: Literatur entwischt dem Tod, da sie ja gerade nicht sterben kann und offene Formen wie der Roman haben theoretisch das Potenzial, ihr Ende endlos hinauszuschieben. Sie sind geschrieben, als könne es immer so weitergehen. In dem Vergleich scheint aber eine Facette der Literatur auf, die sonst kaum sichtbar zu machen gewesen wäre. Davon ausgehend spinnt Smith die Gleichnisse weiter. Wenn Ali Smith ihre gespenstische Geliebte mit der Literatur vergleicht, geht es dabei nicht auch um Liebe? Ein Wegweiser durch alle Vorlesungen ist Dickens „Oliver Twist“. Literatur als Spiegel, als Identitätsstifter und großartig ihre Gedanken über die Rolle des Zufalls von Dickens’ Romanen bis zu Shakespeares Dramen, „an deren Ende eine Wiedergeburt steht, ein Verlorener wiedergefunden wird oder ein Toter ins Leben zurückkehrt, oft mittels einer klug angewandten List“. Dieses schmale Buch von gerade gut 200 Seiten hat einen Inhalt wie für 1000, und eine einmalige Lektüre kann diesem Essay-Roman sicherlich nicht gerecht werden. Zu vielfältig sind die Ideen, zu komplex die Themen, zu groß die Bandbreite.

Der Roman „How to Be Both“ (2014, „Beides sein“ besteht aus zwei Geschichten, die ein Ganzes bilden. Da ist die Geschichte von George, einem Mädchen von heute, das um seine ganz plötzlich verstorbene Mutter trauert. George hält ihre Erinnerungen fest, vor allem die Reise nach Italien, als sie mit ihrer Mutter und ihrem kleineren Bruder Henry den Palazzo Schifanoia in Ferrara besuchten, der mit Fresken ausgemalt ist. Der Künstler der schönsten Fresken in diesem „Palast gegen die Langeweile“ aus dem 15. Jahrhundert war Francescho del Cossa. Diese Erinnerungen, die Entdeckung des Sehens und Beobachtens und eine Freundschaft bringen George langsam wieder ins Leben zurück. Und dann ist da das Leben von Francescho del Cossa, dem Renaissancekünstler, dessen Werdegang zum Hofmaler bei Borsa d’Este alles andere als einfach war und dessen ungewöhnliche Geschichte auf verblüffende, durchaus vergnügliche Weise auf die des Mädchens George trifft.

Es ist ein Roman über die Vielseitigkeit der Kunst. In Anlehnung an die Freskentechnik der Malerei, um einen originellen literarischen Doppelblick zu schaffen, ist es ein sich schnell bewegendes, genreübergreifendes Gespräch zwischen Formen, Zeiten, Wahrheiten und Fiktionen. Es gibt diesen Renaissance-Künstler der 1460er Jahre, und da ist das Kind eines Kindes der 1960er Jahre. Zwei Geschichten über Liebe und Ungerechtigkeit verweben sich zu einem einzigartigen Strom, in dem die Zeit zeitlos wird, Struktur verspielt wird, Wissen mysteriös wird, Fiktion real wird – und allen Gegebenheiten des Lebens eine zweite Chance gegeben wird.

Die Jahreszeiten

Ali Smiths Jahreszeiten-Romane, von „Herbst“ bis „Sommer“, erschienen im Original seit 2016. Seit 2021 ist die Tetralogie auch in deutscher Übersetzung vollständig zu lesen. Es ist ein in der Erzählweise gewagtes, scheinbar sprunghaftes, assoziationsreiches Werk, wie aus lauter Puzzlesteinchen bestehend. Smith bringt darin Befindlichkeiten in Großbritannien bis ins Tagesaktuelle hinein zum Ausdruck. Gleichzeitig strotzt ihr Romanwerk von literarischen Anspielungen und Verweisen. „Akademische“ Kälte und Leblosigkeit strahlen ihre Romane dennoch nie aus, ganz im Gegenteil. Es spiegelt die nervöse englische Gegenwart zwischen Brexit und Corona und betreibt zugleich ein raffiniertes Spiel mit der Literaturgeschichte.

Viele Charaktere tauchen in den Romanen auf, die miteinander mehr oder weniger lose verbunden sind, wie Fäden losgelassen und irgendwann überraschend wieder aufgenommen werden. In „Herbst“ steht etwa die freundschaftliche Beziehung zwischen einer 30-jährigen Frau und ihrem 100-jährigen Nachbarn im Mittelpunkt. In „Winter“ kommt eine Familie zu Weihnachten zusammen. In „Frühling“ begegnen einander ein der Vergangenheit nachtrauernder Regisseur und die Angestellte eines Flüchtlingszentrums. In „Sommer“ erlebt man eine Kleinfamilie mit zwei Teenagern im Geschwisterkonflikt: Die 16-jährige engagiert sich gegen den Klimawandel und ist in Korrespondenz mit einem internierten Flüchtling. Ihr jüngerer Bruder Robert, ein hochbegabter Einstein-Fan, ist für den Brexit und gefällt sich in rechtsradikaler Rhetorik.

Jeder der vier Jahreszeiten-Romane ist als einzelnes Buch lesbar und in seiner Handlung verständlich, mit dem Abschluss des Projekts, dem im vorigen Jahr erschienenen Band „Sommer“ (Ali Smith war es von Anbeginn an wichtig, den Zyklus licht enden zu lassen), wird deutlich, wie sehr die Bücher auch miteinander korrespondieren. Was alle vier Bücher verbindet, ist die im gehetzten Stakkato vorgebrachte Tirade, mit der Smith die Romane eröffnet. In „Winter“ war es ein Abgesang auf das kulturelle Leben; in „Frühling“ verschärfte Smith den Ton in Richtung eines populistischen Einpeitschers. In „Sommer“ bringt die Erzählstimme ihre Wut über die Gleichgültigkeit der Politik angesichts globaler Katastrophen zum Ausdruck.

Jeder einzelne steht auch auf den Schultern literarischer Vorläufer. Ali Smith webt mit Freude Shakespeare- oder Charles Dickens-Referenzen, -Zitate und -Motive in ihre Texte hinein. Ausgerechnet in „Sommer“ spielt sie immer wieder auf Shakespeares „Wintermärchen“ an. Ihre literarische Verweise sind mehr als nur ein Spiel, doch sind sie nicht zwangsläufig für den eigentlichen Plot relevante intertextuelle Unterströmungen, die zum detektivischen Kombinieren auffordern. Vielmehr erweitert sie mit ihrem Verfahren den Raum, in den sie ihre Figuren setzt. So bekommen sie Luft und Tiefe zugleich. Daraus resultiert mitunter die Freude, die ihre Romane beim Lesen bereiten. Sie flirren nur so von Überraschungen, sprachlichen Einfällen, stilistischen Varianten. Nie stellt sich das Gefühl ein, hier wolle eine Autorin ihre Brillanz aus Eitelkeit ausstellen. Dass die Übersetzerin Silvia Morawetz die Eleganz, den Humor und die Assoziationsfreudigkeit von Smiths Sätzen adäquat ins Deutsche übertragen hat, ist eine außerordentliche Leistung.

Kritiker werfen Ali Smith allerdings vor, ihr in sich perfektes System aus Intertextualität und Verweisen hin und wieder allzu demonstrativ, ohne erzählerische Notwendigkeit zu betreiben. Es ist ein ernst zu nehmender Einwand, der im Zusammenhang mit dem düsteren „Winter“-Buch durchaus Berechtigung haben könnte. Doch die Jahreszeiten-Tetralogie als Gesamtkunstwerk und der virtuose Abschluss mit dem „Sommer“-Roman, dem umfangreichsten der vier Bücher, entkräften den Vorwurf der allein kunstkünstlerischen Selbstreferentialität. Hier spielt nicht eine Autorin ihr postmodernes Spiel mit Versatzstücken, sondern hier schreibt eine starke Schriftstellerin, die die Literatur und die Kunst ernst nimmt und daraus Trost, Humanität, Würde, Selbstbehauptung und Erkenntnis gewinnt.

Das Land, das Ali Smith zeigt, ist ein Land in Aufruhr. Ein Land, das bis in seine Familien hinein zerfressen ist. All das, all diese Lebenslinien und Lebenserwartungen, die Generationen und unterschiedlichen Erfahrungshorizonte, bringt sie ohne jedes Knirschen wie durch Zauberei in ein schlüssiges Großes und Ganzes. Es ist kaum zu glauben, dass jeder Roman der Tetralogie in nur wenigen Monaten entstanden ist. Ali Smiths Jahreszeiten-Tetralogie ist auch und immer wieder die bittere Bestandsaufnahme einer Nation im Griff von politischem Populismus, Unbarmherzigkeit, Größenwahn und Gier. Die Romane haben keine Tendenz zu falschen Idyllen. Aber bei genauem Hinsehen gestattet Smith jedem ihrer Bücher einen kleinen Lichtblick.

„Ali Smith bleibt in ihren Romanen und Erzählungen nah an unserer Gegenwart. Und weil Gegenwart ohne Vergangenheit nicht zu haben ist, stattet sie Figuren mit Biografien aus, in denen sich das 20. Jahrhundert spiegelt“, heißt es in der Jurybegründung. „Als Menschenkennerin weiß Smith, dass es, um Personen nahe zu kommen, nicht ausreicht, sie auf äußere Lebensstationen festzulegen. Sie stattet sie mit Träumen und Erinnerungen, Fantasien und Gedankenspielen aus. Dazu bedarf es eines gewieften ästhetischen Programms, das der Fülle der inneren Zustände gerecht wird.“ Als Leserin oder Leser von Ali Smiths Romanen und vor allem des Jahreszeiten-Zyklusses kann man nur bewundernd zu dieser Schriftstellerin heraufschauen. Es sind kühn angelegte Romane, die sehr nahe an unserer nervösen Epoche sind und trotzdem zeitlose Schönheit ausstrahlen.

Foto: © Imago Images Italy Photo Press