Antje Rávik Strubel - Mit kühler Feder

Antje Rávik Strubel - Mit kühler Feder

Veröffentlicht am 03.04.2022

Julie August über die deutsche Schriftstellerin

Antje Rávik Strubel ist eine der renommiertesten deutschen Schriftstellerinnen der jüngeren Generation. 1974 in Potsdam geboren, studiert sie nach Abitur und Buchhandelslehre an der Universität Potsdam und der New York University Literaturwissenschaften, Psychologie und Amerikanistik. 2001 tritt sie erstmals als Schriftstellerin auf der größeren literarischen Bühne in Erscheinung mit ihrer Teilnahme an den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt.

Zur Jahrtausendwende wurde von alteingesessenen Literaturkritikern die Zeit der „literarischen Fräuleinwunder“ ausgerufen, da zu dieser Zeit zahlreiche jungen Autorinnen debütierten. In diesem Zusammenhang und diese Zeit fällt die Veröffentlichung der Debüts von beispielsweise Judith Hermann, Karen Duve, Alexa von Henning oder Julia Franck. Antje Rávik Strubels Texte taugen nicht zu raschen Etikettierungen und entziehen sich derartigen Zuschreibungen.

Für „Das Märchen von der selbstgewählten Entführung" erhält sie den Ernst-Willner-Preis, den zweithöchst dotierten im Wettlesen. Es ist die Geschichte einer jungen Fabrikarbeiterin aus dem ehemaligen Ostdeutschland und ihrer Beziehung zu zwei Männern. In dieser Erzählung finden sich zentrale Themen, die für Strubels Schreiben bis heute bezeichnend sind: sich stetig verändernde Verhältnisse und Beziehungen zwischenmenschlicher Natur, wandelnde Geschlechterverhältnisse, das damit verbundene Ungleichgewicht sozialer und politischer Verhältnisse vor allem zwischen Ost- und Westdeutschland und zuletzt auch dem Machtgefälle zwischen Ost- und Westeuropa und aus all dem heraus sich verändernde Identitäten und sich veränderndes Identitätsverständnis.

Ungefähr zur selben Zeit, als sie als Schriftstellerin in Erscheinung tritt, startet sie auch ihre Arbeit als literarische Übersetzerin. Sie übersetzt u.a. das Werk von Joan Didion und Lucia Berlin und arbeitet an Neuübersetzungen von Virginia Woolfs Texten. Im Herbst wird ihre Neu-Übersetzung von „To the Lighthouse“ erscheinen.

Strubel nimmt auch vor ihrer ersten Veröffentlichung eine wichtige Setzung vor. Ihr Name als Autorin wird um „Rávic“, das später zu „Rávik“ wird, erweitert. „Rávik“ steht für ihr schriftstellerisches Ich und soll den Unterschied zu ihrer bürgerlichen Existenz markieren. Dieses schreibende Ich oszilliert zwischen den Polaritäten des Lebens, entzieht sich Zuschreibungen und Kategorisierungen. Sie hält es mit Joan Didion: einer genauen Beobachterin, die präzise den gesellschaftlichen Diskurs wahrnimmt, den Verhältnissen auf den Leib rückt, ja ganz nahe kommt, aber stets in einer gewissen Distanz innehält, jedoch nicht ohne dabei ihren eigenen Standpunkt darzulegen. Auch Strubel versteht es, Beobachtungen mit sprachlicher Präzision in Geschichten und Bilder zu verwandeln, die Missverhältnisse aufzeigen und Selbstlügen offenlegen.

Naturlandschaften - Beziehungslandschaften

Bereits ihr Debüt „Offene Blende (2001)“ wird von der Kritik positiv aufgenommen. Anhand von Lebens- und Liebesgeschichten stellt sie die Frage, wie viel Befreiung aus der eigenen Prägung und Geschichte überhaupt möglich ist. Wie weit kann eine Identität abgeschüttelt und ein Neuanfang dadurch möglich werden? Christiane verlässt 1987 die DDR, eine Flucht aus der empfundenen Enge, auf der Suche nach Freiheit und Liebe. Nur den Mann, den sie im Big Apple heiraten will, um der ersehnten Freiheit ein Stück näher zu kommen, wird sie nicht treffen. Sie taucht nach ihrer Ankunft unter und lebt illegal in der Metropole, wo sie sich als Kellnerin durchschlägt. Sie begegnet Jeff, der sie inspiriert, sich mit ihren eigenen Wünschen und Sehnsüchten auseinanderzusetzen. So gründen die beiden selbstausbeuterisch eine experimentelle Theaterbühne. Strubel selbst hat während ihres Studiums einige Zeit in New York in der Off-Theaterszene als Beleuchterin gearbeitet. Nach der Wende, Mitte der 1990er Jahre, kommt die Fotografin Leah aus Westdeutschland nach New York. Als sie der geheimnisvollen und verführerischen Jo begegnet, ist sie sofort fasziniert. Aber die begehrte Frau verschwindet immer wieder und lässt sich von Leahs Kamera nicht einfangen. Die Suche nach Jo führt sie in ein Theater im Village. Bald stellt sich Leah die Frage, ob Jo und Christiane nicht ein und dieselbe Person sind. Die Offene Blende bezeichnet die größtmögliche Blendenöffnung eines Objektivs. Angegeben wird dabei das Öffnungsverhältnis.

Strubel geht in diesem Text auch der Frage nach wie gängige Rollenvorstellungen und auch Geschlechter-Stereotypen sich im Blick des Anderen auf sein Selbstverhältnis auswirken, aber auch wie das Erkennen Wahrnehmung und Bilder von sich und anderen verändern kann. Um Geschlechterverhältnisse, Polaritäten und Differenzen geht es auch in „Unter Schnee. Episodenroman“ (2001). Vera aus Westdeutschland und Evy aus Ostdeutschland treffen sich zum gemeinsamen Schiurlaub im tschechischen Harrachov. Doch die Schipisten und Liftanlagen des tschechischen Schiortes sind geschlossen. Ein Schneesturm wird angekündigt. Die Betriebsamkeit des Ortes kommt zum Erliegen. Die plötzlich entstehende zwangsläufige Nähe erzeugt bei den beiden Frauen naturgemäß bald Enge. Nach und nach entsteht ausgehend von der Beziehung und dem Verhältnis der beiden Frauen zueinander und aus den verschiedenen Perspektiven und Blickwinkeln wie der Pensionswirtin, Frau Beran, die vor 28 Jahren ihren Mann verloren hat, weil die Rettungshubschrauber alle zu militärischen Übungszwecken im Einsatz waren oder dem Postbeamten Erik M. Broda, der seine Chefin verachtet und die Postkarten der Feriengäste liest, ein Mosaik der Natur- und Menschenlandschaften. Eine vielschichtige Szenerie, die auch die damit verbundenen geopolitischen Bedingungen, den Beziehungsökonomien zwischen den beiden Frauen, den Bewohnern des Ortes und den Schitouristen und Feriengästen sichtbar macht.

Strubels Faszination für eisige Landschaften und den Wintersport wurde schon in der Jugend gelegt. Als Kind stand sie im Erzgebirge und im Thüringer Wald erstmals auf Schiern. Ihr Vater war begeisterter Sportlehrer und sie wollte als Kind selbst Schilehrerin werden. Sie liebt die Landschaften des Nordens, ihre Kälte und Rauheit. Es fasziniert sie die Schönheit dieser Kargheit und Einsamkeit, die sie je nach Stimmungslage in eine kristalline und klare Sprache fassen kann. Außergewöhnliche Naturlandschaften, die dort herrschenden Verhältnisse von Licht und Finsternis, Hitze und Kälte bilden immer wieder die Kulissen für ihre Romane. Über die Naturerscheinungen und Beobachtungen bildet sie die inneren Zustände und Verhältnisse ihrer Figuren ab. Zwischenmenschliche Dynamiken und innere Strukturen zeigen sich am Wechselspiel mit der Natur. Aggregatzustände geben Auskunft über die Intensität des Fühlens und Erlebens ihrer Figuren in den unterschiedlichen Landschaften. In einem Interview bekennt sie: „Ja. Ich brauche die Natur. Im Wald, im Park, auf dem Wasser zu sein, bringt mich auf neue Gedanken. Ich wohne zwar in der Stadt und habe auch lange in Berlin gelebt, aber ich bin von Berlin weggezogen, weil ich wieder den Nachthimmel sehen wollte. Landschaften inspirieren mich. Sie geben mir beim Schreiben Boden unter den Füßen. Der Geruch einer Kiefer, das wechselnde Licht auf einem See, ein Fjäll im Schnee erinnern mich ans Wesentliche“ (Der Standard).

In dreizehn Episoden stoßen ihre Protagonisten an innere und äußere Barrieren, die ihr Erleben und Denken verändern. Die Bruchlinien in der Beziehung zwischen Vera und Evy und der deutsch-deutschen Geschichte werden dort sichtbar, wo sie auf die Geschichten der anderen Figuren trifft und wo der Blick und die Beobachtung der Anderen auf deren Phantasien und Begehren verweisen. Auch treffen die Lesenden hier auch das erste Mal auf Adina, einem internetsüchtigen Teenager, der 2021 als junge Frau zur Protagonistin von „Blaue Frau“ wird. Strubel „blendet eigens ausgeleuchtete Momentaufnahmen so ineinander über, dass ein vieldimensionales Bild der Liebesbeziehung zwischen Vera und Evy entsteht. Und ganz nebenbei auch das Stimmungsbild eines postsozialistischen Dorfes, in dem dubiose Geschäfte abgewickelt werden und so mancher eine Spitzel-Vergangenheit hat“, so Charlotte Brombach (literaturkritik.de).

Im Literaturkritiker Denis Scheck findet die Autorin einen Unterstützer der ersten Stunde und so verwundert es auch nicht, dass der sehr konzeptionelle Text „Fremd Gehen. Ein Nachtstück“ (2002) in der von Scheck herausgegebenen Reihe bei Mare erscheint. Auf den ersten Seiten tarnt sich der Text als Krimi, wird aber zunehmend eine konstruierte Versuchsanordnung, um die Grenzen von Realität und Fiktion auszuloten und zu zeigen wie untrennbar Schreiben und Leben verwoben sind.

Auch in „Tupolew 134“ (2004) spürt sie den Grenzen zwischen Wahrheit, Lüge und Fiktion nach, ausgehend von einem Stück deutscher Geschichte. 1978 wurde die Tupolew 134 von einem Paar aus der DDR auf dem Flug Danzig-Schönefeld nach West-Berlin entführt. Die Entführung wird auch als ein Akt der Verzweiflung zweier Republikflüchtiger, verratener Menschen gelesen. Strubel zeigt an dieser Geschichte, was Verrat anrichten kann und welche politischen Konsequenzen diese Tat, auf die Wünsche und Sehnsüchte jenseits von Landesgrenzen und Grenzen von Konventionen zu leben und zu lieben, hat. Sibylle Birrer zeigt sich in ihrer Besprechung begeistert, wie präzise und poetisch zugleich die junge Autorin hier „ein Stück noch unverheilter deutsche Zeitgeschichte" (Neue Zürcher Zeitung) erzählt.

„Sie lebten wurzellos, sie versuchten das Beste daraus zu machen.“

Ein Feriencamp in Schweden bringt sehr unterschiedliche Menschen für einen Sommer zur gemeinsamen Arbeit zusammen. Es sind teilweise Gestrandete, für einige ist es nicht die erste Saison, beispielsweise für Ralf, einen ehemaligen DDR-Grenzsoldaten. Für Strubels Erzählerin Anja in „Kältere Schichten der Luft“ (2007) hingegen ist es jedoch der erste Job dieser Art. Sie lässt ihren eingefahrenen Alltag in Halberstadt hinter sich, um im Camp bei der körperlich anspruchsvollen Tätigkeit zu mehr Klarheit für ihre eigene Situation zu kommen. „Es sind nur wenige, beiläufige Andeutungen, die hier ein soziales und zeitgeschichtliches Vexierbild des Nachwendedeutschlands liefern“, so Helmut Böttiger in seiner Kritik (Süddeutsche Zeitung).

„Das Mädchen stieg langsam an Land. Sie kam das Ufer hinauf. Das Wasser, das ihr über das Gesicht rann, schien sie nicht zu spüren.“ Gleich am Beginn des Romans kommt es für Anja zu einer magischen Begegnung. Siri, wie diese elfenhafte, ja ätherische Erscheinung zu heißen scheint, löst eine tiefgreifende Irritation bei ihrer Erzählerin Anja aus. Ihr Erscheinen versetzt nicht nur die Erzählerin in Aufruhr, sondern ihr Auftauchen leitet auch Veränderungen in der bunt zusammengewürfelten Zwangsgemeinschaft ein. Nicht nur hält Siri Anja für Schmoll, ihren verschwundenen (toten) Freund, sondern Siris Erscheinung (mal mädchenhaft, mal fraulich) weckt Begehren und Begehrlichkeiten und verändert sie im Blick und den Projektionen der anderen.

Die Erzählkonstruktion ist auch hier wieder sehr anspruchsvoll und kompliziert angelegt. Luftspiegelungen, sich stetig verändernde Lichtverhältnisse, das Spiel von Licht und Schatten, Lichteffekte auf dem Wasser werden zu Stimmungsbildern der Seelenzustände der Menschen, kündigen innere Prozesse an, bilden seelische Prozesse ab, stehen für emotionale Veränderungen und sich veränderndes Erleben. Ihr Undine-Motiv wird sie auch im Roman „Blaue Frau“ weiterentwickeln. Siri ist Dreh- und Angelpunkt dieses Wandels an Begehren und sich verändernden Vorstellungen, Rollenverhältnissen und Identitäten. Sie fasziniert, irritiert, wirkt verführerisch, wird sexualisiert und bricht mit gewohnten Wahrnehmungen derer, die ihr begegnen.

In „Sturz der Tage in die Nacht“ (2011) ist es die Ornithologin Inez, die Erik bei seinem Ausflug auf eine schwedische Vogelschutzinsel in der Ostsee in den Bann zieht. Er ist Anfang zwanzig, Inez jenseits der vierzig. Auch Rainer Feldberg ist wegen Inez auf der Insel geblieben. Nach und nach wird für den Lesenden deutlich, dass die beiden eine gemeinsame Geschichte haben, die weit in die Vorwendezeit reicht. Den Roman versteht Strubel selbst als Fortschreibung und als Teil einer Roman-Trilogie, in der sie das Verständnis der Lesenden und die Lesarten von Leben und Liebe immer wieder in Frage stellt.

„Eure Begriffe machen euch blind.“

Ernest Hemingways „Über den Fluss und in die Wälder" und Carson McCullers' „Das Herz ist ein einsamer Jäger" sind wohl Paten für den Titel des 2016 erschienen Episodenroman „In den Wäldern des menschlichen Herzens“. Strubel: „Ich gehe beim Schreiben meistens von einer Frage aus, von etwas, woran ich mich reibe, das mich aufregt. Hier habe ich mich gefragt, warum eine bestimmte literarische Form, die Kurzgeschichte nach amerikanischem Vorbild, eigentlich immer mit den gleichen Figurenkonstellationen und Inhalten einhergeht. Es sind feste Männer-, Frauen- und Beziehungsbilder, die in der Kurzgeschichte endlos wiederholt werden. Das kleinbürgerliche, heterosexuelle Lebensmodell, aus dem es kein Entrinnen gibt, was beim Mann zu Brutalität, bei der Frau zu Depression und Selbstmord führt. Warum eigentlich? Ich wollte diese Form subvertieren“ (Aviva-Berlin.de).

Als Schauplätze fungieren beispielsweise der Sequoia National Park in Kalifornien, das brüchige Eis des Hudson Rivers vor Weihnachten in Manhattan, Finnland und ein Extremschilanglauf, die Wälder und Seen Schwedens, sowie die Orte an der Ostseeküste. „Die Aufbauanleitung einer alten Cheyenne-Indianerin aus dem Internet hatte ihnen geholfen, und so standen jetzt Cheyenne-Tipis mit schön gekreuzten, blanken Fichtenstämmen auf der Wiese und erinnerten daran, dass nichts und niemandem ein fester Platz auf der Welt vorbestimmt war.“

Im Zentrum einer jede Geschichte steht eine Paar-Konstellation. Die Erzählungen erstrecken sich über mehrere Jahre – immer wieder in anderen und neuen Konstellationen: Katja und René, René und Emily, Emily und Leigh, Leigh und Faye, Faye und Helen, Helen und Suse sowie Faye und Helen und Suse in einer Dreierkonstellation bis hin zu Katt (vormals Katja, die sich, technisch kühl ausgedrückt, einer „Generalüberholung“ unterzogen hat).

Katja, angehende Schriftstellerin und René, Barfrau in Berlin machen Urlaub in Skandinavien, um ihre Liebe wieder zu vitalisieren und scheitern dabei. Der Roman ist von einer melancholischen Grundstimmung getragen, sehnsuchtsvollen Suchbewegungen, vom Scheitern und Finden. Es ist auch ein hochkomplexes Spiel mit den verschiedenen Facetten von (Geschlechts-)Identitäten, Weiblich- und Männlichkeit. Da geschehen Grenzüberschreitung konkret negativ in sexuellen Übergriffen, auch positiv, indem eine Befreiung von Begriffen und Zuordnungen geschieht. Es verschieben sie kaum merklich Territorien im politischen Diskurs um Gender und Zugehörigkeiten. „Ich erschließe mir die uferlose Tiefe jenseits der Kartographie. Dort wo’s Koordinatenfreiheit gibt, sowas in der Art. Die Verlage werden es nicht mögen. Aber es gefällt mir. Es ist das Einzige, was ich schreiben kann“, lässt die Autorin René zu Emily in einer Bar sagen. René schreibt gerade an einem Reiseführer. Die Autorin selbst hat im Piper Verlag eine „Gebrauchsanweisung für Schweden“ und eine „Gebrauchsanweisung fürs Schifahren“ veröffentlicht.

Strubel setzt sich im Roman auch zentral mit der Frage nach unserem Begehren auseinander und führt über ihre Figuren unterschiedliche Positionen im derzeitigen Diskurs um Geschlechtsidentitäten ein. Ist unser Begehren präzise? Das dies so ist, lässt sie eine ihrer Figuren feststellen und nimmt damit auf ihre theoretische Auseinandersetzung mit der amerikanischen Autorin Judith Jack Halberstam Bezug, die das Konzept von „female masculinity“ (weiblicher Männlichkeit) entwickelt hat. Strubel konfrontiert die Lesenden mit Geschlechtsidentitäten, die nicht eindeutig fassbar sind. Halberstam selbst beschreibt in ihrem Buch unterschiedliche Männlichkeiten, die sich an und auf weiblichen Körpern abbilden. Kleidung fungiert beispielsweise dabei als Marker von Geschlechtsidentität, ohne dass der biologische Körper hormonell oder operativ angeglichen werden muss. Halberstam nimmt anders als andere Queer-Theorien an, dass Geschlecht etwas Fluides ist, heute mal als Frau, morgen als Mann oder sogar ganz ohne genaue Definition gefühlt und gelebt werden kann. Eine schöne und beängstigende Vorstellung zugleich, die jedoch nie ohne kulturellen und gesellschaftlichen Kontext betrachtet werden kann.

Am Beispiel von Katt in der letzten Geschichte des Episodenroman, der in der ersten Geschichte noch Katja war, verhandelt sie diese Fragestellungen. Katja Katts, ihre/seine geschlechtliche Identität ist fluide, ihr/sein Begehren nicht: Katja, wie auch Katt, ist mit einer Frau zusammen. Wenn geschlechtliche Identität modifizierbar ist – ist es das Begehren auch? In einem Interview präzisiert Strubel die Fragestellung noch einmal: „Sind Begehren und Verständnis der eigenen geschlechtlichen Identität gewissermaßen naturgegeben, verkörpern wir sie, haften sie uns als unveränderliche Größe an, oder scheint uns das nur wesentlich und unveränderlich, weil wir gelernt haben, so zu denken? Mir gefällt die Vorstellung, alles sei veränderlich. Mich schreckt das Konstante. Ich liebe das Spiel, und zwar nicht als Gegenteil von Ernst oder dem richtigen Leben, sondern die Vorstellung vom Leben als Spiel. Warum sollte es von uns nur einen Entwurf geben, und dem folgen wir dann brav bis ins Grab? Ist das nicht eine seltsame Vorstellung? Unsere Körper verändern sich. Unser Geschmack verändert sich. Unser Denken verändert sich. Warum sollten sich nicht unser Geschlecht und unser Begehren ebenfalls innerhalb eines Lebens ändern? (Es kann sich aber eben nur innerhalb dieses festen Rahmensändern)“ (Aviva-Berlin.de).

Dieser Episodenroman ist ein komplexes Geflecht an Referenzen und Leitmotiven, die bereits in anderen Texten entwickelt wurden und hier weitergedacht werden. Strubels Texte sind nicht einfach zugänglich und linear zu lesen. Vielmehr lädt sie ein, Episoden immer wieder zu lesen, an Passagen und Zitaten inne zu halten. Oder wie ein Literaturkritiker sagt: „Dieser Roman ist wie das Leben selbst: unendlich kompliziert und doch einfach herrlich“ (Andreas Platthaus, FAZ). Noch zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang der Band „Schlupfloch: Literatur“, der von Andreas Erb herausgegebenen Band ist versammelt verschiedene Lesarten und Subtexte in den Werken von Antje Rávic Strubel und literatur- und kulturwissenschaftliche Analysen ihrer Bücher. Er liefert politische und sozialkritische Lesarten und beleuchtet die Konstruktionen von Transgeschlechtlichkeit und „weiblicher Männlichkeit“ in Werken der Autorin.

Norman, eine ihrer Figuren hat ein Sámi gelehrt: „Man braucht Geduld mit der Natur, auch mit der menschlichen („In den Wäldern des menschlichen Herzens“). Diese Gelassenheit, Konsequenz, Disziplin und Sportlichkeit zeichnet die Autorin aus. Die das harte Brot der Übersetzung ebenso erfolgreich bewerkstelligt wie ihre eigene schriftstellerische Karriere. Dazu gehört wohl auch, wie sie in einem Interview sagt, sich an die „unterschiedlichen Temperaturen im Literaturbetrieb“ zu gewöhnen und sich auf diese einzustellen, um als literarische und intellektuelle Stimme gehört und ernst genommen zu werden.

Blaue Frau

Mit „Blaue Frau“ (2021) gelingt es Antje Rávik Strubel, in die Aufmerksamkeit einer breiteren Leserschaft zu rücken, denn sie wird dafür mit dem Deutschen Buchpreis 2021 ausgezeichnet. Der inhaltlich schwer wiegende, jedoch für den Lesenden leichter zugängliche Roman, handelt auf der erzählerischen Ebene von Adina einer jungen Frau aus Tschechien, die bereits aus „Unter Schnee“ als letzter Teenager eines tschechischen Schiortes bekannt ist: „Im Zuge der Übersetzung von ‚Unter Schnee‘ ins Englische fiel mir die Figur der Adina wieder auf. Eigensinnig, mit einem starken Kern, aber irgendwie verloren“.

Am Beginn des Romans sitzt Adina schnapstrinkend in einer Plattenbauwohnung in Helsinki. Wie ist es dazu gekommen? Nach Sprachferien in Berlin kehrt sie nicht mehr in ihre Heimat zurück. Sie lernt eine Fotografin kennen, die sie in die queere Berliner Szene einführt und ihr einen Job als Praktikantin in einem Kulturzentrum in der Uckermark verschafft. Dort wird Adina von einem westlichen Gönner der Kunstszene missbraucht. Sie flüchtet und landet in Helsinki, wo sie einen Job als Reinigungskraft in einem Hotel findet. Sie lernt den estnischen Politikwissenschaftler Leonides kennen, der im Gegensatz zu Adina als Repräsentant seines Landes von der europäischen Idee profitiert. Die beiden verlieben sich. Während er im Hotelzimmer wohnt und einen gemeinsamen Konzertbesuch plant, haust Adina einige Stöcke tiefer in einer kleinen Kammer. Bei einem Empfang, zu dem sie ihren Geliebten begleitet, steht sie plötzlich ihrem Peiniger gegenüber, woraufhin sie flüchtet. Es bleibt offen, ob sie ihn anzeigen wird und ob ihre Liebe zu Leonides eine Chance hat.

Für ein Writer-in-Residence-Programm wird Strubel 2012 an das „Collegium for Advanced Studies“ eingeladen und verbringt ein halbes Jahr in Finnland, in einem Plattenbau-Neubaugebiet in Helsinki, wo sie ihre Protagonistin sozusagen „hineingeschrieben hat“, wie sie ihn Interviews erklärt. Finnland fungiert geopolitisch als Schleuse, Verbindung zwischen Ost und West. So lässt sie Leonides auch sagen, dass sich in Helsinki skandinavisches Design und die slawische Seele treffen: „In Helsinki offenbarten mir Wissenschaftler*innen die Ignoranz des Westens gegenüber der baltischen, der osteuropäischen jüngeren Geschichte. Erst 1991, nach Abzug der Sowjets, konnte man hier anfangen, sich mit den faschistischen und stalinistischen Verbrechen auseinanderzusetzen, vorher war das Erinnern eingefroren. Es wird erwartet, dass sich alle nach dem westlichen Diskurs richten. Ich bin in der DDR aufgewachsen, das verbindet mich mit Adina und ihrem estnischen Geliebten“ (Der Tagesspiegel).

Auf der anderen Ebene des Romans tritt immer wieder die titelgebende „Blaue Frau“ in Erscheinung. Wer sie ist, woher sie kommt, wird bald für den Lesenden nebensächlich. Vielmehr schafft die „Blaue Frau“, die immer am Hafen, am Meer anzutreffen ist, die Möglichkeit bei der Lektüre innezuhalten, durchzuatmen, die teilweise schwer erträglichen Geschehnisse und Zustände zu reflektieren. Strubel selbst versteht, so sagt sie in einem Interview, diese poetischen Fragmente als eine Art Unterstützung der Erzählerin. „Die Blaue Frau gehört zu den Wasser- und Luftgestalten der Literatur. Sie steht für Verführung, Veränderung, Wandel. Sie könnte Adina in der Zukunft sein. Die Aussicht auf eine poetische Gerechtigkeit. Letztendlich entstammt sie der Sphäre des Irrealen. Denken Sie an das Undine-Motiv der Romantik. An die Protagonistin aus Bachmanns ‚Malina‘, die in der Wand verschwindet. An ‚Die Frau vom Meer‘ bei Ibsen“ (Der Tagesspiegel). Wieder erscheint hier eine Frau am Wasser, das schon aus anderen Texten bekannte Undine-Motiv bekommt hier noch einmal eine andere Intensität und Qualität. Die „Blaue Frau“ als „Drittes“ ermöglicht magische Momente, Momente der Ruhe und gibt Hoffnung. Sie steht für Klarheit und gleichzeitig an der Schwelle zwischen Bewusstem und Unbewusstem, am Übergang, steht für Transzendenz, aber auch für Dissoziation.

Die Buchpreis-Jury lobte den Roman für seine „existenzielle Wucht und poetische Präzision“ sowie als „Reflexion über rivalisierende Erinnerungskulturen in Ost- und Westeuropa und Machtgefälle zwischen den Geschlechtern“. In Vorbereitung auf das Romanprojekt wurden auch für Strubel im persönlichen Umfeld mehr und mehr Fälle von sexualisierter Gewalt deutlich. Auch den Autorinnen, die sie ins Deutsche übersetzt, ist dies widerfahren wie beispielsweise Lucia Berlin oder Virginia Woolf. Lucia Berlin wurde von ihrer Mutter psychisch und von ihrem Großvater sexuell missbraucht. Virginia Woolf wurde von ihrem großen Bruder missbraucht. Beim Schreiben bestand für Strubel die mühevolle und knifflige Aufgabe darin, nicht Gewalterfahrungen zu reproduzieren und die Sprachlosigkeit ihrer traumatisierten Protagonistin in einer Erzählung in Sprache zu bringen. „Deshalb war für mich relativ schnell klar, dass ich nicht direkt davon erzählen kann, sondern ich erzähle eigentlich von den Auswirkungen und lasse aber die Schilderung dieser Gewalt bewusst aus, um sie nicht auch noch zu potenzieren“ (rbb24). „(…) dass Geschichte nicht ohne Wirkung auf Körper und Geist bleibt“ (Virginia Woolf, „Vom Verachtetwerden oder Drei Guineen“). So kann Adinas Schicksal auch als Metapher für den Umgang des Westens mit dem Osten gelesen werden. So verhandelt der Roman eine Vielzahl von gesellschaftlich brennenden Themen und Strubel versucht, diesen Raum für ein „Sowohl-als-auch“ zu geben, was wohl auch die große Qualität dieses Buches ausmacht.

Es geht Strubel darum, zu zeigen, was große und kleine Verletzungen und Verunsicherung von Grenzen jeglicher Art anrichten können. Die unterschiedlichen und sehr individuellen Grenzverläufe unserer Wirklichkeitswahrnehmung, die mal Schock, Angst oder Irritation auslösen, aber auch die gesellschaftlichen und politischen Grenzen, die patriarchalen Strukturen, die gerade wieder verstärkt und gesichert werden. Sie zeigt aber auch, wie Geschlechterrollen und unser Begehren kulturell geformt und überformt sind. Wie Zuschreibungen und Stereotypen auch Übergriffe sein können und wie mit Sprache dagegengewirkt werden kann. Ihre Texte bieten Perspektivenwechsel an, richten sich an die Kraft der Vorstellung und wollen auch Wahrnehmungen und bewährte Sichtweisen erschüttern.

„Literatur entsteht langsam. Sie ist nicht die geeignete Form, um auf aktuelle Ereignisse zu reagieren. Ein literarisches Werk wird allerdings schneller politisierbar, je schwieriger die Situation eines Landes ist. Dann wird ein Buch gern aufs Politische hin gelesen. Und meine Stimme als Autorin kann ich nutzen, um öffentlich Stellung zu beziehen. Aber das Schreiben selbst muss unabhängig bleiben, darf sich nicht in den Dienst einer Sache stellen. Die Position der Schreibenden ist solitär, was im Kern natürlich auch eine politische Geste ist: ein solitärer Standpunkt entzieht sich den normativen gesellschaftlichen Diskursen und ermöglicht so eine andere Wahrnehmung des Zeitgeschehens. Literatur öffnet Räume, schafft Möglichkeiten, nicht zuletzt die Möglichkeit, sich in andere hineinzuversetzen, die meinem eigenen Leben fern sind. (…) Es gilt, mit kühler Feder zu schreiben, wie Virginia Woolf sagte“ (pnn.de). Hier steht sie in der Streitbarkeit den Autorinnen, die sie übersetzt, um nichts nach.

Foto: (c) Zaia Alexander