David Grossman - „Wir haben die Sprache des Friedens vergessen“

Veröffentlicht am 15.05.2025
Ein Porträt des israelischen Autors David Grossman. Von Karin Berndl.
David Grossman ist heute der bekannteste Autor Israels und das ‚moralische Gewissen‘ seines Landes. Seine schriftstellerische Haltung hat Güte und Liebe als Grundton, will aufzeigen und erkennen. Dass dieser Zugang gleichzeitig auch Klarheit und Härte fordert, die äußerst unangenehm werden können – das mutet Grossman seiner Leserschaft denn auch immer aufs Neue zu.
„‚Stichwort: Liebe‘ ist ein Buch über eine verloren gegangene Geschichte, eine in Fetzen gerissene Geschichte. In dem Buch gibt es viele solcher Geschichten, die man immer und immer wieder erzählen muss, weil dies die einzige Art ist, die Trümmer der Identität zusammenzuflicken, die Splitter der zerfallenen Welt wieder zusammenzufügen“, schreibt David Grossman über den Roman, der als Schlüsselwerk gelesen werden kann und für den Autor den Durchbruch im englisch- und deutschsprachigen Raum bedeutet hat.
Geboren wird er am 25. Januar 1954 in Jerusalem und er wächst in einem Haus mit achtzehn anderen Familien auf, die herrschende Vielstimmigkeit wie auch die stetig präsenten Vernichtungsängste und Fluchterfahrungen der Bewohner prägen ihn von früh an. Mutter Michaella wird 1933 im britischen Mandatsgebiet geboren, Vater Yitzak emigriert mit seiner Mutter und seinem Bruder 1936 vom polnischen Dynów ins britische Mandatsgebiet.
Die Geschichten des Schriftstellers Scholem Alejchem sind David Grossmans Tür zur Welt der jiddischen Literatur: „Von dem Moment an, in dem ich jenes Land betrat, gab es kein Zurück mehr. Ich war acht Jahre alt und verschlang in ein paar Monaten alle Bücher von Scholem Alejchem, die es damals auf hebräisch gab […] Zwischen dem achten und zehnten Lebensjahr führte ich sozusagen ein Doppelleben, von ‚hier‘ nach ‚dort‘ und umgekehrt. Ich lebte intensiv in beiden Welten.“
Zwischen „Hier“ und „Dort “, der politisch und gesellschaftlich brisanten Gegenwart und den schmerzhaften, verdrängten Erfahrungen der Vergangenheit, den Schicksalen und Verlusten öffnet Grossman seinen literarischen Erlebnisraum: Diese vergangene Welt „gab meiner bis dahin ungeahnten Sehnsucht, einem regelrechten Hunger, eine Sprache“ („Die Kraft zur Korrektur. Über Politik und Literatur“, Hanser, 2008).
„Momik“, der erste Teil von „Stichwort: Liebe“ , handelt von der Kindheit Shlomo Neumans, der 1959 in Jerusalem aufwächst. Eines Tages wird ein alter Mann vor dem Haus seiner Eltern abgeladen. Es ist Anschel Wassermann, sein Großonkel, den er als Großvater annimmt und dessen Lebensgeschichte später im Roman erzählt wird. Der heranwachsende Junge findet Zuflucht in der Welt der Bücher. Er fantasiert sich sein eigenes Bild von „Dort “, der verschwiegenen und ständig sich in der Mitte befindlichen Erfahrungen des Holocaust. Über die Geschichten von Menachem Mendel und Tuvia, dem Milchmann, findet er Zugang zu dieser in Teilen vergessenen Welt. Momiks Begeisterung für diese literarischen Gestalten steckt schließlich auch den schweigsamen Vater an: „Sie lasen diese Geschichte von Scholem Alejchem in der Schule, und Momik fühlte etwas sehr Starkes dabei und beschloss nach dem Abendessen ganz beiläufig etwas darüber zu sagen. Da öffnete der Vater plötzlich den Mund und fing an zu reden! Er sagte ganze Sätze, und Momik hörte zu, und ihm kamen fast die Tränen vor Freude.“ Der Vater beginnt, vom Schtetl seiner Kindheit und Jugend zu erzählen.
Gute Geschichten berühren, bewegen, trösten und wecken auch den Wunsch, selbst zu schreiben. Im zweiten Kapitel „Bruno“ ist Momik selbst zum Schriftsteller geworden. Am 25. Mai 1980 bekommt er „Die Zimtläden“ von Bruno Schulz geschenkt und dieses Buch wird nachhaltig sein Schreiben prägen. Das Kapitel ist als eine Ehrung an den Autor zu lesen und stellt für Grossman das Kernstück seines Romans dar. Das kurze Leben von Bruno Schulz steht beispielhaft für die Grausamkeit der Schicksale einer ganzen Generation.
Kapitel drei, „Wassermann“, berichtet von Anschel Wassermanns wundersamem Überleben des Vernichtungslagers, während seine Verwandten vor seinen Augen ermordet werden. Die Erlebnisse interferieren auch mit überlieferten Erfahrungen von Bruno Schulz im Drohobyczer Ghetto. Der vierte und letzte Teil „Das Lebens Kasiks“ besteht aus einer Enzyklopädie, die alle wichtigen Ereignisse im Leben eines Menschen erfassen soll. Von Aufstand, der Einsamkeit, Fremdheit, den Gefühlen über Hochzeit, Katastrophe, Lebensfreude, Märchen, Verrat bis hin zu Wunder reichen die Begriffe. Mit diesem großen Roman bricht David Grossman mit einem Tabu und führt die Schoah in die israelische Literatur ein. Sein Mut wird mit Erfolg und Anerkennung belohnt und markiert den Beginn einer internationalen Schriftstellerkarriere. 1989 erhält er als zweiter Preisträger den Mount Zion Award, der für die kulturelle und interreligiöse Verständigung von Judentum, Christentum und Islam im Friedensprozess in Nahost verliehen wird.
Ein Heranwachsen unter ständigen Krisen und Kriegen bestimmt Grossmans Leben in Jerusalem von Anbeginn. Den Sechstagekrieg 1967 erlebt er als Kind – und nicht nur die repressive Stimmung im Land wandelt sich ins Gegenteil, sondern auch die politische Einstellung seiner Eltern, die sich zunehmend der politischen Rechten zuwenden. Das Überlegenheitsgefühl der „Gewinner“ und die weiter steigende Wut und der Hass der arabischen Bevölkerung und der Nachbarstaaten gegenüber Israel beschäftigen ihn schon früh. In der Schule hat er Arabisch-Unterricht und versucht über die Literatur und die Sprache die „Feinde“ zu verstehen. Trotzdem seine Frau einer kommunistisch geprägten Familientradition entstammt, vertritt Grossman lange auch einen rechten Standpunkt, den er erst einige Jahre vor dem Libanonkrieg revidiert. Er studiert Philosophie und Theater an der Hebräischen Universität in Jerusalem und arbeitet als Korrespondent und Moderator für die israelische öffentlich-rechtliche Hörfunkanstalt Kol Israel, für die er eine bekannte Kindersendung verantwortet.
1987 bereist Grossman das Westjordanland, um sich selbst ein Bild der Lage zu machen. Das Ergebnis dieser Reise wird der Bericht „Der gelbe Wind. Die israelisch-palästinensische Tragödie“ (Kindler, 1988). Er geht darin hart mit der israelischen Politik und Gesellschaft ins Gericht, kritisiert aber immer auch gleichzeitig die Palästinenser und ihre Führung. Nach Erscheinen des Buches wird er vom Radiosender entlassen, weil er Jassir Arafats Anerkennung der Zweistaatenlösung nicht verschweigen will. Der Fall wird vor der Knesset behandelt, worauf ihn der Radiosender wieder einstellt. Von einer Auszeit kehrt er dann nicht mehr in den Job zurück, sondern widmet sich fortan dem Schreiben und wird mit seinen Texten zum Friedenstifter und Vermittler zwischen den verhärteten Fronten im Nahen Osten.
Das Lächeln des Lammes
In Grossmans frühem und viel beachtetem Roman „Das Lächeln des Lammes“ (Hanser, 1988) muss der israelische Soldat Uri in den Arrest, weil er bei Chilmi, dem alten Geschichtenerzähler, wieder seine Pflichten vergessen hat. Er ist fasziniert von den vielen Geschichten, die die großen und kleinen Fragen des Lebens berühren und ihn zum Nachdenken über die Armee, die Beziehung zu seiner Frau und seinem Freund Katzman bringen. Der Roman eines israelischen Autors, der im Westjordanland spielt, ist etwas Neues und wird durchwegs positiv angenommen. Sein naiver und etwas törichter Protagonist erinnert nicht von ungefähr an die Figur des braven Soldaten Schwejk, dem es erlaubt ist, unangenehme Wahrheiten und gerne Verschwiegenes auszusprechen. Auch Uri stößt durch die Geschichten auf Widersprüchlichkeiten im politischen und gesellschaftlichen Geschehen, was fatale Folgen haben wird. Eine gute Geschichte hat ihren Preis …
Was er mit „Stichwort: Liebe“ begonnen hat, setzt Grossman konsequent in seinen Schreibprojekten fort. Zwischenmenschliche Konflikte nehmen ihren Ursprung in der Familie. Auch Paarbeziehungen sind Keimzellen für unsere zukünftigen Beziehungsmuster, denen er immer wieder auf den Grund geht. „Sei du mir das Messer“ (Hanser, 1999) ist in Anlehnung an Franz Kafkas berühmtes Zitat aus den Briefen an Milena Jesenskà zu verstehen: „Liebe ist, dass du mir das Messer bist, mit dem ich in mir wühle.“ Ebenso wie bei Kafka ist Grossmans Protagonist Jair nach einer flüchtigen Begegnung mit einer Frau ergriffen von ihr. Er beginnt, Briefe an Mirjam zu schreiben – erst einmal ohne Hoffnung auf Erwiderung. Doch Mirjam antwortet ihm und so beginnen sie, einander aus ihrem Leben zu erzählen. Der Roman heißt im Hebräischen „Itruf“, was so viel bedeutet, wie sich selbst in den Wahnsinn zu treiben. Jair weiß, dass seine Frau einen Liebhaber hat, seine Eifersucht ist Motor für seine Fantasie und zeigt, welche Grenzerfahrungen dadurch möglich werden. Jair und Mirjam teilen nach und nach ihre Sehnsüchte, Wünsche, intimsten Träume ebenso wie alltägliche Begebenheiten. Es entwickelt sich eine Beziehung in Briefen, während sie beide in mehr oder weniger zufriedenen Partnerschaften leben. Das Gefühlsleben seiner Figuren weist gnadenlos auf Abgründe auf und zeigt gleichzeitig, dass wir am meisten über uns selbst durch unsere Liebesbeziehungen lernen.
Auch in „Das Gedächtnis der Haut“ (Hanser, 2004) erzählt David Grossman von Liebe und vor allem Eifersucht. Im ersten Teil quält Schiaul die fast krankhafte Eifersucht in der Beziehung zu seiner Frau Elisheva und deren Geliebtem. Im zweiten Teil geht die Schriftstellerin Rotem der Spur ihres Mangels an mütterlicher Liebe nach und Grossman zeichnet eine Annäherung in dieser schwierigen Mutter-Tochter-Beziehung nach. Es ist ein schwer zugänglicher Roman, der um existenzielle Einsamkeit, Intensität und Nähe kreist und Träume und Obsessionen thematisiert. Grossmans Romane laden natürlich immer wieder ein, gesellschaftspolitisch gelesen zu werden. Jedoch bieten seine Figurenzeichnung und sprachliche Intensität im Nachspüren der Gefühlswelt seiner Protagonist:innen und ihrer Geschichten auch ausreichend andere Lesarten und Interpretationsräume.
Außerdem schreibt er preisgekrönte Jugendbücher wie „Der Kindheitserfinder“ (Hanser, 1994), „Zickzackkind“ (Hanser, 1996) oder „Wohin du mich führst“ (Hanser, 2001). In „Löwenhonig. Der Mythos von Samson“ (Berlin Verlag, 2006) erzählt er seine Version des Mythos von Samson. Samsons besondere Stärke ist auch gleichzeitig sein Schicksal. Bei Grossman wird dies analysiert und in Hinblick auf die politischen Dynamiken der Gegenwart als Psychogramm eines Selbstmordattentäters gelesen.
Eine Frau flieht vor einer Nachricht
Der seitenstarke und intensive Roman „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“ (Hanser, 2009) erzählt die Geschichte von Ora und ihren beiden Lieben, ihrem Mann Ilan und Avram, mit denen sie jeweils einen Sohn hat. Die drei lernen sich 1967 während des Sechstagekrieges kennen. Die gemeinsame Geschichte wird rückblickend vor allem aus der Sicht Oras erzählt. Als sich ihr jüngster Sohn Ofer freiwillig zum Militäreinsatz im Westjordanland meldet, hat sie ihre eigene Strategie, mit dem Warten und der Ungewissheit umzugehen. Um keine Todesnachricht zu erhalten, bricht sie mit Avram zu einer mehrtägigen Wanderung durch die Gebirge Israels auf.
Es ist eine Reise durch die gemeinsame Zeit und auch durch die Geschichte Israels: ausgehend vom Sechstagekrieg über den Jom-Kippur-Krieg bis zur Gegenwart. So, wie sie bei ihrer Wanderung auf bestimmte Orte treffen, stehen diese wie Wegmarken in ihrer Erinnerung. Im individuellen wie im kollektiven Leben haben die kriegerischen Ereignisse Spuren hinterlassen und strahlen in die Gegenwart der einzelnen Lebenswirklichkeiten. Es ist so, wie Grossman immer wieder in Interviews erklärt: „Israeli sein, heißt in ständiger Alarmbereitschaft zu sein.“ Durch seine detailreichen Beschreibungen und sein mythisches, historisches und literarisches Wissen entwirft er komplexe Handlungsstränge und Charaktere, deren Lebensgeschichten beispielhaft für die Geschichte und Lebenssituation vieler Israelis stehen – jedweder Konfession.
Noch während David Grossman an diesem umfangreichen Text arbeitet, stirbt sein Sohn Uri bei einem israelischen Militäreinsatz in den letzten Stunden des zweiten Libanonkrieges am 12. August 2006. Grossman schreibt im Nachwort dazu: „Nach der Trauerwoche kehrte ich zu dem Roman zurück. Der größte Teil war bereits geschrieben. Mehr als alles andere hat sich der Resonanzraum der Wirklichkeit verändert, in dem die letzte Version entstand.“ Für Sigrid Löffler ist der Roman ein „kraftvolles und tiefgründiges Meisterwerk“, das sich „im Erzählen eine magische, beschützende Wirkung erhofft“ (Frankfurter Rundschau, 9.9.2009).
In „Aus der Zeit fallen“ (dtv, 2023) gibt er dieser Trauer und diesem Verlust ihren literarischen Ausdruck. Das 2013 erstmals erschienene Bändchen ist ein Klagelied, eine Totenklage, ein Langgedicht über den Verlust eines geliebten Menschen. Angereichert mit Notaten aus den Jahren 2009 bis 2011 lässt er verschiedene Figuren zu Wort kommen: Mann, Frau, Zentaur, Chronist der Stadt, Hebamme oder Schuster treten auf, um das Unsagbare, den Schmerz, den Verlust in Worte zu fassen. Ein Mann zieht voller Schmerz durch die Stadt, begegnet dabei anderen Menschen, die alle den Verlust auf die eine oder andere Weise erfahren haben. Der Text bewegt sich zwischen Traum, Märchen, Wirklichkeit und Mythologie. Grossman lässt auch einen Zentaur zu Wort kommen: „Was passiert ist, werde ich nicht verstehen, und den, der ich jetzt bin, nachdem es passiert ist, werde ich auch nicht verstehen. Aber das Schlimmste ist, du kleiner Beamtenzwerg: Wenn ich nicht schreibe, dann werde ich auch nicht verstehen, wer er jetzt ist, ich meine, mein Sohn.“ In Ausnahmezuständen zeigt sich die wahre menschliche Größe – im Falle Grossmans auch glückhafterweise „die Gnade des Schreibens“.
Die Kraft zur Korrektur
Bereits in Büchern wie „Der geteilte Israeli. Über den Zwang, den Nachbarn nicht zu verstehen“ (Hanser, 1992) oder „Diesen Krieg kann keiner gewinnen. Chronik eines angekündigten Friedens“ (Hanser, 2003) versucht er, sich in die an den kriegerischen Geschehnissen beteiligten Seiten hineinzuversetzen. 2002 erhält er den Manès-Sperber-Preis, 2008 den Geschwister-Scholl-Preis und 2010 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels für sein zunehmend politisches und friedenstiftendes Engagement.
Sich öffentlich zu positionieren, unangenehme Wahrheiten auszusprechen, hat einen hohen Preis, dem er 2014 in „Kommt ein Pferd in die Bar“ (Hanser, 2016) nachgeht. Dovele Grinstein, der nicht gerade sympathische Protagonist, will an seinem 57. Geburtstag ein letztes Mal als Comedian in Netanja, einem Ferienort an der israelischen Mittelmeerküste, auftreten. Er lädt dazu einen Jugendfreund, nunmehr Richter, ein und auch eine „Zwergin“, eine Frau aus seiner Kindheit, spielt dabei eine Rolle. Grinstein hat den Jugendfreund früher mit seinen Geschichten und Witzen zum Lachen und Reden gebracht, ein Verrat hat ihre Freundschaft entzweit. Bitterböse, abgründig beginnt die Tirade, die der Richter sich anhören soll, um am Ende zu einem „Urteil“ zu kommen. Es zeigt sich ein Mensch und Künstler im Ausnahmezustand, der seine traumatischen Kindheitserinnerungen und die Holocaust-Erlebnisse seiner Familie in der Show zum Thema macht, dass einem das Lachen im Hals stecken bleibt. Der wenig amüsante Comedian thematisiert all das Unangenehme, was Israel an ungelösten Problemen quält. Der Roman wird in Israel beim Erscheinen wenig überraschend mit gemischter Kritik aufgenommen. Die Sprache ist ungewöhnlich hart und an der Grenze des Erträglichen. Durch die beiden anderen Figuren und deren Geschichte schafft Grossman eine Art von Triangulation und fordert bei der Lektüre zu dem auf, was er in seinem Band „Die Kraft zur Korrektur. Über Politik und Literatur“ (Hanser, 2008) schreibt: „Denn wenn es uns gelänge, den Text der Realität mit den Augen des Feindes zu lesen, würde die Realität, in der wir und unser Feind leben und handeln, plötzlich komplexer und realistischer. Wir könnten Splitter integrieren, die wir aus unserem Weltbild verdrängt haben. […] Wenn wir in der Lage wären, die Geschichte des Anderen durch dessen Augen zu sehen, stünden wir in einem gesünderen, relevanteren Kontakt zu den Tatsachen. Und wir hätten erheblich bessere Chancen, fatale Fehler zu vermeiden und egozentrische, beschränkte Konzepte zu umgehen“. 2017 wird die englischsprachige Übersetzung des Romans mit dem Man Booker International Prize ausgezeichnet – das erste Mal, dass ein israelischer Autor diesen Preis gewinnt.
In einem seiner wohl zugänglichsten Romane „Was Nina wusste“ (Hanser, 2020) setzt David Grossman die Lebensgeschichte von Eva Panić Nahir (die sie ihm erzählt hat) und die ihrer Tochter Tiana Wages literarisch um. Danilo Kiš widmete ihr eine eigene Fernsehreihe im serbischen Fernsehen, in der sie über die Gräuel auf Goli Otok, „Titos Gulag“, berichtet. In Grossmans Roman ist sie die 90-jährige Vera, deren Enkelin Gili als Filmemacherin und Skriptschreiberin das Jubiläum der Großmutter zum Anlass nimmt, über die Geschichte ihrer Familie einen Film zu entwickeln. Emotionaler Dreh- und Angelpunkt des Romans ist das Leben Ninas, Veras Tochter und Gilis Mutter. Nach und nach enthüllt der Erzähler Beziehungsdynamiken, die den Bedingungen von Liebe in Kriegszeiten, bedingungsloser Liebe, mangelnder Beziehungsfähigkeit, der Bedeutung von Blutsverwandtschaft und Freundschaft und transgenerationalen Traumata unterworfen sind. Durch die Arbeit an dem Drehbuch gelingt es der Enkelin schließlich, ihre eigene Geschichte besser zu verstehen und in einigen Aspekten ihres Lebens auch Frieden zu finden. Am Ende des Romans wird sie selbst Mutter eines Mädchens, das sie Nina nennt. „Wer Teil der Realität sein will und nicht Teil der eigenen Utopien und Träume, muss den ganzen Text der Realität lesen, auch jene Stellen, die beunruhigend und furchterregend sind“, schrieb Der Standard (20.11.2002).
David Grossman wohnt in Mewasseret Zion, einem Vorort Jerusalems. Seit dem 7. Oktober 2023 leben die Menschen in einem andauernden Trauma, sagt er in einem Interview mit dem Deutschlandfunk (24.11.2024). Das Gefühl, das seit dem Anschlag vorherrscht, ist Trauer – es kommt für ihn immer vor Wut und Rachsucht.
Sein Wunsch an die Regierenden wäre die Einkehr von Vernunft, doch stattdessen wird der Bodensatz an Hass und Wut immer wieder neu aufgewühlt. „Man glaubt nur, was die eigenen Gedanken bestätigen, die Echokammern des Internets leisten dazu ihr Übriges. Wir glauben nicht, dass in unseren Köpfen nicht mehr Platz ist, um es auszuprobieren“, sagt er klar in diesem Gespräch. Nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober ist er es, der die Gedenkrede für die von der Hamas Ermordeten, Gefolterten und Verschleppten bei der Trauerfeier der Kibbuzbewegung am 16. November 2023 hält.
Gaza hätte ein Beispiel werden können, wie Juden und Araber zusammenleben können. Doch diese Zukunftsvorstellung ist in weite Ferne gerückt. Grossman schreibt und spricht weiter, denn „Schreiben heißt, den anderen zu sehen und Spielräume zu eröffnen“. Für seinen unermüdlichen Einsatz erhält er 2021 das Große Bundesverdienstkreuz und 2024 den Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln.
Er glaubt der jüdischen Tradition gemäß an „Luz“, den unzerstörbaren Kern, der die Essenz der Seele enthalten soll, die nie vergeht. Gleichzeitig ist es die Gnade des Schreibens, die ihn aufrecht hält und antreibt, der schnellen Verurteilung, dem zunehmenden Rassismus und Nationalismus mit seiner Literatur etwas Beherztes zu entgegnen: „Und doch – und dies ist das größte Wunder, die Alchimie unserer Tätigkeit: In gewisser Weise sind wir von dem Moment an, da wir den Stift oder die Tastatur berühren, nicht mehr das hilflose Opfer all dessen, was uns unterdrückt und eingeengt hat, bevor wir zu schreiben begannen. Wir schreiben, wir sind zu beneiden: Die Welt schnappt nicht über uns zu, sie wird nicht enger mit jedem Tag“ („Die Kraft zur Korrektur. Über Politik und Literatur“ (Hanser, 2008).
Foto: (c)_Claudio Sforza