Annie Ernaux - Meine eigenen, inneren Bilder, die Bilder meiner Erinnerung

Annie Ernaux - Meine eigenen, inneren Bilder, die Bilder meiner Erinnerung

Veröffentlicht am 03.10.2022

Ein Porträt von Brigitte Winter. 

Die meisten Kommentatoren im Literaturbetrieb und Feuilleton waren sich diesmal (ausnahmsweise) einig: Die Schwedische Akademie hat diesmal nichts falsch gemacht. Mit Annie Ernaux haben sie eine würdige Autorin für den Nobelpreis für Literatur erkoren. Das Einzige, das man vielleicht kritisch anmerken könnte, ist, dass die Auszeichnung etwas spät kam, immerhin ist Annie Ernaux bereits 82 Jahre alt.

Doch nicht nur der offizielle Weltruhm kommt nun spät, auch ihre Popularität im deutschen Sprachraum stellte sich mit jahrelanger Verzögerung ein. In Frankreich schaffte sie den großen Durchbruch 2008 mit ihrem Bestseller "Les Années", während die deutsche Übersetzung „Die Jahre“ erst 2017 erschien und sohin ihren Ruf als Königin der nun sehr angesagten "Autofiktion" einleitete.

Mit dazu beigetragen hatte, dass ein Jahr zuvor Didier Eribons "Rückkehr nach Reims" auf Deutsch erschienen war. Der französische Philosoph beschäftigt sich in diesem Buch (das, wie er selbst sagte, Ernaux' Schreiben vieles verdankt) mit seiner Herkunft aus dem Arbeitermilieu, in dem er als Homosexueller verachtet wird, und mit seinem Aufstieg zum Intellektuellen und dem politischen "Niedergang" der Arbeiterklasse, die einst links gewählt hatte und sich plötzlich im ultrarechten Lager des Front National fand. Daneben hat auch der Soziologe Pierre Bourdieu seinen Freund Eribon ebenso beeinflusst wie auch Annie Ernaux. Bourdieu beschrieb die feinen (mitunter auch: groben) Unterschiede, in denen sich Klassengegensätze festsetzen und Distinktionsgewinne erzielen lassen. Für Annie Ernaux, die um diese Mechanismen weiß, erscheint dessen Einbettung in ein konkretes Milieu und historische Diskurse unumgänglich und somit ein naiv-unmittelbarer Zugang zum eigenen Ich verwehrt,. Und die Sprache bot ihr die Möglichkeit, dieser Herkunft zu entkommen – oder es wenigstens zu versuchen: „Wenn ich als Kind probierte, mich besser auszudrücken, hatte ich immer das Gefühl, mich in einen Abgrund zu stürzen“, schreibt sie. Schon in der Schule sprach sie nicht mehr Dialekt wie die Eltern, sondern lernte „richtiges Französisch“. Zu Hause sorgte das oft für Streit, wurde Sprache, mit sie sich von ihrer Herkunftsklasse abzuheben versuchte, eben auch zur Waffe im nie endenden Kampf, sich loszusagen.

„Die Lust und das Interesse am Schreiben entwickelte ich früh“, erklärte Annie Ernaux in einem Interview, „schon mit 20 Jahren. Ein paar Jahre später schrieb ich auch schon ein erstes Buch, das ich auch vollendete, allerdings nie veröffentlichte. Dass ich dann zehn Jahre später doch wieder weiterschrieb und tatsächlich auch meinen ersten Roman veröffentlichte, hatte viel damit zu tun, dass ich mir immer mehr Gedanken über mein eigenes Leben machte. Ich hatte die Gesellschaftsklasse gewechselt, plötzlich war ich nicht mehr das Mädchen aus bescheidenen Verhältnissen, sondern eine gut gekleidete Lehrerin mit Mann und adrettem Zuhause. Ich wollte reflektieren, wie es genau dazu gekommen war und was das eigentlich bedeutete. Und das tat ich, indem ich es aufschrieb.“ Ihre Bücher erzählen von ihr selbst: direkt, klar, ohne Umschweife, radikal. Seit Mitte der 70er Jahre, als Annie Ernaux mit dem Schreiben begonnen hat, erfand sie sich selbst als „Ethnologin ihrer selbst“. Sie betrachtet sich von außen und reflektiert dabei die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie aufgewachsen ist. Sie schreibt an der Schnittstelle von Literatur und Soziologie, verwandelt private Erinnerungen in eine gesellschaftliche Erzählung und öffnet solcherart den Raum der Autofiktion also auch immer für möglichst viele andere, wenn sie von sich spricht.

Geboren wurde sie als Annie Thérèse Blanche Duchèsne am 1. September 1940 in Lillebonne. Ihre Eltern waren zunächst Arbeiter (der Vater arbeitete ursprünglich als Knecht) und betrieben später ein kleines Ladengeschäft mit Café in Yvetot in der Normandie. Sie besuchte ein Mädchenpensionat und studierte in Rouen und Bordeaux. Sie war die Erste in ihrer Familie, die an einer Universität studierte. Scham wurde für sie zum prägenden Gefühl. Scham für ihre einfache Herkunft. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Lehrerin am Gymnasium in Bonneville, am Collège d’Évire in Annecy-le-Vieux, in Pontoise und am Centre national d’enseignement à distance (CNED).

Der Platz

1974 publizierte sie ihren ersten autobiographischen Roman „Les Armoires vides“. 1984 erhielt sie für „La Place“ („Der Platz“), in dem Ernaux der Lebenswelt des Vaters nachspürt, den Prix Renaudot. 1966 starb ihr Vater. Sie war auf Besuch bei den Eltern, mit dem zweieinhalbjährigen Sohn, aber ohne ihren Ehemann, der sich dort "fehl am Platz" vorgekommen wäre, als der Vater erst krank wurde, dann nicht mehr aufstand. Auf der Rückfahrt nach Hause, im Erste-Klasse-Abteil des Zuges, gehen ihr zwei Sätze durch den Kopf: "jetzt gehöre ich wirklich zum Bürgertum" und "es ist zu spät". Mit Hilfe der aus allerärmsten Verhältnissen stammenden Eltern, die den langen Bildungsweg der einzigen Tochter unterstützt haben, ist sie ihrer Klasse entronnen, als Erste in der Familie hat sie studiert. Sie hat ins Bürgertum eingeheiratet, eine Familie gegründet, ihr Sohn ist von der bäuerlich-proletarischen Herkunft, der ihr noch anhaftet, endgültig befreit. Der Preis, den sie für den Aufstieg zahlt, ist seit frühester Jugend die Scham über die Eltern, verbunden mit einer zunehmenden Entfremdung, die sie mitunter als Verrat empfindet. Diese drei starken Gefühle aber (Scham, Entfremdung, Verrat) sind die Triebfedern ihres Schreibens, ohne sie wäre sie nicht Schriftstellerin geworden.

"Der Platz" ist das Schlüsselbuch in Ernaux' Werk. Auch wenn sie darin vordergründig das Leben des Vaters rekonstruiert, erzählt, wie er sich "hochgearbeitet" hat (mit zwölf begann er als Knecht bei einem Großbauern, während des Ersten Weltkriegs kam er erstmals aus seinem Dorf heraus, war in Paris, fuhr mit der Metro, sah, wie andere Leute lebten; dann war er Arbeiter, schließlich Besitzer eines kleinen Lebensmittelladens mit Ausschank), ist es kein Buch über ihren Vater, sondern über sie selbst. Über ihre Scham, die einsetzte, sobald sie als kleines Mädchen erkannte, dass ihre Art zu leben, sich zu kleiden, sich zu geben, zu reden, mit wenig Ansehen verbunden war. Über ihren Weg des Aufstiegs, voller Demütigungen und Angst, oft allein, weil die Eltern ihr nicht helfen konnten. Anders als die Emanzipation der Eltern, die vor allem eine äußerliche, eine materielle ist, ist die der Tochter eine verborgene, intellektuelle. Die Sprache (oder eigentlich: die Sprachen, denn in der Schule spricht sie nicht mehr Dialekt wie die Eltern, sondern lernt "richtiges Französisch") ist, je älter sie wird, desto öfter Auslöser von Ärger und Streit. Dass sie schließlich nicht nur Gymnasiallehrerin für Französisch, sondern sogar Schriftstellerin wird, ist ihr großer Triumph. Doch sie hat nicht vergessen, woher sie kommt, verleugnet ihren Vater nicht.

Eine Frau

Vier Jahre nach dem Vaterbuch erscheint „Une Femme“ („Eine Frau“), das Buch über ihre Mutter, die alles verkörpert, was die Tochter nicht mehr sein will. „Meine Mutter ist gestorben, am 7. April, im Altersheim des Krankenhauses von Pontoise“ lässt sie die Geschichte ihrer Mutter beginnen, einer Frau aus einfachsten Verhältnissen, in Beziehung zur Lebensgeschichte von Simone de Beauvoir, jener Tochter aus gutem, aus bestem, bürgerlichem Hause, „une fille rangée“ („ein ordentliches Mädchen“), wie es Beauvoir selbst in ihren Memoiren nennt. Dazu steht die Lebensgeschichte von Ernaux’ Mutter als Kontrapunkt, als Entgegnung: Gut- oder gar großbürgerlich war in diesem Leben nicht einmal das Träumen. Die intime Bestandsaufnahme eines Lebens jenseits der öffentlichen Pfade, das Requiem für eine Frau, die acht Tage vor Simone de Beauvoir starb und im gleichen Land, aber Welten von ihr entfernt gelebt hatte, eine Frau, die allen gegenüber großzügig war, „sie gab lieber, als dass sie nahm“ und die ihrer Tochter „die letzte Brücke zu der Welt, aus der ich stamme“ war.

Als sich für die Mutter der Traum von einem Lebensmittelladen erfüllt, ist dies für sie nicht zuletzt der Beweis dafür, der eigenen Klasse entkommen zu sein, es zu etwas mehr gebracht zu haben, trotz weiterhin beengter Verhältnisse und der ständigen Angst davor, dass es mit dem Geld nicht „reicht“, es wieder abwärts geht. Die Mutter ist es auch, im Gegensatz zum scheueren, seiner Klasse verbundenen Vater, die „kultivierter“ werden will. Sie beginnt, auf ihre Ausdrucksweise zu achten, liest Bücher, kauft ihre Kleider im besseren Kaufhaus der Stadt. Und will die Tochter unterstützen. Damit verbunden sind noch größere Anstrengungen und Lasten, die die älter werdende Frau auch zum Ausdruck bringt, „Du kostet uns ganz schön viel Geld“. Was bei der Tochter zusätzliche Schuldgefühle auslöst; und die kulturelle und milieubedingte Entfernung wächst. Im Kern geht es Annie Ernaux im Verlauf ihrer Erinnerung schließlich um die Auseinandersetzungen, die sie mit ihrer Mutter gehabt hat. Diese sind pubertärer Natur, haben zunehmend jedoch mit den anderen Lebensverhältnissen zu tun, ihren neuen, bürgerlichen. Im Vergleich mit dem Vaterbuch fällt auf, dass Annie Ernaux sich manchmal zurücknehmen muss, es ihr schwer fällt, stets kühl und nüchtern zu analysieren. Ihre Anteilnahme und Empathie scheinen größer als beim Vater gewesen zu sein, die Bindung zur Mutter größer.

Die Scham

„An einem Junisonntag am frühen Nachmittag wollte mein Vater meine Mutter umbringen“, lautet der erste Satz in „La honte“ (1997, „Die Scham“). Annie war wie immer um viertel vor zwölf zur Messe gegangen, hatte vom Bäcker im Einkaufszentrum Kuchen mitgebracht, zu Hause ihr Sonntagskleid gegen ein anderes umgezogen und darauf gewartet, dass alle Kunden und Gäste das Lebensmittelgeschäft der Eltern verließen, sodass die Familie mittagessen konnte. Ihre Mutter hatte schlechte Laune und fing einen Streit mit dem Vater an, der die ganze Mahlzeit dauerte. Nachdem sie das Geschirr abgeräumt hatte, machte sie dem Vater immer noch Vorwürfe, während dieser am Tisch saß und nicht antwortete, mit einem Mal aber krampfartig zu zittern und zu keuchen begann. Der Vater stand auf, und Annie sah, wie er ihre Mutter packte und mit rauer, fremder Stimme schrie. Aus der heutigen Sicht heraus erzählt sie, wie sie in den ersten Stock floh, ihren Kopf ins Kissen presste und die Mutter dennoch brüllen hörte. Sie rief nach ihr: „Tochter!“ Annie rannte die Treppe hinunter und fand beide in der schlecht beleuchteten Vorratskammer, mit der einen Hand hatte der Vater die Mutter am Hals oder an der Schulter gepackt, in der anderen hielt er das Beil, das er aus dem Klotz gerissen hatte. Dann erinnert sie sich nur noch an Tränen und Geschrei und daran, wie sie alle wieder in der Küche saßen, als wäre nichts geschehen.

Tatsächlich aber ist es dieser Moment, der von da an ihr Leben in zwei Hälften teilt, oder besser: in zwei Zeitzonen. In ein Davor und ein Danach: „Es war der 15. Juni 1952“, schreibt Ernaux. „Das erste präzise und eindeutige Datum meiner Kindheit. Davor gibt es nur aufeinanderfolgende Tage und das Datum an der Schultafel oder oben in meinem Heft.“ Seither verfolgt sie nicht nur die Angst, dass sich der Vorfall wiederholen könnte. Sie fürchtet vor allem, dass ihre Umgebung erfahren könnte, in was für einer Familie sie lebt. Diese Furcht ist untrennbar verbunden eben mit dem Gefühl der Scham, einer Scham, die nicht vergeht, sondern im Gegenteil immer mehr wächst: „Auch das gehört zur Scham: der Eindruck, dass einem von nun an alles Mögliche passieren kann, dass es nie aufhören wird, dass die Scham zu immer mehr Scham führt.“

Sie schreibt vom „Gedächtnis der Scham“: „Das große Gedächtnis der Scham ist sehr viel klarer und erbarmungsloser als jedes andere. Es ist im Grund die besondere Gabe der Scham.“ Zu ihrer Arbeitsweise schreibt sie programmatisch in „Die Scham“: „Um meine damalige Lebenswirklichkeit (1952) zu erreichen, gibt es nur eine verlässliche Möglichkeit, ich muss mir die Gesetze und Riten, die Glaubenssätze und Werte der verschiedenen Milieus vergegenwärtigen, Schule, Familie, Provinz, in denen ich gefangen war und die, ohne dass ich mir ihrer Widersprüche bewusst gewesen wäre, mein Leben beherrschten. Die verschiedenen Sprachen zutage bringen, die mich ausmachten, die Worte der Religion, die Worte meiner Eltern, die an Gesten und Gegenstände geknüpft waren, die Worte der Fortsetzungsromane, die ich in Zeitschriften las (...). Mich dieser Worte bedienen, von denen manche noch immer mit der damaligen Schwere auf mir lasten, um den Text der Welt, in der ich zwölf Jahre alt war und glaubte, wahnsinnig zu werden, anhand der Szene eines Junisonntags zu zerlegen und wieder zusammenzusetzen.“ An anderer Stelle spricht sie davon, dass ihr das Schreiben immer Angst mache, es sei eine ernste Sache: Es sei der „richtige Ort“, derjenige, an dem sie sich an ihre Erinnerung wende. Das sei nicht einmal ein sehr persönlicher Akt, sondern wie der Besuch eines Archivs, das sie besonders gut kenne. Dieses Archiv sei eine Fiktion, und zwar diejenige, in der man seine eigene Erinnerung durchgehen könne wie einen Karteikasten. Diese Fiktion sei notwendig, um die Erzählung in Gang bringen zu können. Ein einzelnes Foto diene als Fund aus diesem Archiv, ein beschreibungsbedürftiges, zu analysierendes und erträgliches Einzelstück. So ein Foto sei ein guter Anfang, etwas Konkretes, über das man etwas sagen könne. Mit einer Beschreibung gehe es los, so sei man nicht allein mit der leeren Seite, das Foto sei ja da“ (im Gespräch mit Hanna Engelmeier).

Das Ereignis

"Jeden Tag bilden Männer irgendwo auf der Welt einen Kreis um eine Frau, um sie zu steinigen", heißt es in den "Erinnerungen". Den weiblichen Körper als Schau- und Kampfplatz rückt sie immer wieder in den Mittelpunkt ihres Schreibens, etwa in „L'événement“ (2000,"Das Ereignis"), das sich um eine illegale Abtreibung dreht, an der sie beinahe verblutet wäre. Eine Frau wird ungewollt schwanger. Sie ist 23 Jahre alt, stammt aus einer Arbeiterfamilie, lebt und studiert in Rouen, und wir schreiben das Jahr 1963. Abtreibungen sind in Frankreich per Gesetz verboten. Wer trotzdem selbst über seinen Körper und sein zukünftiges Leben bestimmt, wer sich aus welchen Gründen auch immer gegen das in ihm heranwachsende Kind entscheidet, dem droht eine Geld- oder Gefängnisstrafe.

Verblüffend ist, dass die Autorin keine Sekunde mit dem Gedanken spielt, dieses Kind, mit dessen Vater sie eine dahinplätschernde Fernbeziehung führt, zu bekommen: „In meinem Kalender steht ,es‘, ,das Ding‘, nur ein einziges Mal ,schwanger‘.“ Kühl klingende Sätze, die Ausdruck tiefer Verzweiflung sind. Ihr graust vor einem Leben als unverheiratete Mutter. Sie beschreibt dies nüchtern, erzählt so präzise, wie es ihre eigenen Erinnerungen erlauben, denen sie nachspürt. Vor schockierenden Details schreckt sie nicht zurück. Sie schildert etwa den erniedrigenden Spießrutenlauf auf der Suche nach jemandem, der sie von dem Fötus befreit. Statt ärztlicher Empathie dominiert die Arroganz weißbekittelter Männer, die auf Frauen wie Ernaux herabblicken. Schließlich versucht sie es selbst mit dicken, metallisch blauen Stricknadeln, aber der Schmerz lässt sie rasch aufgeben.

Über Umwege gelangt sie zu einer „Engelmacherin“ in Paris, die wie eine „Hexe“ aussieht und den Eingriff für 400 Francs in ihrem Schlafzimmer vornimmt. Erst nach einem zweiten Besuch stößt sie den Fötus ab. Sie verliert ihn im Studentenwohnheim, wie eine Granate schießt er aus ihr heraus. „Ich sah eine kleine Babypuppe an einer rötlichen Schnur aus meiner Scheide hängen. Ich hatte keine Vorstellung davon gehabt, dass ich so etwas in mir trug. Ich nahm es in eine Hand – es war seltsam schwer – und überquerte den Flur, indem ich es zwischen meinen Schenkeln hielt. Ich war ein Tier.“ Annie Ernaux, die bei dem Abgang viel Blut verliert, muss ebenfalls ins Krankenhaus, wo ihre Gebärmutter ausgeschabt wird. Die einzige Schuld, die sie je auf dieses Ereignis bezogen empfunden habe, schreibt sie, sei, dass sie aus dieser Erfahrung von Leben und Tod nichts gemacht habe – eine Schuld, die sie Mit diesem beeindruckenden Buch beglichen hat.

Die Jahre

In „Les années“ (2008, „Die Jahre“) erzählt Ernaux von dem, was sie im Titel verspricht: Von den Jahren ihres Lebens, den Jahren der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, den Jahren, die vergehen. Die Welt, in der die Erzählerin groß wird, ist eine, die so anders ist, als läge zwischen damals und heute mehr als ein Menschenleben. Die Arbeit ist hart und orientiert sich, wie der Alltag, an Jahreszeiten und kirchlichen Feiertagen. Wunden werden mit Urin desinfiziert, der Krieg ist gerade erst vorüber. Es ist dreckig, die Kindersterblichkeit hoch. Die meisten Menschen sind nie länger als 50 Kilometer gereist, Paris ist fern wie ein fremdes Land. Es ist eine langsamere, ruhigere Zeit: "Stille war unser Hintergrundgeräusch und das Fahrrad das Maß für die Geschwindigkeit unseres Lebens." In dieser Welt sind Familienerzählung und gesellschaftliche Erzählung eins. Beim Sonntagsessen werden Geschichten erzählt, "in denen keine persönlichen Erlebnisse vorkamen außer Geburten, Hochzeiten und Todesfälle".

In "Die Jahre" nimmt sich Ernaux diese Art der Erzählung zum Vorbild: Sie erzählt die Geschichte einer Generation, oder besser, der Frauen einer Generation, die viele Erfahrungen teilen. Gleichzeitig vermischt sie diese mit ihrer eigenen, sehr individuellen Geschichte. Wie sie der Welt ihrer Kindheit durch ihr Studium entwächst, ohne sie je so ganz hinter sich zu lassen. Wie sie seit ihrer Jugend vom Schreiben träumt, sich aber verliert, irgendwo, zwischen Arbeit und Familie. Und wie es ihr dann, als die Kinder aus dem Haus sind, doch gelingt. Sie möchte "so etwas Ähnliches wie ,Ein Leben' von Maupassant" schreiben, "ein Buch, das das Vergehen der Zeit in ihrem Inneren und außerhalb von ihr, in der großen Geschichte, beschreibt". Der Roman ist durchzogen von einer Melancholie und einem Gefühl von Verlust. Von Zeit, die nie mehr wiederkommen wird, von Personen, die gestorben sind, doch auch von einem jugendlichen Lebensgefühl, das einem irgendwie abhandengekommen ist.

Die Dinge ändern sich plötzlich und schnell. Auf den wirtschaftlichen Boom, der mit der Zuversicht einhergeht, dass all die neuen Dinge das Leben vereinfachen werden, folgt der Überdruss, der sich in der Kälte riesiger Supermärkte in trostlosen Gewerbegebieten manifestiert. Die Jahre einer sexuell unterdrückten Jugend, hin- und hergerissen zwischen "den Sticheleien der Jungen, Jungfrauen seien frigide, und den Vorschriften der Eltern und der Kirche", werden abgelöst von einer kurzen sexuellen Befreiung, die jedoch bald von neuen Ängsten erstickt wird. Die Perfektion hält Einzug ins Sexleben, der Körper muss schön sein. In den 90er Jahren sind Frauen "mehr denn je unter Beobachtung, ihr Verhalten, ihr Geschmack und ihre Wünsche wurden permanent kommentiert, mal besorgt, mal selbstgefällig".

Die Form, die Ernaux für ihr Erzählen wählt, ist ungewöhnlich. Stückweise gleicht sie einer Collage: Kurze Erinnerungen und Bilder lösen sich ab mit der ersten Person Plural, dem "Wir" der Geschichte der Frauen; und mit Ernaux' eigener Lebensgeschichte, die sie anhand von Fotografien in der dritten Person beschreibt. Auch wenn Ernaux auf diese Weise die Vergangenheit bewahren möchte, "etwas von der Zeit retten, in der man nie wieder sein wird", ist sie nicht nostalgisch. Es ist eine Tradition, die die Kinder langweilt und die erst mit dem Alter immer kostbarer wird, wenn Verwandte, die früher einmal dabei waren, in Erzählungen lebendig werden, und einem gleichzeitig bewusst wird, dass Zeit vergeht: "Wie das sexuelle Verlangen ist auch die Erinnerung endlos. Sie stellt Lebende und Tote nebeneinander, reale und imaginäre Personen, eigene Träume und die Geschichte." Dieses Buch ist der Versuch, das Erinnern in Worte zu fassen, damit eines Tages, wenn man "nur noch ein Vorname" sein wird, "von Jahr zu Jahr gesichtsloser", trotzdem etwas bleibt. Das Buch wurde ein großer Bestsellererfolg.

Das andere Mädchen

2011 veröffentlichte Annie Ernaux „L’Autre Fille“ („Das andere Mädchen“), einen Brief an ihre Schwester, die als sechsjähriges Kind, zwei Jahre vor der Geburt der Autorin, gestorben war. Der Brief an die tote Schwester, die sieben Monate vor Einführung der Allgemeinen Impfpflicht ungeimpft gestorben war, ist voller Selbstzweifel, eine Art Befreiungsschlag nach so langer Zeit. Aber auch ein Befreiungsschlag gegenüber der Mutter, gegen die sie ein Leben lang angekämpft hat, außer in deren Zeit der Demenz. Der Brief bleibt innerlich distanziert, sie schafft es nicht einmal, "unsere" Mutter oder "unser" Vater zu sagen. Den Vornamen der Schwester (Ginette) erfährt sie wiederum von einer Cousine, die Eltern sprechen ihn nie aus, auch sie selbst später nur mit großem Widerwillen, sie findet ihn altmodisch, lächerlich, aber auch irgendwie tabuisiert.

Die Eltern sagen ihr nie, dass es das Bett der toten Schwester war, in dem sie bis zum Alter von sieben Jahren geschlafen hat, dass es deren Schultasche war, mit der sie zur Schule gegangen war. Die Eltern haben diese Tochter für sich behalten, in sich verschlossen wie in einem Heiligtum, dessen Zugang ihr verwehrt war. Aber diese Tochter ist auch das, was die Eltern am tiefsten verbindet, sie alle Szenen miteinander und Enttäuschungen übereinander, auch den Mordanschlag, vergessen lässt. Später haben sie dann alle Erinnerungen mit ins Grab genommen, es gibt keine Anekdoten, keine überlieferten Sätze, keine Kinderszenen, nur Leere.

Erinnerung eines Mädchens

Mit „Mémoire de fille“ („Erinnerung eines Mädchens“) veröffentlichte sie 2016 ein weiteres autobiographisches Werk, in dem sie sich mit den im Sommer 1958 gemachten ersten sexuellen Erfahrungen und deren lebenslangem Nachklang beschäftigt. Sie erzählt, wie sie als Betreuerin in einem Feriencamp ihre ersten (schmerzhaften) sexuellen Erfahrungen macht. „Das große Gedächtnis der Scham“, schreibt sie, „ist sehr viel klarer und erbarmungsloser als jedes andere.“ Denn dieses Gefühl vergisst sich nicht. Der Spur dieser Scham folgt sie beharrlich, wenn sie mithilfe akribischer Archivarbeit ihr Herkunftsmilieu oder sich selbst als "das Mädchen von 1958" rekonstruiert, das sexuell benutzt und als "kleine Hure" denunziert wird und dennoch stolz ist, begehrt zu werden.

Als einer der älteren Betreuer, der aussieht wie Marlon Brando, auf einer Party ein Auge auf sie wirft, kann sie ihr Glück nicht fassen. Sie folgt ihm in ein Zimmer, in dem er sie brutal vergewaltigt. Hilf- und ahnungslos liefert sie sich aus, sie wehrt sich nicht. Und sie verliebt sich in diesen Mann, der schnell das Interesse an ihr verliert, sie demütigt, sich lustig macht über sie. Fünfzig Jahre danach fragt sie sich, wie sie von diesem Trauma erzählen soll. Anders als in „Die Jahre“, wo sie konsequent auf ein Erzähler-Ich verzichtet, gibt es hier ein schreibendes Ich. Das kommt selbstreflexiv, als gegenwärtige Instanz ins Spiel, wenn sie über Briefen, die sie damals an eine Freundin schrieb, grübelt, einem Tagebuch, wenn sie Fotos betrachtet. Wie eine Naturforscherin legt sie Schicht um Schicht frei, wohl wissend, dass sie den Seelenzustand eines Mädchens aus der Zeit, als Begehren und Verbot untrennbar zusammengehörten, nie ganz hinreichend zu rekonstruieren vermag, heute, da die „ungeheure Kraft“ solcher Redewendungen wie „seine Jungfräulichkeit verlieren“ den meisten abhanden gekommen ist. Diese Geschichte um eine lebenslange Scham wird in einer Sprache erzählt, die nüchtern, wuchtig, ohne Schlacken ist.

In einem Interview mit der TAZ meinte Annie Ernaux kürzlich: „Ich bin eine Frau, die schreibt. Das genügt mir. Ich arbeite beim Schreiben mit meinen eigenen, inneren Bildern, mit den Bildern meiner Erinnerung. (…) Dabei ist die Distanz einfach zu groß, schließlich ist seither unglaublich viel Zeit vergangen. Aber gerade diese Distanz erlaubt es mir natürlich, meine Erinnerungen in ein Narrativ zu verwandeln und zu verdichten. Im Zentrum steht dann eine Frau, die ich einmal war, aber heute nicht mehr bin, und das in einem Kontext, der ein anderer ist als mein gegenwärtiger. Das ist wichtig, dieser Abstand muss da sein. Über Dinge, die erst zehn Jahre zurückliegen, könnte ich vermutlich nicht so ohne Weiteres schreiben.“

Foto: (c) Heike Steinweg