Claudio Magris - Ein Stück Holz im Fluss des Lebens

Claudio Magris -  Ein Stück Holz im Fluss des Lebens

Veröffentlicht am 09.11.2021

Von Peter Klein

Alles im Leben und Schreiben dreht sich bei Claudio Magris um Triest. Die Stadt, in die er geboren wurde und auch heute, über 80 Jahre später, noch immer lebt, ist für ihn eine Art Schicksal. Claudio Magris hat die Hafenstadt an der Adria zu unterschiedlichen Zeiten seines Lebens auf unterschiedliche Weisen erlebt. Zwischen dem multikulturellen Schlendrian der Donaumonarchie, der Zwangsitalianisierung unter Mussolini, Reibereien mit dem unmittelbar benachbarten Slowenien und dem jüngsten Zustrom von Migranten hat sich im Guten wie im Schlechten ein großes Reservoir an Erfahrungen für ein Miteinander und friedliches Nebeneinander der Kulturen angesammelt. Zum Schreiben begibt er sich am liebsten nach wie vor an seinen Stammplatz in das schöne, 1914 begründete Café San Marco in der Via Cesare Battisti, und beschäftigt sich nicht nur mit dem, was ihm vor der eigenen Tür zugefallen ist, sondern sucht als Reisender und Kosmopolit auch immer wieder nach entlegeneren Inspirationen.

Habsburg-Mythos

Der am 10. April 1939 geborene spätere Germanist begegnete als 14-Jähriger auf dem Gymnasium dem „Nibelungenlied“ und veröffentlichte bereits mit 24 Jahren seine auf Italienisch geschriebene Doktorarbeit (auf Deutsch 1966 erschienen: „Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur“). Sie machte ihn gleich in literarischen Kreisen bekannt und enthält die bis heute wichtigste und einflussreichste Theorie, die bislang zur modernen österreichischen Literatur entwickelt wurde. Den „habsburgischen Mythos“ konstituieren nach Magris grundsätzlich drei Elemente: Als ersten Teil sieht er die religiös aufgeladene Vorstellung eines im Zeichen einer höheren Idee gegründeten Reiches mit der Überlebenstaktik des defensiven Hinausschiebens und Sichtotlaufenlassens des Konfliktes („Das Fortwursteln, um einen Vielvölkerstaat zusammenzuhalten“). Das weitere Element bezeichnet die positive bürokratische Mentalität und Qualität der Monarchie. Magris greift dabei auf Hugo von Hofmannsthal, Robert Musil und Franz Werfel beziehungsweise auf das Leitmotiv des „theresianischen Menschen“ zurück und sieht die Donaumonarchie von einer „wenig fühlbaren, alle Spitzen vorsichtig beschneidenden Bürokratie“ verwaltet und bezeichnet als dessen verkörperte unbestechliche Dienstpragmatik den „Workaholic“ Kaiser Franz Joseph. Als drittes Grundmotiv ortet Magris den Hedonismus der habsburgischen Untertanen zwischen Oper, Theater, Tanzsälen, Wirts- und Kaffeehäusern mit der musikalischen Grundstimmung der „Fledermaus“. Der Habsburg-Diagnostiker Magris hat mit dem u.a. Grillparzer, Hofmannsthal, Musil, Bernhard, Werfel, Zweig, Roth, Bachmann oder auch die Menasses beeinflussenden „Mythos“ der österreichischen Literatur ein Eigenrecht (weg vom alpenländisch-exotischen Anhängseldenken) in der deutschen Literatur zugebilligt und gegeben.

Das Buch ist bis heute die wichtigste, einflussreichste Theorie, die zur österreichischen Literatur entwickelt wurde: ein Epochenbuch über eine sonderbare Epochenverschleppung, das frisch geblieben ist wie wenige. Magris zeigt, wie die Ideologie eines besonderen österreichischen Imperialismus in der Literatur vermittelt, festgeschrieben und gefeiert wurde. Es ist ein bescheidener, resignativer Imperialismus, made in Habsburg (so Sigrid Löffler).

1971 veröffentlichte er das Buch „Lontano da dove“ („Weit von wo“), das leider auf deutsch schon lange vergriffen ist. Es ist ein grandioses Panorama über Kultur, Literatur und Leben der jüdischen Schriftsteller Osteuropas. Sein Hauptprotagonist dabei ist Joseph Roth. Was Magris vor allem beschäftigt, ist die Spannung zwischen dem Schtetl und dem Reich, also das Ostjudentum in seiner spezifisch österreichischen Variante. Joseph Roth hat seine galizische Heimat nicht so sehr „verloren“, als er sie (wie so viele andere) verlassen hat, sobald es ihm möglich war, weil er nur fern von ihr ein deutschsprachiger Schriftsteller werden konnte. Soweit er sie später in der erinnernden Phantasie wiedergefunden hat, ist sie ein Stück der österreichischen Vielvölkerwelt, ist „östlich“ im slawischen und nicht nur im jüdischen Sinn. Joseph Roth hat „Kakanien“ verloren, weil es unterging; und er hat sich nach so viel verlorener Vergangenheit nicht durch den Glauben an den Sozialismus in die Zukunft einwurzeln können, obwohl er es versucht hat. Es lag nicht daran, dass er ein im Grunde unpolitischer Mensch war, sondern hat umgekehrt eher damit zu tun, dass er sehr früh die Entwicklung der Sowjetunion erkannt hat: Er, der „unpolitische“, hat mehr gesehen als die meisten „politischen“ Beobachter damals.

Nach Jahren an den Universitäten in Triest und in Turin, studierte er und entdeckte während seiner Auslandssemester in Freiburg im Breisgau eine zweite, von Schwarzwälder Schinkenduft und badischem Wein geprägte Heimat. Schon nach seiner ersten Professur in Turin gab er ihrem Ruf so oft wie möglich nach und berauschte sich an einem Breisgauer Flair, das bald von einer Passion für München ergänzt wurde. Die nationalsozialistische Besatzung der „Operationszone Adriatisches Küstenland“ hatte seiner Zuneigung nichts anhaben können, zumal er von seinem jüdischen Deutschlehrer auf die ganze Breite der deutschen Kultur gestoßen worden war. Bis zu seiner Emeritierung 2006 lehrte er moderne deutschsprachige Literatur, zunächst im sehr viel urbaneren Turin und später in seiner Heimatstadt.

Donau

Der literarische Durchbruch gelang Claudio Magris 1986 mit seinem bislang bekanntesten Werk, „Danubio“ („Donau“), einer literarischen Reise entlang des Flusses von der Quelle bis zur Mündung, in deren Vordergrund die multikulturelle Vergangenheit des Donauraumes steht. Seine Vision eines von Stacheldraht und Mauer freien und ungeteilten Mitteleuropas, die er in diesem Werk entwarf, wurde nur wenige Jahre nach dieser Veröffentlichung Realität. Diese oft falsch verstandene (Wieder-)Entdeckung Mitteleuropas bzw. der Donaumonarchie und die mehrfache zukünftige Brisanz seiner orakelhaft aufgegriffenen Themen hat ihm die Bezeichnung „Kolumbus von Triest“ eingebracht.

Ähnlich der Realität gewordenen Osteuropa-Vision Magris’ wurde sein schon 1963 zum „habsburgischen Mythos“ erfühltes bzw. diagnostiziertes habsburgisch-bürokratisches Wesen viel diskutiert und 2011 wissenschaftlich-statistisch nachgewiesen. Dabei transformiert der „habsburgische Mythos“ zum Habsburger Effekt. Dieser bezeichnet kurz zusammengefasst, dass ehemalige Institutionen noch nach mehreren Generationen durch kulturelle Normen fortwirken, insbesondere dass Menschen, die auf ehemaligem habsburgischem Gebiet leben, messbar mehr Vertrauen in lokale Gerichte und Polizei haben und wahrscheinlich weniger Bestechungsgelder für öffentliche Dienste zahlen.

Claudio Magris hat das Fortwirken des „habsburgischen Mythos“ in den Machtstrukturen des heutigen Europas gezeigt. Wie man den Kontingenzen des mitteleuropäischen Lebens einen Sinn abgewinnt, hat er in „Donau“ eindrucksvoll gezeigt. In einer Mischung aus Reportage, kultur- und geistesgeschichtlicher Abhandlung und literarischem Essay folgt er dabei dem 2857 Kilometer langen Fluss von der Quelle in Donaueschingen bis ins rumänische Mündungsdelta.

Im Verlauf dieser abschweifungsreichen Bildungsreise entsteht ein Stück einer sonst oft vergeblich eingeklagten verbindenden Erzählung eines Europas, das aus seiner Verschiedenartigkeit gerade in Zeiten wachsender Kleinstaaterei keine falschen Schlüsse zu einer Ausgewogenheit zieht. 2009 erhielt er nicht zuletzt für diese aus der Vergangenheit in die Zukunft weisende Vision mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels die höchste Auszeichnung seiner an Preisen reichen Karriere.

Triest

Ein unterhaltsamer und abwechslungsreicher Streifzug durch den Schmelztiegel der Kulturen am Mittelmeer ist das Buch „Triest. Eine literarische Hauptstadt in Mitteleuropa“, das er mit Angelo Ara schrieb. Triest, Hafenstadt am Adriatischen Meer, ist auf jeden Fall eine der literarischen Hauptstädte Mitteleuropas.

Die Namen vieler großer Schriftsteller wie Italo Svevo und sein generöser Förderer James Joyce sind mit der Stadt verbunden. Hier stand die Kaffeehauskultur in voller Blüte; in den Jahren 1863 bis 1902 existierten hier 560 Zeitungen und Zeitschriften in verschiedenen Sprachen. Triest war ein Schmelztiegel italienischer, deutsch-österreichischer, slowenischer, jüdischer und griechischer Kultur. Claudio Magris und Angelo Ara gönnen den Lesern einen abwechslungsreichen und unterhaltsamen Streifzug durch die kulturelle Vielfalt dieses ungewöhnlichen Ortes.

Die Welt en gros und en détail

Das 1997 erschienene Werk „Microcosmi“ („Die Welt en gros und en détail“) ist schwer festzumachen. Ist es ein Sachbuch? Ein Roman? Eine Autobiographie? Ein Reiseführer? Ein kulturhistorischer Essay? Schon in seinem großen Buch über die Donau, einer literarischen Reise von den verborgenen Quellen bis zur Flussmündung, hat Magris souverän alle Gattungsgrenzen überschritten. In seiner Prosa verbindet sich das Staunen des Kindes darüber, dass die Dinge überhaupt da sind, mit enzyklopädischer Belesenheit, Weltklugheit und der geschulten Beobachtungsgabe des leidenschaftlichen Flaneurs und Reisenden. Für ihn und die Leser des Donaubuches wurde der kontinentale Strom zum „alten Tao-Meister, der das Ufer entlang seine Unterweisungen über das große Lebensrad und die Zwischenräume in seinen Speichen erteilt“.

Nicht weniger lehrreich sind die Landschaften und Ortschaften, die Magris in diesem Buch porträtiert. Gemeinsam ist ihnen, dass es Orte sind, an die der namenlose Erzähler im Laufe eines langen Lebens immer wieder gern zurückkehrte. Die Reise beginnt in Triest, wo der Autor geboren ist und als Professor für deutsche Literatur lehrt, mit einer farbigen Innenansicht des Café San Marco, einem lebendigen Relikt der habsburgischen Herrschaft über die Hafenstadt an der Adria. Das Kaffeehaus bezeichnet zugleich die geistige Tradition, in die sich der Autor stellt: „In dieser Akademie wird nichts gelehrt, aber man lernt Geselligkeit und Ernüchterung. Man kann plaudern, erzählen, doch es ist nicht möglich, Versammlungen abzuhalten, Unterricht zu erteilen ... An diesen Tischen ist es nicht möglich, Schulen zu begründen, Lager zu bilden, Anhänger und Nacheiferer zu mobilisieren, eine Gefolgschaft zu rekrutieren.“ Das Bewusstsein der spurlosen Vergänglichkeit jeden Dinges, jedes Menschen, jeder Kultur nivelliert alle Hierarchien im menschlichen Zusammenleben, Denken und Wahrnehmen. Man kann das als Demütigung und Verlust empfinden, für Magris ist es der Schüssel zum Reichtum der Welt. Nur wer herkömmlich Unterscheidungen zwischen Groß und Klein, zwischen bedeutend und unbedeutend hinter sich lässt, kann erfahren, dass ein gelungener Vers eines Dichters ebenso viel wert ist wie eine gut geführte Osteria.

Magris erzählt von nahen Verwandten und von Bekannten, er porträtiert einfache Fischer und unbekannte Dichter, nimmt seine Leser mit auf eine faszinierende Fahrt über die Lagune bei Grado, führt sie in den tiefen Wald beim Schneeberg oder spaziert mit ihnen in den seit der Kindheit vertrauten Stadtpark neben seinem Stammcafé. In seinen Denkbildern erscheint alles gleich wunderbar, gleich wertvoll, selbst die Borniertheit mancher Zeitgenossen zeichnet er mit sanfter Ironie. Seine Prosa hat die Kraft, die Wahrnehmung seiner Leser zu entgrenzen. Legt man das Buch beiseite, sieht auch die eigene Welt staunenswerter und liebenswürdiger aus.

Blindlings

In „Alla cieca“ („Blindlings“, 2005) erzählt Claudio Magris vom Untergang der Illusionen und dem blinden Eingreifen des Schicksals: Der dänische Abenteurer Jorgen Jorgensen und der italienische Kommunist Salvatore Cippico waren in unterschiedlichen Jahrhunderten zu Hause. Beide haben für ihre Ideale gekämpft, beide sind von den Ideologen ihrer Zeit betrogen worden. Magris verknüpft ihre Schicksale zu einer fulminanten Reise über die Meere und durch die Weltgeschichte. Es spricht ein vielfach gespaltenes Ich in einer Nervenklinik bei Triest mit vielen Zungen, erzählt einem Arzt diese verschiedenen Tragödien aus zwei Jahrhunderten, vor allem zu zwei großen Themen, dem räuberischen Kolonialismus und dem brudermörderischen Kommunismus. Eine dieser Erzählstimmen gehört also dem italienischen Kommunisten Salvatore Cipicco, der gegen die Nazis gekämpft und Dachau überlebt hat, der nach dem Krieg von seiner Partei nach Jugoslawien geschickt wird, um dort den Sozialismus aufzubauen.

Nach dem Bruch zwischen Stalin und Tito gerät er in die Mühlen der Säuberungen und auf die adriatische Sträflingsinsel Goli Otok. Er entkommt, findet aber nirgends mehr eine Heimat und verliert 1991 den Verstand, weil seine sozialistische Utopie endgültig zerbricht. Claudio Magris, der immer der italienischen Linken nahestand und zeitweise für sie Senator war, versteht es auf souveräne Weise, in einem polyfonen Roman über den Schiffbruch des Kommunismus zu schreiben, über die Verbrechen im Namen der Ideologie.

Verfahren eingestellt

Magris’ zuletzt erschienener großer Roman „Non luogo a procedere“ („Verfahren eingestellt“, 2015) führt zurück in die konfliktreiche Vergangenheit von Triest und begibt sich auf die Spur des pazifistischen Exzentrikers Diego de Henrique. 1974 verbrannte er zusammen mit einem großen Teil seiner Militaria-Sammlung, deren Reste noch im „Civico Museo di Guerra per la Pace Diego de Henriquez“ zu sehen sind. Bei Magris versucht die fiktive Kustodin Luisa, Tochter einer italienischen Jüdin und eines afroamerikanischen GI, die Sammlung dieses „Vollständigen Museums des Krieges für die Ankunft des Friedens und die Entschärfung der Geschichte“, in dem ein Mann Kriegsgeräte aller Art gesammelt hat, die die Geschichten derer, die damit getötet haben oder getötet wurden, erzählen, aus Notizen zu rekonstruieren.

Luisa versucht es zu rekonstruieren. Dabei wird nicht nur die Geschichte ihrer Vorfahren zwischen Diaspora und Sklaverei wieder lebendig, sondern auch die von San Sabba, dem einzigen deutschen Konzentrationslager auf italienischem Boden, das es gab. Doch die Kraft des Vergessens erscheint ungeheuer: die Verbrechen wurden vertuscht, die Verfahren eingestellt. Gestützt auf eine wahre Geschichte hat Claudio Magris hier ein gewaltiges Epos geschrieben.

Seitdem ist viel Wasser die Donau hinabgeflossen und sein vielgestaltiges belletristisches und publizistisches Werk noch einmal beträchtlich gewachsen. 2016 erschien der Band „Istantanee“ („Schnappschüsse“) mit knapp 50 im Lauf der Jahre zusammengekommenen Prosaminiaturen. Beobachtungen des weltreisenden Intellektuellen zwischen Istanbul, Varanasi und Stockholm, Randnotizen aus den Lücken des Triester Alltags, moralische Betrachtungen des Zeitungslesers. So unscheinbar und offenbar schnell geschrieben die Texte sind, zeigen sie doch etwas vom physiognomischen Blick des Schriftstellers. Sie lenken den Blick auf Irritationen und Anomalien, die vielleicht nicht jeder auf Anhieb erkennt. Von lebensklugem Witz sind insbesondere die Schlaglichter auf das Miteinander von Paaren, das ihn besonders zu beschäftigen scheint. Darunter ist etwa ein Kommentar zur Trennung des Deutsche-Bank-Managers Hilmar Kopper von seiner langjährigen Frau zugunsten von Brigitte Seebacher-Brandt. Claudio Magris bedauert den Weltenlenker, der im Ehealltag offenbar nicht einmal über seine Abendessenszeiten verfügen durfte, mit einem Sarkasmus, der den mächtigen Manager ein für alle Mal aus seinem Himmel holt.

Entstanden ist das Buch natürlich wieder zu einem großen Teil, wie auch viele seiner anderen Werke, im Caffè San Marco in Triest: „Ich sitze und ich arbeite, ich lese und schreibe sehr gerne im Kaffeehaus aus vielen Gründen, erstens, weil ich nur die Sachen bei mir habe, die ich in dem Moment brauche um zu schreiben. Wenn ich bei mir zu Hause bin, schaue ich auf die Bücher im Regal, die viel besser und interessanter sind als das, was ich schreiben kann, und bin sofort zerstreut, und wenn plötzlich ein Sohn von mir kommt, interessiert er mich viel mehr. Im Kaffeehaus ist man konzentriert. Ich habe das Gefühl wie ein Schiffbrüchiger zu sein – der Tisch ist wie ein Stück Holz im Fluss des Lebens.“

Foto: Malin Hoelstad