Conrad, Joseph - Lord Jim
Veröffentlicht am 20.11.2023
Eine fesselnde Geschichte um Schuld und Scham, verletzten Stolz und verlorene Ehre.
Ein junger, hochempfindsamer Engländer ist zur Ausbildung auf einem Schulschiff der Handelsmarine. Angeregt durch die Lektüre von Unterhaltungsromanen durchlebt er die tollkühnsten Seeabenteuer. Im Geiste, unter Deck. Als es Jahre später jedoch wirklich ernst wird, da versagt er. Als Erster Offizier der Patna, eines alten Dampfers mit Hunderten Pilgern an Bord, flüchtet er sich nach einer nächtlichen Kollision als Letzter der Mannschaft in ein Rettungsboot und überlässt die Menschen ihrem Schicksal. Es ist reines Glück, dass sie überleben.
Warum ist er gesprungen, obwohl er doch als Einziger zunächst seiner Pflicht nachkommen und helfen wollte? Diese Frage steht im Zentrum des von Joseph Conrad um die Wende zum 20. Jahrhundert geschriebenen Romans „Lord Jim“. Auf rund 500 Seiten umkreist er die Problematik, ohne sie beantworten zu können. Jims Sprung ins Rettungsboot bleibt die geheimnisvolle Leerstelle, aus der das meisterhafte Werk seine Spannung bezieht. Am ehesten zu verstehen als Augenblickshandlung, halb bewusst, halb unbewusst: „Mir war, als ob ich in einen Brunnen gesprungen sei, in einen unendlich tiefen Schlund.“
Christian Brückner trägt die ungekürzte Lesung der im Malaiischen Archipel spielenden Geschichte um Schuld und Scham, verletzten Stolz und verlorene Ehre gewohnt cool und fesselnd vor. Der herausragende Vorleser begibt sich lustvoll in die Rolle des erzählenden Kapitäns, lässt in Jims Wesen die erstickende Beklemmung hörbar werden, verleiht den Schurken im Roman durch seine Stimme ihr Gesicht. In nur scheinbar langsamem Erzählfluss führt er die Geschichte atemberaubend und gleichsam eine unwiderstehliche Sogwirkung erzeugend bis zum Ende.
Simon Berger
Conrad, Joseph - Lord Jim
Roman. Gelesen von Christian Brückner. Frankfurt: Parlando 2023. MP3. € 39,95 ISBN 978-3-8398-7138-6