Die Andere Bibliothek - Und wir lesen wohl

Die Andere Bibliothek - Und wir lesen wohl

Veröffentlicht am 21.05.2021

Peter Klein über Die Andere Bibliothek

Mit den „Lügengeschichten und Dialogen“ des Lukian von Samosata erschien im Jahre 1985 der erste Band einer Edition, die von vielen als die schönste Buchreihe der Welt angesehen wird. Initiator und Herausgeber war umtriebige Autor Hans Magnus Enzensberger, der mit dieser neuen bibliophilen Buchreihe die übliche Verlagspraxis brechen wollte. Kongenialer Kompagnon bei diesem Vorhaben war der Buchgestalter und Verleger Franz Greno (der sein Handwerk beim Wagenbach und S. Fischer Verlag lernte und durch seine ungewöhnlichen Buchprojekte im Zweitausendeins Verlag auf sich aufmerksam gemacht hatte). Greno machte sich 1984 selbständig und gründete in Nördlingen seinen eigenen Verlag. Er erwarb eine Druckerwerkstatt mit sieben alten Monotype-Setzmaschinen mit Bleisatz und zwei Gussmaschinen für die Herstellung von Bleilettern. Somit verwirklichte er seine eigenen Vorstellungen von Gestaltung und Herstellung von Büchern in einer höchstmöglichen Qualität in einer Zeit, in der die mechanischen Druckmaschinen rapide durch den elektronischen Satz (damals Computersatz genannt) verdrängt wurden. Er kaufte von geschlossenen Druckereibetrieben nach und nach eine riesige Sammlung von alten und seltenen Drucklettern auf, so dass seine Druckerei damals die größte war, die noch mit Bleisatz arbeitete.

Solcherart sorgfältig und einzigartig hergestellt nach den alten Regeln der Schwarzen Kunst, auf holz- und säurefreies Papier gedruckt, jeder Band individuell gebunden, mit Rückenschild aus Leder und Lesebändchen ausgestattet, erschien nun, herausgegeben von Hans Magnus Enzensberger, jeden Monat ein Band. „Wir verlegen nur Bücher, die wir selber lesen wollen", versprachen Herausgeber und Verleger, und: „Zwölfmal im Jahr ein Buch, das uns gefällt, weil es uns etwas angeht, weil es uns unterhält, weil wir es brauchen können.“ Und so erschienen nun vergessene Titel ebenso wie Erstlingsromane, Erzählungen, Reportagen, Essays, Geschichtsbücher – solange sie dem Geiste der Aufklärung und des Humanismus verpflichtet und spannend zu lesen waren. Eine andere Motivation war die Unzufriedenheit mit dem herrschenden Verlagsprogrammen. Enzensberger: „Die Einwohner der Bundesrepublik sind mit Büchern gut versorgt. Der Umsatz liegt bei vielen Millionen und jedes Jahr erscheinen tausende neue Titel. Nörgler und Unzufriedene gibt es immer. Wir zählen uns zu ihnen. Deshalb wollen wir damit anfangen, die Andere Bibliothek zu veröffentlichen: und wir haben nicht die Absicht, damit aufzuhören, solange wir unzufrieden sind. Das kann sehr lange dauern.“ Für die rasch wachsende Zahl der Abonnenten der Anderen Bibliothek gab es zusätzlich noch eine besondere, nummerierte Leder-Vorzugsausgabe, denn: „Luxus ist kein Verbrechen“.

Es begann also zu Jahresbeginn 1985 mit den „Lügengeschichten und Dialogen“ von Lukian von Samosata, die sich sofort 20.000mal verkauften. Die nächsten Bände waren die Erinnerungen von Driss ben Hamed Charhadi („Ein Leben voller Fallgruben“), „Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802“ von Johann Gottfried Seume, die „Erinnerungen eines Terroristen“ von Boris Savinkov, „Norwegische Märchen“, mit Henry Charles Leas „Die Inquisition“ ein Klassiker der unorthodoxen Kirchengeschichtsschreibung, vom wiederentdeckten sizilianischen Romancier Vitaliano Brancati „Schöner Antonio“, „Flüchtlingsgeschichten“ aus der DDR von Erika von Hornstein, die Anthologie „Das Wasserzeichen der Poesie oder Die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen“, herausgegeben von einem gewissen Andreas Thalmayr (einem Pseudonym Enzensbergers), der ungarische Klassiker Gyula Illyés mit „Die Puszta. Nachricht von einer verschwundenen Welt“, „Diabolische Geschichten“ von Jules Amédée Barbey d'Aurevilly und Reiseeindrücke aus dem Jahr 1839 in Russland von Adolphe de Custine („Russische Schatten“). Die Produktion des ersten Jahres kann durchaus als beispielgebend gelten für die zukünftige Gestaltung des Programms der Anderen Bibliothek, das die branchenübliche Einteilung in Sachbuch und Literatur erfolgreich missachtete. Etwas vernachlässigte Klassiker findet man darin ebenso wie vergessene Meisterwerke der Literatur, Reportagen, Reisebeschreibungen, historische, kulturgeschichtliche oder politische Bücher – und daneben immer wieder die eine oder andere Erstveröffentlichung eines deutschsprachigen Autors.

So wurde etwa 1988 „Die letzte Welt“ von Christoph Ransmayr (als 44. Band) ein großer Bestseller. Dieser Erfolg wurde mit „Fromme Lügen“ von Irene Dische (1989), „Schwindel. Gefühle“ (1990), „Die Ausgewanderten“ (1992) und „Die Ringe des Saturn. Eine englische Wallfahrt“ (1995) von W. G. Sebald, „Die Erfindung der Poesie“ (1997) von Raoul Schrott, „Der Nebelfürst“ (2001) von Martin Mosebach, Ilija Trojanow „Nomade auf vier Kontinenten. Auf den Spuren von Sir Richard Francis Burton“ (2007) oder „Heldensterben“ (2008) von Christine Grän fortgesetzt.

Andere große Entdeckungen und Erfolge waren zum Beispiel die Bücher des polnischen Meisterreporters Ryszard Kapuscinski: „Der Fußballkrieg“ (1990), „Imperium. Sowjetische Streifzüge“ (1993), „König der Könige“ (1995), „Afrikanisches Fieber“ (1999), „Meine Reisen mit Herodot“ (2005). Oder Rolf Vollmanns grandiose Roman-Geschichte „Die wunderbaren Falschmünzer. Ein Roman-Verführer in zwei Bänden“ (1997). Oder von Alexander von Humboldt „Ansichten der Natur“ (1986), von Alfred Pfabigan „Die Andere Bibel“ (1990), „Verschwundene Arbeit. Ein Thesaurus der untergegangenen Berufe“ (1994) von Rudi Palla, „Ketzer. Eine Verteidigung der Orthodoxie gegen ihre Verächter“ (1998), „Orthodoxie. Eine Handreichung für die Ungläubigen“ (2000) und „Die Paradoxe des Mr. Pond und andere Überspanntheiten“ (2012) von Gilbert Keith Chesterton, Denis Diderots Meisterwerk „Jakob und sein Herr“ (1999), Gustave Flauberts „ Bouvard und Pécuchet“ (2003), „Manieren“ (2003) des Prinzen Asfa-Wossen Asserate, „Die Kinder von Wien“ (2008) von Robert Neumann, „Die Schule an der Grenze“ (2009) von Géza Ottlik, von Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen in neuen Übertragungen „Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch“ (2009), „Lebensbeschreibung der Erzbetrügerin und Landstörzerin Courage/Der seltsame Springinsfeld“ (2010), „Das wunderbarliche Vogelnest“ (2012), und und und. Daneben kamen wunderschöne, aufwändig gestaltete Sonderausgaben heraus, deren erfolgreichste im Folioformat „Kosmos“ (2004) von Alexander von Humboldt und die Gesamtausgabe der „Essais“ (1998) von Montaigne und Georg Forsters „Reise um die Welt“ (2007) wurden.

Ende der achtziger Jahren geriet Franz Greno mit seinem Verlag und seiner Druckerei in eine finanzielle Krise und der Eichborn Verlag übernahm 1989 die Andere Bibliothek, die weiterhin bei Greno hergestellt wurde (bis 2007, allerdings ab 1997, mit dem Band 145, umgestellt auf Offsetdruck). Seither gab es, nachdem Greno zuvor die Bände stets lieferbar gehalten hatte, auch bei den „Normalausgaben“ eine beschränkte, nummerierte Erstausgabe und von den vergriffenen Erstausgaben dann eine billiger hergestellte sogenannte „Erfolgsausgabe“. Viele der bislang erschienenen Bücher sind inzwischen in der Originalausgabe vergriffen, besonders gefragte Bände werden inzwischen hoch gehandelt. Für die zahlreichen Sammler unterhielt der Eichborn Verlag beispielweise seit 1990 eine eigene Tauschbörse.

2004 legte Hans Magnus Enzensberger, nach mehreren Streitigkeiten mit dem Eichborn Verlag (zuletzt wegen des Bandes „Kosmos“ von Alexander von Humboldt) seine Herausgeberschaft nieder. Nach einer Übergangsphase, in der unter der Redaktion von Wolfgang Hörner ein Autorenteam die Bücher herausgab, übernahmen von 2007 bis 2010 die Publizisten Michael Naumann und Klaus Harpprecht die Herausgeberschaft.

Seit 2011, nach der Insolvenz des Eichborn Verlags, wurde die Andere Bibliothek innerhalb der Aufbau-Gruppe weitergeführt und nun seit mehreren Jahren als eigenständiger Verlag. Verleger und alleiniger Herausgeber ist Christian Döring, lange Jahre legendärer Lektor bei Suhrkamp, später Verleger bei DuMont. Unter seiner Ägide erschienen der grandiose, in deutscher Sprache lange verschollene Roman „Locus Solus“ (2012) von Raymond Roussel, das große Buch zur Erinnerung an Jiddischland „Im Palast der Erinnerung“ (2012) von Gilles Rozier, Diderots „Enzyklopädie (2013), der Gesellschaftsroman über den Untergang des bürgerlich-jüdischen Odessa zu Beginn des 20. Jahrhunderts „Die Fünf“ (2012) von Vladimir Jabotinsky, „Das eingeschossige Amerika“ (2011) und „Das Goldene Kalb oder Die Jagd nach der Million“ (2013) von Ilja Ilf und Jewgeni Petrow, der lange nicht greifbare Klassiker „Preisen will ich die großen Männer“ (2013) von James Agee und dem Fotografen Walker Evans, „Ewiger Sabbat“ des litauischen Juden Grigori Kanowitsch und der wuchtige Monsterroman „Moravagine“ (2014) von Blaise Cendrars in revidierter Übersetzung. In den letzten Jahren kamen zwei Bände von Selma Lagerlöf hinzu, „Nils Holgersson“ und „Gösta Berling“ (beide 2015), dann der große Roman „Eine Straße in Moskau“ von Michail Ossorgin (2015), Ilja Ehrenburgs „Lasik Roitschantz“ (2016), „Japans Geister“ von Lafcadio Hearn (2017), von Gabriela Adamsteanu „Verlorener Morgen“ (2018), ein großer europäischer Roman aus Rumänien, ein wiederentdecktes Meisterwerk wie „Ein Mensch allein“ von Jean Giono (2018) bis hin zu neulich erschienenen wunderschönen, gewichtigen Bänden wie Grey Owls indianische Erzählung „Pfade in der Wildnis“, „Japanischen Märchen“ oder das feine Reisebuch „Der Berg Athos“ von Robert Byron.

Daneben sind Bücher wie Alexander von Humboldts „Mein vielbewegtes Leben“, Georg Forsters „Ansichten vom Niederrhein“, Carsten Niebuhrs „Reisebeschreibung nach Arabien“ und Adelbert von Chamissos „Reise um die Welt“ als wahrliche „Prachtbände im Folioformat“ herausgekommen. Und in günstigen Extradrucken viele Bände, die mittlerweile vergriffen, einmal als Originalausgabe der Anderen Bibliothek erschienen sind. Davon ist jeder Band besonders ausgestattet, in einer Auflage erschienen und individuell von einem Künstler gestaltet.

Mittlerweile sind über 400 Bände der Anderen Bibliothek erschienen, eine nicht hoch genug zu lobende und durchaus erfolgreiche Unternehmung, einzigartig in der deutschsprachigen Verlagslandschaft. Und für Christian Döring, der die Andere Bibliothek begeistert erliest und gestaltet, ist „jedes neue Buch, ‚groß‘ und ‚klein‘, ein Geburtstag – Monat für Monat festive Lektüre“. „Ungelogen“, wie er glaubhaft beifügt. Und wir lesen wohl.