Brigitte Reimann - Zwischen dem Notwendigen und dem Schönen
Veröffentlicht am 10.11.2024
Ein Porträt der zu früh verstorbenen großen Autorin aus der DDR. Von Christine Hoffer.
Brigitte Reimann war eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen der DDR. Als sie 1973 mit nur 39 Jahren an Krebs starb, hatte sie einige wichtige Romane geschrieben, in deren Mittelpunkt oft Frauen und deren Drang nach Emanzipation stehen.
„Ich wurde am 21.7.33 in Burg bei Magdeburg geboren. Mein Vater, Willi Reimann, war Schriftleiter und ist jetzt, nach seiner Rückkehr aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft, Bankangestellter. Ich besuchte die Grund- und die Oberschule und machte im Jahre 1951 mein Abitur. Ursprünglich wollte ich Theaterwissenschaften studieren und Regisseur werden. Ich legte die Aufnahmeprüfung an der Theaterhochschule Weimar ab, musste aber bei Semesterbeginn wegen eines Unfalls, der mir die notwendige Schauspielarbeit unmöglich machte, vom Studium zurücktreten. Nach einem kurzen pädagogischen Lehrgang wurde ich Lehrerin an der Grundschule in Burg, wo ich zwei Jahre arbeitete. Da ich – inzwischen mit dem Maschinenschlosser Günter Domnik verheiratet – ein Kind erwartete und ständig krank war, verließ ich die Schule. Im Januar des Jahres wurde mein Kind geboren. Es starb noch am selben Tage. Nachdem ich jetzt wieder arbeitsfähig bin, bemühe ich mich um eine Anstellung im Buchhandel. Durch den Besuch entsprechender Schulen will ich mich zur Fachkraft auf diesem Gebiet qualifizieren.“
So beschrieb die 20-jährige Brigitte Reimann 1954 in einem Lebenslauf ihr bisheriges Leben. Nicht erwähnt sie darin, dass sie mit 14 Jahren an Kinderlähmung erkrankte und ein halbes Jahr auf einer Isolierstation zubringen musste, wo sie beschloss, Schriftstellerin zu werden.
Ankunft im Alltag
Ihre frühe Arbeiten waren noch getragen von einer Art beinah religiöser Gläubigkeit an die Ideen des sozialistischen Gesellschaftssystems. Bald schon aber erkannte sie, dass die Praxis nicht mit der Theorie bzw. Ideologie übereinstimmte: „Aber das wird sich schon geben, dafür zu sorgen ist nicht zuletzt Sache des Schriftstellers – ‚Humanität‘ heißt unsere große Parole“, notierte sie im Oktober 1955. Nach dem Erscheinen ihres ersten Prosabuchs „Der Tod der schönen Helena“ (1955) wurde sie mit der Erzählung „Die Frau am Pranger“ (1956), der Geschichte einer Liebesbeziehung zwischen einer jungen deutschen Frau und einem russischen Kriegsgefangenen, einem größeren Publikum bekannt. Im selben Jahr erschien auch die Erzählung „Die Kinder von Hellas“ über die Jahre des griechischen Bürgerkriegs am Ende des Zweiten Weltkriegs. 1960 folgte „Das Geständnis“, ein Buch über einen ehemaligen Hitlerjungen, der in den letzten Kriegstagen einen Deserteur auslieferte und damit die Schuld an seinem Tod trägt. Durch die Liebe zu einer Frau ermutigt, stellt er sich nach Jahren der Staatsanwaltschaft. Das Verfahren gegen ihn wird mit der Begründung eingestellt, dass er sich „als Staatsbürger der Deutschen Demokratischen Republik nicht nur loyal verhalten“, sondern aktiv beim Aufbau einer neuen Ordnung mitgeholfen hat.
Zu dieser Zeit zog Brigitte Reimann nach Hoyerswerda, wo sie bis 1968 wohnte. Während der Jahre in Hoyerswerda arbeitete sie im Kombinat „Schwarze Pumpe“ und aus dieser Tätigkeit heraus schrieb sie 1961 den Kurzroman „Ankunft im Alltag“, der sich mit den Erlebnissen dreier Abiturienten in einer Arbeiterbrigade beschäftigt. Obwohl sie nicht davor zurückschreckte, soziale und politische Konflikte aufzugreifen, überwiegt hier wie auch in ihren anderen Texten jener Zeit doch eine eindeutig unrealistische, harmonisierende Tendenz. So spricht aus diesem Roman die ungebrochene Überzeugung von der Durchsetzbarkeit eines funktionierenden sozialistischen Staates.
Sie erzählt die Geschichte dreier junger Leute, die sich entschlossen haben, vor ihrem Studium ein „praktisches Jahr“ in einer Fabrik zu absolvieren. Das ehrgeizige Waisenmädchen Recha, deren jüdische Mutter von den Nationalsozialisten umgebracht wurde, der großspurige Funktionärssohn Curt und der zurückhaltende, künstlerische begabte Nikolaus treffen sich in der „Schwarzen Pumpe“ und erleben dort den aufreibenden Alltag während der Stabilisierungsphase der DDR. Über die beruflichen Erfahrungen hinaus wird bei allen dreien ein Bewusstseinsprozess in Gang gesetzt, dessen Ziel von vornherein feststeht: die Integration in die sozialistische Gesellschaft. Über die bloße Handlung hinaus vermittelt der Roman jedoch einen beeindruckenden Ausschnitt sozialer Wirklichkeit in der DDR der späten 50er und frühen 60er Jahre. Das Buch hatte großen Erfolg und gab der sogenannten Ankunftsliteratur in der DDR den Namen.
Brigitte Reimann war in der Zwischenzeit in zweiter Ehe (1959–1964) mit dem Schriftsteller Siegfried Pitschmann verheiratet, mit dem sie mehrere gemeinsame Werke verfasste. In dem Braunkohlenkombinat, einer riesigen Anlage aus mehreren miteinander vernetzten Gaswerken, Kokereien, Heizkraftwerken und Brikettfabriken, arbeitete sie als Hilfsschlosserin in der Brigade und veranstaltete gemeinsam mit ihrem Mann Kurse und Workshops für die Arbeiter.
Die Geschwister
1963 veröffentlichte sie die längere Erzählung „Die Geschwister“. Wie die im selben Jahr erschienene Erzählung „Der geteilte Himmel“ von Christa Wolf kreist auch Brigitte Reimanns Buch um das Thema Republikflucht. Veranlasst durch die tatsächliche Flucht ihres Bruders nach Hamburg, spielt Reimann nachträglich fiktiv die Möglichkeiten einer geschwisterlichen Auseinandersetzung durch. Das Geschwisterpaar Ulrich und Elisabeth war von Kindheit an sehr eng miteinander verbunden. Als Ulrich nach dem Studium keine erwünschte oder angemessene Beschäftigung findet, will er, enttäuscht von der sozialistischen Wirklichkeit, die DDR verlassen.
Es beginnt damit, dass Uli Elisabeth erzählt, dass er vorhat auszuwandern. Die Spannungen nehmen zu und gipfeln in einer Szene des Verrats und seinen überraschenden Folgen. Elisabeths Erzählung wandert durch die Zeit, kehrt aber immer wieder zu der betreffenden Nacht zurück, in der sie und Uli ihre Frustration über die DDR teilen. „Man kann kein Omelett machen, ohne ein paar Eier zu zerbrechen“, zitiert Uli und fügt hinzu: „Aber ich möchte nicht das zerbrochene Ei sein, das mit Füßen getreten wird.“ Hinter dem Emigrationsdrama brodelt eine wichtige Nebenhandlung: Elisabeth entwickelt ihren eigenen kreativen Ehrgeiz und beschließt, in den Institutionen der DDR für ihr persönliches Fortkommen zu kämpfen. Hier ist spürbar, dass sicherlich auch Reimann darüber nachdachte, wie sie ihr sozialistisches Engagement mit ihrem Drang, Literatur zu schaffen, die sich wirklich mit ihr selbst auseinandersetzt, in Einklang bringen könnte. Letztlich setzt sie alles daran, ihren Bruder zum Bleiben zu bewegen. Ulrich lässt sich schließlich auch überzeugen. Der letzte Satz („Was seid ihr bloß für Menschen?“) zeigt jedoch die Halbherzigkeit seiner Entscheidung und die Entfremdung der beiden Geschwister.
Franziska Linkerhand
Im Jahr 1968 übersiedelte Brigitte Reimann nach Neubrandenburg, wo sie 1971 den Arzt Rudolf Burgartz (1943-2015) ehelichte (Brigitte Reimann war viermal verheiratet, von 1953-1958 mit Günter Domnik verheiratet, von 1959-1964 mit Siegfried Pitschmann, von 1964-1970 mit Hans Kerschek und von 1971 bis zu ihrem Tod mit Dr. Rudolf Burgartz). Seit 1968 arbeitete sie an ihrem Hauptwerk „Franziska Linkerhand“. Von diesem Roman, ihrem wichtigsten literarischen Werk, das sie nicht mehr beenden konnte, erschien erst 1998 erstmals die ungekürzte Fassung. In diesem großen Roman versuchte Brigitte Reimann die gesellschaftlichen, politischen und psychologischen Widersprüche darzustellen, mit denen sich eine ehrgeizige Architektin bei ihrem Eintritt in die Arbeitswelt konfrontiert sieht.
Franziska zieht nach einer gescheiterten Ehe mit einem Arbeiter in eine kleine Stadt, in der sie am Aufbau einer riesigen Wohnanlage mitwirken soll. Ihre hochtrabenden Pläne und ihr Neuerungswille werden durch die Trägheit der Bürokratie und den fantasielosen Pragmatismus der Verantwortlichen eingebremst. Desillusioniert, aber nicht resigniert, entscheidet sie sich, als sie die Wahl hat, in die Großstadt zurückzukehren und weiterhin an „ihrem“ Projekt zu arbeiten: „Es muss, es muss sie geben, die kluge Synthese zwischen Heute und Morgen, zwischen tristem Blockbau und heiter lebendiger Straße, zwischen dem Notwendigen und dem Schönen, und ich bin ihr auf der Spur, hochmütig und ach, wie oft, zaghaft, und eines Tages werde ich sie finden.“
Der Roman zeigt präzise die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR zu unterschiedlichen Zeiten. Die Geschichten der Menschen, denen Franziska Linkerhand im Laufe ihres Lebens begegnet, schildern die DDR-Gesellschaft von der Nachkriegszeit bis Anfang der 1970er Jahre. Da findet man ehemalige Zuchthäusler, die auf den Baustellen arbeiten und ihre Vergangenheit verschwinden lassen wollen, darunter ein ehemaliger Dozent für Publizistik, der zuviel Einblick bekommen hat, bis er es nicht mehr ertragen konnte zu schweigen. Oder die Sekretärin Gertrud und andere durch männliche Gewalt leidende Frauen. Und zum Beispiel auch Franziskas Vorgesetzter Schafheutlin, von ihr als „Rädchen“ beschrieben, „funktionierend, weil verzahnt mit anderen Rädchen, bescheiden, und zuverlässig, keinesfalls befugt ins Getriebe zu greifen“.
Für den Autor Clemens Meyer ist „Franziska Linkerhand“ eines der wichtigsten Bücher, die in der DDR geschrieben wurden: „Das ist ein Buch, das ich allen auch immer empfehle. Es gibt mittlerweile die letzte Fassung. Das durfte in DDR-Zeiten nur in einer fragmentierten Ausgabe erscheinen, weil es auch einfach unglaublich frei war. Ich habe selten so einen Freiheitswillen gespürt wie in diesem Buch. Die Zustände werden offen angesprochen, es geht um die Zeit 1945 bis in die 60er-Jahre, um die Aufbruchsstimmung, als man träumte von einem besseren Deutschland nach dem schlimmen Krieg, aber auch diese Träume enttäuscht werden. Es ist auch ein existenzielles Buch, es geht eben auch um die Liebe. Und das aus Sicht dieser Schriftstellerin, die eben viel zu jung gestorben ist. Ich verliebe mich jedes Mal aufs Neue in Franziska Linkerhand, wenn ich dieses Buch lese“ (Deutschlandfunk, 12.3.2019).
„Lebensgeschichte“
In ihren letzten Lebensjahren war Brigitte Reimann stark durch eine Krebserkrankung beeinträchtigt, an der sie im Februar 1973 im Alter von 39 Jahren in der Robert-Rössle-Klinik in Berlin-Buch starb. Kurz vor ihrem Tod schrieb sie an ihre alte Schulfreundin Veralore Schwirtz einen betroffen machenden beeindruckenden Brief, in dem sie ihr extremes Leben als eine „Lebensgeschichte“ Revue passieren lässt:
„Eine Lebensgeschichte, die sich vor drei Jahren noch gut und erfreulich angehört hätte; heute ist es eine Geschichte, über der stehen müsste: ‚Es war einmal –‘. Es war einmal eine höchst lebendige Frau, die zweimal ein Studium begann, zweimal den Hochschulen entlief, aus Rebellion gegen ihre Herren Lehrer, provisorisch Lehrerin wurde, während sie ihr erstes Buch schrieb (diese Frau am Pranger – Herrje, damals war ich beinahe noch ein Kind), eine Menge Männergeschichten hatte, eine Menge Dummheiten beging – die sie bis heute nicht bereut –, viermal heiratete, kein Kind wollte – was sie heute ein bisschen bereut –, weil sie Schreiben für wichtiger hielt, und die Kneipen und Luxusbars, Hinterhofwohnungen und die Villen der Prominenz kennenlernte; es war einmal eine Schriftstellerin, die zu früh und zu viel Erfolg hatte, manchmal hungerte und manchmal wahnsinnig viel Geld verdiente, einen Haufen Orden bekam und so ziemlich alle Literaturpreise, die hierzulande verliehen werden, an eine Große Sache glaubte und an einer Großen Sache zweifelte, sich nach fremden Ländern sehnte und nur die Nachbarschaft zu sehen bekam, Polen, Prag, Moskau – und allerdings das herrliche unvergessliche Sibirien, Baikalsee und die Taiga, und die in jungen Jahren verhaftet wurde und eingesperrt werden sollte, und die zehn Jahre später am Tisch von Walter Ulbricht Abendbrot aß, mal ganz unten und mal ganz oben war, mit berühmten Malern und Literaten verkehrte und als Hilfsschlosser in der Brigade im Braunkohlenkombinat arbeitete – kurzum: es war einmal, und es war gut so, und auch das Schlimme und Dreckige war in seiner Art gut.
Heute erinnern sich noch ein paar Leser, dass es mal eine B.R. gegeben hat; heute habe ich noch ein paar Freunde, auf die ich stolz bin, weil sie nicht nur zu den besten Schriftstellern unseres Landes zählen, sondern auch gütige Menschen sind (das geht nicht immer zusammen, wie ich früher dachte); heute schreibe ich unter Qualen an meinem ersten guten Roman, der wahrscheinlich auch mein letzter sein wird; […] sitze in einer Wohnung, die mit Tausenden von Büchern vollgestopft ist, mit kostbaren alten Möbeln und Uhren, sehe mich um und begreife allmählich, wie nichtig der Besitz ist, der uns einst besessen hat […]; heute gehe ich durch die Straßen, wo mir die jungen Männer nachpfeifen, wo die Leute spazieren, die so unverschämt, so beneidenswert gesund sind, trage einen Mädchenkörper mit mir herum und spüre bei jedem Schritt, wie dieser Körper von innen her zerfällt, wie der Tod geräuschlos und unaufhaltsam in den Wirbeln frisst, und während ich grüße und lächele, möchte ich brüllen vor Verzweiflung, diesen gesunden Menschen zuschreien, wie ungerecht es ist, wie entsetzlich ungerecht.“
Die Tagebücher
Ab 1997 wurde Brigitte Reimann mit der Herausgabe ihrer Tagebücher aus den Jahren 1955 bis 1963 unter dem Titel „Ich bedaure nichts“ im deutschen Feuilleton wahrgenommen wie ihr ganzes Schriftstellerleben nicht. Die zwei Bände der Tagebücher gelten als das eigentliche Hauptwerk von Brigitte Reimann. Geprägt von ihrem scharfen Verstand einerseits und ihrer Leidenschaft andererseits legt sie in ihren Eintragungen ungefiltert Zeugnis ab von der Lust und dem Leiden am Leben einer jungen Frau und Autorin und schildert eine ganze Epoche DDR-Geschichte. Sie sind unvergleichliche Dokumente, indem sie die DDR nicht als Konglomerat abstrakter Begriffe, sondern von innen zeigen, aus der Perspektive einer Frau, die sich von Ideen und Ideologie nicht ihre Erlebensfähigkeit nehmen lässt. Sie will ihr Leben in der DDR nicht auf die Absichten einer führenden Partei reduziert sehen. Und sie berichtet natürlich von ihrem Schreiben, ihren Männern und ihrem verzweifelten Kampf gegen den Krebs.
Mitunter erzählt sie in ihren Tagebüchern vom Glück, taumelnd zwischen Hochgefühl und Katastrophen, zwischen Hoffnung und Depression. Jene Menschen, die in jungen Jahren ihre große Liebe kennenlernen und ihr dann bis ans Lebensende treu bleiben, sind ihr fremd. Bisweilen vergehen nur wenige Monate, manchmal nur Wochen, da geht ihr ein gerade erst liebgewonnener Mann schon wieder ziemlich auf die Nerven, und sie ist bereit, sich wieder neu zu verlieben. Jenseits von Euphorie und Lebensfreude versinkt sie dann immer wieder in tiefste Verzweiflung, greift zu Alkohol und Tabletten. Das Tagebuch ist offensichtlich ihr engster Vertrauter und Verbündeter. Ihm vertraut sie ihr Liebesleid ebenso an wie ihre zunehmende Enttäuschung über die Verhältnisse in der DDR, ihre Schreibpläne und -probleme sowie Lese-Erfahrungen. Es ist kein Arbeitsjournal, sondern ein sehr persönlicher Bericht, verfasst zu ihrer Selbstvergewisserung und nicht für fremde Augen bestimmt.
Da sie alle früheren Notizen verbrannte, setzen die Tagebücher erst 1955 ein. Zu diesem Zeitpunkt beginnt sie gerade, sich von ihrem ersten, „falschen“ Ehemann zu trennen und lernt den Schriftsteller Siegfried Pitschmann kennen. Auch diese Verbindung hält nicht, wie auch zu ihren anderen späteren beiden Ehemännern: „Die große Liebe ist kaputt, ich sitze in einer fremden Stadt, ziemlich allein. Und ich bin nicht mehr jung, ich bin eine Amazone. Herrgott, und dieses Buch! Das wird ein hartes Stück Arbeit, über so viel Persönliches hinwegzukommen und eben ein Buch zu schreiben. Inzwischen muss ich mir immer wieder sagen: Ich habe eine literarische Figur geliebt. Übrigens hat mir Jon das schon vor einem Jahr gesagt. Ich erinnere mich, dass ich nach einer Auseinandersetzung [...] seine Worte aufgeschrieben habe, um sie später in meinem Buch zu verwenden. Der unschuldige Zynismus der Schriftsteller.“ Unerbittlich ist auch der gegen sich selbst gerichtete Blick der Schriftstellerin.
Die Tagebücher und der stark autobiografische Roman „Franziska Linkerhand“, der sie die letzten zehn Jahre intensiv beschäftigt, ergänzen sich, als ob es sich um ein literarisches Projekt mit unterschiedlichen Mitteln handle. Anfangs ist es oft eine Art Selbstbestätigung, die Verdrängung der sie nicht selten plagenden Minderwertigkeitskomplexe, die sie zum Schreiben bringt. Der durchaus kokette Ton, die oftmalige Beschreibung, welchen Eindruck sie gerade auf diesen oder jenen Mann macht (meistens einen großen) können darauf hindeuten. Doch mit den Jahren ragt immer deutlicher ein viel weitergehendes Motiv heraus: das literarische Festhalten der eigenen Lebensintensität, der immensen Lust am Leben, der sie schon früh die sich mit der Zeit immer mehr verdichtenden Todesahnungen entgegenhält. „Alles schmeckt nach Abschied“, so auch der treffende Titel ihrer späten Tagebücher der Jahre 1964 bis 1970. Dies alles macht die grandiosen Tagebücher von Brigitte Reimann – so wie ihr gesamtes Werk – zu einem einzigartigen Zeugnis eines ruhelosen, leidenschaftlichen Lebens, das zugleich auch den Geist und die Stimmung einer Periode der ostdeutschen Nachkriegsgeschichte einfängt.
Foto: (c) Aufbau Verlage