Das Bildnis des Oscar Wilde

Veröffentlicht am 05.02.2025
Ein Porträt des genialen Schriftstellers und brillanten Selbstdarstellers Oscar Wilde, zum 125. Todestag. Von Christine Hoffer.
Oscar Wilde war sicherlich einer der schillerndsten Autoren der Literaturgeschichte. Er prägte die englische Literatur mit seinem Stil, seinem Witz und der scharfzüngigen Kritik an der viktorianischen Gesellschaft in seinen Stücken und Texten. Ebenso schrill und dramatisch war auch sein Leben, das, geprägt von Ruhm und Skandalen, ein wahrhaft tragisches Ende fand.
Als Sohn des angesehenen Augen- und Ohrenarztes Sir William Wilde und der Dichterin Jane Francesca Wilde am 16. Oktober 1854 in Dublin geboren, zeigte er schon früh künstlerische Begabung. Diese wurde von seiner Mutter, die eine Anhängerin der irischen Unabhängigkeitsbewegung war und patriotische Gedichte unter dem Pseudonym „Speranza“ schrieb, gefördert. Sein Vater folgte ebenso seinen literarischen und wissenschaftlichen Interessen. Wilde machte bereits in jungen Jahren mit außergewöhnlichem intellektuellen Talent auf sich aufmerksam. Nach dem Besuch des Trinity Colleges in Dublin, das er mit herausragenden Leistungen in den klassischen Sprachen Griechisch und Latein abschloss, erhielt er ein Stipendium für das Magdalen College in Oxford, wo er sich dem Studium der Klassik und der Philosophie widmete.
An der Universität in Oxford fiel er sofort auf. Dafür sorgte schon seine stattliche Größe von etwa 1,90 Meter, was damals eine Besonderheit war, doch dazu hatte er sich eine Art dauerhafte Selbstinszenierung auferlegt. Hier wurde er von einer ästhetischen Bewegung beeinflusst, besonders von John Ruskin und Walter Pater, die Kunst um der Kunst willen propagierten („L’art pour l’art“). Die Hinweise auf seine irische Abstammung versuchte er zu tilgen und schloss sein Studium als Bachelor of Arts mit hervorragenden Examina ab.
Zwar wusste er nicht, was er beruflich damit anfangen sollte, doch auf jeden Fall war es ihm, so gab er sich überzeugt, als außergewöhnlichem Menschen verwehrt, „irgendwelche schreckliche Arbeit“ zu tun, „um Brot zu verdienen“. Die Aussichten auf eine literarische Karriere waren zwar nicht sehr erfolgversprechend, sie entsprachen jedoch noch am ehesten seinem Lebensmodell. In „De Profundis“ sollte er später schreiben, dass er die Universität mit dem Wunsch verlassen habe, nun das Leben voll auszukosten. Also war er Anfang 1879 nach London gegangen, um zu versuchen, als Schriftsteller und Kunstkritiker zu reüssieren. Das war auch nötig, denn schließlich musste er seinen Lebensunterhalt verdienen. Und aufgrund seiner exaltierten Art, seiner provokanten, unglaublichen Unterhaltungskünste gelang es ihm tatsächlich schnell, sich in der Londoner Gesellschaft zu etablieren.
Liebling der Londoner Gesellschaft
Er verbesserte weiter seine schauspielerischen Fähigkeiten und hatte riesigen Spaß daran, eine Art von moderner Variante eines Hofnarren zu spielen. Schnell machte er sich auch einen Namen als brillanter Geschichtenerzähler. Neben seiner überzeugenden Gesprächskunst nutzte er sein Talent, mit teurer, hochqualitativer und ausgefallener Kleidung auf der gesellschaftlichen Bühne aufzutreten. Befeuert durch seinen großen Erfolg in der Londoner Gesellschaft, beschritt er seinen Weg der exzessiven Selbstdarstellung konsequent weiter. Durch das betont Bedächtige, Beherrschte seiner Gesten und Bewegungen wirkte er geradezu orakelhaft und verlieh damit seiner Dandy-Attitüde weiteren Nachdruck.
Großen Erfolg bescherten ihm vor allem seine Gesellschaftskomödien, die mit feiner Sprachklinge die Doppelmoral, Scheinheiligkeit sowie gesellschaftliche Konventionen aufs Korn nahmen. Die Tragödie „Salomé“ (1891) schrieb er übrigens nicht in Englisch, sondern Französisch. Denn er sei „im Herzen Franzose, der Geburt nach aber Ire und von den Engländern dazu verurteilt, die Sprache Shakespeares zu sprechen“ (an Edmond de Goncourt, in einem Brief am 17.12.1891). Das Stück sorgte für einen Skandal, wurde zensiert und zum Teil als Bearbeitung eines biblischen Stoffs auch verboten. Die Darstellung der sexuellen Begierde Salomés hielt man für absolut untragbar. Heute gehört das Stück zu den klassischen Bühnenstücken und die darauf beruhende Oper von Richard Strauss zum Repertoire der Opernhäuser in der ganzen Welt. In „Lady Windermere’s Fan“ (1892, „Lady Windermeres Fächer“) beleuchtete er die viktorianische Moral durch die Geschichte einer Frau, die glaubt, ihr Mann betrüge sie.
„A Woman of No Importance“ (1893, „Eine Frau ohne Bedeutung“) kritisiert die Stellung der Frau in der Gesellschaft, während sich „An Ideal Husband“ (1895, „Ein idealer Gatte“) anhand einer Ehe und Liebe in der Londoner High Society mit Korruption und politischer Integrität beschäftigt. Sein bekanntestes Stück ist „The Importance of Being Earnest“ (1895, „Ernst sein ist alles oder Bunbury“), eine absurde Komödie um falsche Identitäten und die Leichtfertigkeit der gehobenen Gesellschaft, in der er abermals geistreich und ironisierend die Herren und Damen der Oberschicht und ihr parasitäres Leben infrage stellt. Wilde selbst betrachtete es als seine beste Komödie. Alle seine Dramen wurden begeistert aufgenommen und er war begehrt als Unterhalter und im Mittelpunkt stehender Gast in Gesellschaften.
Von André Gide auf seine literarischen Arbeiten angesprochen, soll er geantwortet haben: „Meine Stücke sind nicht gut, ich weiß, und das kümmert mich nicht … Sie sind fast alle das Ergebnis einer Wette. Auch Dorian Gray – ich schrieb das in ein paar Tagen, weil ein Freund von mir meinte, ich könne keinen Roman schreiben. Schreiben langweilt mich so sehr.“
Zur Abwechslung und um Geld zu verdienen, unternahm er eine einträgliche Vortragstour durch die USA. Im 30. Lebensjahr heiratete er am 29. Mai 1884 die 26-jährige Constance Lloyd, eine Kinderbuchautorin aus reicher Familie, und verbrachte mit ihr die Flitterwochen in Paris und Dieppe. Danach lebten sie im Londoner Stadtteil Chelsea und bekamen zwei Söhne, Cyril (1885–1915) und Vyvyan (1886–1967). Nach der Heirat unternahm er vom Oktober 1884 bis März 1885 eine zweite Vortragstournee durch England, Wales, Schottland und Irland, referierte dabei etwa über „Die Bedeutung der Kunst im modernen Leben“ und „Kleidung“ unter dem Gesichtspunkt der Schönheit.
Dorian Gray
Für einen Dandy durchaus typisch, hatte er trotz gar nicht so geringer Einnahmen stets riesige Geldprobleme. Seine Ausgaben für Kutschfahrten, Hotels, Restaurants, Dinners, Blumen und Geschenke waren immens. Sein Enkel Merlin Holland erklärte dazu: „Einen Tag, bevor Oscar verhaftet und ins Gefängnis geworfen wurde, ist sein ganzes Haus versteigert worden. Und zwar nicht, wie die meisten Leute glauben, wegen Queensberry. Sondern wegen Leuten, denen er Geld schuldete. Einige von ihnen hatten einen Pfändungsbefehl, und alles, was er besaß, wurde versteigert; alles, sogar die Spielsoldaten seines Kindes, sogar Manuskripte, die später in den USA, in Deutschland oder in Frankreich auftauchten. Alles wurde für einen sehr geringen Preis versteigert. Die gesamte Versteigerung hat, glaube ich, nicht einmal 200 Pfund erbracht. Alle Gegenstände, alle Objekte sind dadurch natürlich verschwunden“ („Das Oscar Wilde Album“, 1998).
Von 1887 bis 1889 war er für die „Pall Mall Gazette“ und danach als Herausgeber der Zeitschrift „Woman’s World“ tätig. Während dieser Jahre veröffentlichte er die für seine Söhne geschriebene Märchensammlung „The Happy Prince and Other Tales“ (1888, „Der glückliche Prinz und andere Märchen“) und den Roman „The Picture of Dorian Gray“ (1891, „Das Bildnis des Dorian Gray“).
In Oscar Wildes einzigem Roman besitzt der reiche und schöne Dorian Gray, die Hauptfigur, ein Porträt, das statt seiner altert. Während Dorian Gray immer maßloser und grausamer wird, bleibt sein Äußeres dennoch jung und makellos schön. Themen sind die Moralität von Sinnlichkeit und Hedonismus im Viktorianismus und die Dekadenz der englischen Oberschicht. Kritiker fanden darin einerseits autobiografische Elemente, andererseits eine direkte Antwort auf den französischen Symbolismus. Die psychologische Deutung greift mit dem Porträt das in der Literatur des 19. Jahrhunderts beliebte Doppelgängermotiv auf. Die von Dorian verdrängten Sünden zeichnen seinen gemalten Doppelgänger, mit dem er schicksalhaft verbunden ist. Die Analytische Psychologie in der Tradition C. G. Jungs sieht in dem stellvertretend für Dorian Gray alternden Porträt „eine Ausprägung des Schattenarchetyps, also der verdrängten negativen Züge einer Persönlichkeit“. In lacanisch-psychoanalytischer Lesart ist das Dachbodenversteck eine „Metapher für das Unbewusste und alterslose Schönheit die Antithese zu Kastrationsangst und Todestrieb“. Das psychische Krankheitsbild, das eigene Altern und Reifen nicht akzeptieren zu können, wurde im Jahr 2000 übrigens nach dem Roman als Dorian-Gray-Syndrom benannt.
Bekanntlich ahmt, so Oscar Wilde einmal, eher das Leben die Kunst als die Kunst das Leben nach. Und so erlebte er seinen Roman gleichsam in verschärfter Form am eigenen lebendigen Leib. „Dorian Gray“ handelt nämlich unter anderem auch von einer Sache, die im viktorianischen Großbritannien als schweres Verbrechen galt und bis 1967 unter Strafe stand: Homosexualität. Das Buch wurde zum Skandal, sodass Wildes Ehefrau Constance klagte: „Seit Oscar Dorian Gray geschrieben hat, spricht niemand mehr mit uns.“
Der bisexuelle Oscar tummelte sich mittlerweile mit einem jungen Lord namens Alfred Douglas, genannt Bosie, der nicht nur behauptete, er habe „Dorian Gray“ neunmal gelesen, sondern der selbst daraus entsprungen zu sein schien. Er war schön, schwul und schlagfertig, erst 21 Jahre alt und kannte sich in der sexuellen Halbwelt bereits besser aus als der 37-jährige Wilde, der sich in Bosie verliebte. Damit begann die wahrlich unheilvolle Vermischung von Leben und Kunst, von Traum und Realität. Auf die Liebesaffäre nach Romanvorlage folgten der Prozess zum Stück sowie eine bühnenreife Katastrophe wie in einer klassischen Tragödie. Oscar Wildes Untergang begann mit seiner Bekanntschaft zu Bosie, in den er sich verliebte – und der ihn nach Strich und Faden ausnutzte.
Der Untergang
Das Verhängnis begann mit einer Visitenkarte von Bosies Vater, dem Marquess of Queensberry, der an der Vorstellung schier wahnsinnig wurde, dass sein Sohn mit dem halbseidenen Schriftsteller und Dandy Unzucht trieb. Einmal tauchte er plötzlich in Wildes Haus auf und drohte ihm Prügel für den Fall an, dass er ihn je wieder mit Bosie irgendwo sehen sollte. Daraufhin zeigten sich Wilde und Bosie, der seinen Vater hasste, besonders oft in der Öffentlichkeit und legten es darauf an, durch ihr Benehmen zu provozieren.
Am 18. Februar 1895 nachmittags um halb fünf stürmte der Marquess of Queensberry in Oscar Wildes Londoner Club und hinterließ, da er den Dichter nicht antraf, eine Visitenkarte mit einer groben Beleidigung: „For Oscar Wilde, posing Somdomite“ (er meinte natürlich Sodomite, also Knabenschänder, doch in seiner Wut war ihm wohl die Orthografie abhandengekommen). Die Wirkung der Karte ließ auf sich warten, Oscar Wilde erhielt sie erst zehn Tage später, bei seinem nächsten Clubbesuch.
Doch dann beging er den folgenreichen Fehler, darauf zu reagieren, und stellte gegen den Marquess of Queensberry einen Strafantrag wegen Beleidigung. Das Verfahren begann am 3. April im Londoner Justizpalast Old Bailey und endete mit Queensberrys Freispruch, der nun selbst umgehend Anzeige gegen Oscar Wilde erstattete. Die Zeitungen ließen sich gegen den Dichter aus, dessen Theaterstücke wurden abgesetzt – und Oscar Wilde musste ins Gefängnis. Zwei Wochen darauf begann dann der zweite, von Bosies Vater angestrengte Prozess, in dem es um Beweise für die gesetzeswidrigen Sexualhandlungen ging. Queensberrys Anwalt (ein Oxforder Studienkollege von Wilde) ließ eine ganze Reihe von Strichjungen auftreten, die, wie sich später herausstellte, von Queensberry bezahlt worden waren.
Da sich die Geschworenen nicht einigen konnten, kam es noch zu einem dritten Prozess, den man leicht hätte vermeiden können, da die Justiz nicht verpflichtet war, den Fall weiterzuverfolgen. Doch Queensberry setzte den Staatsanwalt unter Druck und auch Bosie tat alles, um das Feuer weiter anzufachen. „In Deinem hasserfüllten Krieg gegen Deinen Vater war ich Euch beiden Schild und Waffe zugleich“, sollte Oscar Wilde später in dem berühmten Brief aus dem Gefängnis schreiben, der unter dem Titel „De Profundis“ als Buch erschien.
Doch auch Oscar Wilde selbst wollte nicht klein beigeben, hatte er doch mit einer tatsächlichen Möglichkeit seiner Verurteilung nie gerechnet. Aber der Schock, das Unmögliche folgte: Er wurde schuldig gesprochen und zu zwei Jahren Zuchthaus mit Zwangsarbeit verurteilt. Das prüde, bigotte und brutale England hatte über den arroganten, provokanten und perversen Dandy mithilfe eines Richters gesiegt, der diesen Fall den widerwärtigsten nannte, den er je zu verhandeln gehabt hätte. Wilde war ruiniert – finanziell, moralisch und körperlich. Seine Frau musste mit den Kindern vor der Schande fliehen; um in Schweizer Hotels überhaupt Aufnahme zu finden, nahm sie den Namen Holland an.
Die Festungshaft ruinierte Wildes Gesundheit. Danach verließ er England endgültig. Mit der Hilfe einiger Gönner ging er nach Paris: „Die Stadt war in décadence von ihrer Zeit geprägt, aber andererseits war sie auch eine Stadt in Aufbruchsstimmung. Wilde kam in diesen Abgrund Paris, erholte sich hier aber auch, denn hier gab es eine ganz neue Bewegung. Er selbst hatte nie so wenig Geld, wie er andere hat glauben lassen. Er hatte gewisse Einkünfte, auch Bosie, sein Ex-Liebhaber, steckte ihm ab und zu etwas zu, sein Freund Robert Ross kümmerte sich darum, dass ihm bestimmte Zahlungen doch noch zukamen. Das war nicht sehr viel, aber er lebte auch in Saus und Braus, er hat sich nicht zügeln können; er hat zwar in ganz einfachen Hotels gewohnt, ist aber mehr oder weniger wie ein Pascha durch die Gegend gelaufen, er hat seine Gesundheit vernachlässigt und ist anderen wie eine Chimäre erschienen. Es gibt diesen sehr schönen Aufsatz von Hofmannsthal, der relativ kurz nach Wildes Tod geschrieben worden ist, in dem steht, Wilde habe sich nicht nur für das Schöne und Ästhetische interessiert, sondern ebenso für das Böse und Hässliche, also all jene Kategorien untersucht, die für das 20. Jahrhundert so bedeutend wurden. Das war für ihn genauso wichtig wie die Proklamation des Schönen“, so Jens Rosteck in seinem Buch über Oscar Wildes Jahre in Paris („Die Sphinx verstummt“, 2000).
Oscar Wilde überlebte seine Verurteilung nur um fünf Jahre. Am 30. November 1900 starb er im Hôtel d’Alsace in Paris im Alter von nicht ganz 46 Jahren. Beigesetzt wurde er am 3. Dezember in Bagneux, doch 1909 wurden seine sterblichen Überreste auf den Pariser Friedhof Père Lachaise in ein Ehrengrab überführt. Nun ruht der geniale Schriftsteller und brillante Selbstdarsteller, der das Dandytum noch einmal so wirkungsvoll wiedererweckt hatte, in der Nachbarschaft seines großen Anregers Charles Baudelaire.
Foto: Wikipedia gemeinfrei