Brizzi, Paul & Gaëtan - Dantes Inferno
Veröffentlicht am 23.04.2024
Zeichnerische Aktualisierung eines Klassikers.
Die Brüder Paul und Gaëtan Brizzi sind bereits durch zahlreiche, nicht nur zeichnerisch beeindruckende Literaturadaptionen hervorgetreten: Nach Beschäftigungen mit Honoré de Balzac oder Boris Vian legen sie mit „Dantes Inferno“ nun ihre Auseinandersetzung mit Dante Alighieri vor. Dieser spätmittelalterliche Dichter und Denker ist einer breiteren Leserschaft vor allem als Verfasser der „Göttlichen Komödie“ bekannt, seiner gleichermaßen privat-spirituellen als auch höchst politisch aufgeladenen Reise durch Inferno, Fegefeuer und Paradies. In diesem Klassiker der Weltliteratur verbindet der italienische Gelehrte Sehnsucht mit Scholastik, kulturelle Referenzen mit den Kontexten einer erzwungenen Exilerfahrung. Dantes literarische Verhandlung seiner Gegenwart erschließt in der bewussten Hinwendung zur Volkssprache dabei nicht nur für das Italienische wortwörtliches Neuland, er betritt darüber hinaus auch als Protagonist die Wirklichkeit seines Textes: „Auf halbem Weg des Menschenlebens fand ich mich wieder in einem finsteren Wald…“ Im Rhythmus der Schritte tritt Dante seine Reise an, begleitet vom römischen Dichter Vergil, dem unverzichtbaren Reisebegleiter und Dialogpartner.Eine mitunter spielerische Abfolge aus Frage und Antwort treibt die beiden Dichter voran – denn ist der Weg durch die zerklüftete Höllenlandschaft einmal angetreten, kann es auch im Gespräch keine Umkehr mehr geben. Paul und Gaëtan Brizzi modernisieren ihre Adaption wohl auch deshalb vor allem auf der Ebene der Sprache, machen sich Strategien der Verdichtung und Verschiebung zu eigen: Das taktgebende Gespräch zwischen Dante und Vergil gerät dabei manchmal etwas flapsig, stimmig bleibt es aber fast immer. Nicht selten findet dieser Austausch auf schwarz gehaltenen Seiten statt, die den Strom bildstarker Eindrücke unterbrechen.
In diesen Momenten der Unsichtbarkeit hat die Sprache den Vorrang, auf den anderen Seiten tritt sie zumeist zurück – ist diese Adaption doch nicht nur ein Comic, sondern auch ein im besten Sinne illustrierter Klassiker: Die Brüder Brizzi orientieren sich in der grafischen Anlage ihrer aktuellen Veröffentlichung dabei klar an Klassikern aus der Bildenden Kunst. Viele ihrer detailreichen Zeichnungen erinnern wenig zufällig an Gustave Doré, Silvio Botticelli oder Giovanni Battista Piranesi, manchen Szenen auch an Eugéne Delacroix und William Blake. Damit setzen sie eine Tendenz der Eigenständigkeit der zeichnerischen Ausgestaltung von Dantes Werk im besten Sinne fort – ihr „Inferno“ kann also neben anderen Adaptionen durchaus bestehen. Und an interessanten Annäherungen, in denen Bildwelten und Strategien der Aktualisierung zentral sind, besteht im besten Sinne kein Mangel: Unter den neueren Nachdichtungen stechen die Arbeiten von Alasdair Gray, Philip Terry oder auch Ned Denny hervor, bei den zahlreichen Verfilmungen kommt man an experimentellen Positionen wie „A TV Dante“ von Peter Greenaway und Tom Philips oder Lars von Triers vieldiskutiertem „The House That Jack Built“ nicht mehr vorbei.
Dass Dantes Verhandlung von Zeit und Raum, die auch formal geradezu revolutionär ist, im Medium Comic seine Spuren hinterlassen hat, überrascht nicht: Die Arbeit der Brüder Brizzi reiht sich mit der zeichnerischen Aktualisierung eines im besten Sinne konservativen Stils neben so unterschiedliche Beispiele wie „Das Inferno“ von Michael Meier oder „Dante’s Divine Comedy“ von Seymour Chwast ein.
Thomas Ballhausen
Brizzi, Paul & Gaëtan - Dantes Inferno
Bielefeld: Splitter 2023. 152 S. - fest geb.: € 40,90 ISBN 978-3-98721-158-4