Die Betriebsbüchereien der Wiener Linien - Zwischen Bim und Bus
Veröffentlicht am 08.03.2022
Von Silke Rabus
Seit den 1920er Jahren gibt es in den Betriebsbahnhöfen und Werkstätten der Wiener Linien Büchereien. Mittlerweile hat sich die Zahl der Betriebsbüchereien auf sieben reduziert, entliehen werden können von den MitarbeiterInnen neben Büchern auch AV-Medien.
Bildung für die arbeitende Bevölkerung
Ihren Ursprung haben die Betriebsbüchereien der Wiener Linien in den Arbeiterbildungsvereinen. Diese wurden ab dem Jahr 1867 gegründet und verschrieben sich – neben sozialen und geselligen Vorhaben – vor allem der Bildungsarbeit. „Damals konnten viele Arbeiter weder lesen noch schreiben“, erzählt Eva Auterieth, die seit 2007 als Sektionsleiterin die Interessen der Büchereien bei den Wiener Linien vertritt. „Die Sozialdemokraten wollten mehr für die Arbeiter tun und setzten sich für eine bessere Bildung der Bevölkerung ein.“ Bald nach ihrer Entstehung eröffneten die Arbeiterbildungsvereine erste Bibliotheken, aus denen auch die Büchereien der Stadt Wien hervorgingen.
Wann genau die Betriebsbüchereien der Wiener Linien gegründet wurden, ist unklar. „In der Zeit des Austrofaschismus löste man die Büchereien auf. Und während des Nationalsozialismus war es überhaupt ganz schlimm“, so Eva Auterieth. „Die Büchereien wurden aufgelassen, die Bücher öffentlich verbrannt und Bibliothekare politisch verfolgt. Viele Bücher wurden aber auch – unter Lebensgefahr – versteckt und so für die Betriebsbüchereien gerettet.“ Um die der Sozialdemokratie nahestehenden BibliothekarInnen vor der Verfolgung zu schützen, hatte man damals fast alle Aufzeichnungen über die Gründungen verbrannt. Lediglich aus Erzählungen und Protokollbüchern ist zu schließen, dass die ersten Betriebsbüchereien wohl in den 1920er Jahren ins Leben gerufen wurden. Nach dem Krieg erfolgten dann sehr rasch Neugründungen. In den Nachkriegsjahren besaßen viele Bahnhöfe und Betriebsgaragen eine eigene kleine Bücherei.
Zusammenlegungen und Schließungen
„Vom früheren Sektionsleiter Alfred Böhm weiß ich, dass er ursprünglich 28 Büchereien zu betreuen hatte. 1992 hatten wir noch 24 Büchereien“, sagt Eva Auterieth, die im selben Jahr die Leitung der Bücherei am Betriebsbahnhof Währinger Gürtel übernommen hat. Immer mehr Einrichtungen wurden allerdings über die Jahre geschlossen. 2007 gab es noch 20 Bibliotheken, deren Zahl nach einer mit dem Büchereiservice des ÖGB durchgeführten Reorganisation auf zehn reduziert wurde. Mittlerweile sind, auch aufgrund von Zusammenlegungen von Dienststellen oder Pensionierungen, nur noch sieben Betriebsbüchereien der Wiener Linien geöffnet: Drei sind in den Bahnhöfen Hernals, Favoriten und Rudolfsheim untergebracht, zwei in der Haupt- und Oberbauwerkstätte in der Awarenstraße in Simmering, eine weitere findet sich in der Garage Leopoldau und eine in der Direktion in der Erdbergstraße.
Finanziert werden die Betriebsbüchereien vom KSV, dem Kultur- und Sportverein der Bediensteten der Wiener Linien. Das Budget wird jährlich neu verhandelt, die erteilten Gutschriften für den Einkauf von Medien lösen die jeweiligen BüchereileiterInnen beim Büchereiservice des ÖGB ein. Nicht nur sinkt allerdings das Budget Jahr für Jahr, es wird auch zunehmend schwerer, überhaupt – rein ehrenamtlich tätige – BibliothekarInnen zu finden. Sowohl der Bucheinkauf als auch das Bucheinbinden sowie die Katalogisierung und Entlehnung finden in der Freizeit statt. „Selbst für die dreiwöchige Ausbildung in Strobl müssen die MitarbeiterInnen heute Urlaub nehmen“, bedauert Eva Auterieth, die selbst schon drei Jahre in Pension ist und keine Nachfolgerin für ihre Aufgabe als Sektionsleiterin findet. „Früher wurden wir für die Bibliothekarsausbildung noch freigestellt – das gibt es heute nicht mehr.“
Auch die Raumsituation lässt, zumindest an einigen Standorten, zu wünschen übrig. Die Bücherei in der Direktion befindet sich in einem Keller, andere Räumlichkeiten sind sehr klein. „Als ich 1992 die Bücherei übernommen habe, mussten wir die Bücher aus dem Keller einer Werkstätte holen und wochenlang den Schimmel abkratzen“, erinnert sich Eva Auterieth an die damals nur 10m2 große, dafür aber neugebaute Bücherei am Betriebsbahnhof Währinger Gürtel.
Vom Buch bis zur DVD
Befanden sich früher ausschließlich Bücher im Bestand, werden nun alle Medien angeboten, auch CDs, DVDs oder Hörbücher. Inhaltlich hat sich ebenfalls viel verändert. „Am Anfang stand in meiner Bücherei eher Wald- und Wiesenliteratur. Sehr stark vertreten waren zum Beispiel Bücher von Heinz Konsalik oder Johannes Mario Simmel“, so Eva Auterieth. „Aber natürlich habe ich später meine Kollegen gefragt, was sie lesen wollen, und danach eingekauft.“ Jetzt gibt es in den Beständen der Betriebsbüchereien der Wiener Linien aktuelle Belletristik ebenso wie Kinder- und Jugendbücher oder Reiseliteratur. In den Regalen stehen aber auch viele Sachbücher, etwa über Geschichte und Politik oder, nicht ganz unerwartet, über Schienenfahrzeuge.
Die jeweiligen BüchereileiterInnen bestimmen den Bestand maßgeblich nach ihren Interessen mit. Die Betriebsbücherei am Bahnhof Favoriten setzt beispielsweise stark auf DVDs und gewinnt mit ihrem Filmangebot zunehmend auch junge LeserInnen. Dass dies gelingt, macht Hoffnung, nimmt die Bedeutung des Lesens doch zumindest in niedrigeren Bildungsschichten eher ab.
Verschärfung in der Corona-Pandemie
Insgesamt 8.700 MitarbeiterInnen haben die Wiener Linien. Etwas mehr als 700 nutzen regelmäßig die Betriebsbüchereien, die oftmals nur einige Stunden in der Woche geöffnet haben, und borgen dort Medien für sich und ihre Familien aus. Nicht nur wegen der geringen Öffnungszeiten, sondern auch durch die Reduktion der Standorte sind allerdings LeserInnen verlorengegangen. „Man kann Kollegen nur dann für die Angebote der Bücherei interessieren, wenn sich diese auf der eigenen Dienststelle befindet“, weiß Eva Auterieth aus Erfahrung.
Die Corona-Pandemie hat die Situation der Betriebsbüchereien mit ihren rund 18.000 Medien weiter erschwert. Von 2019 auf 2020 fiel die Anzahl der Entlehnungen von 8.343 auf 7.263, die Zahl der BesucherInnen ging ebenfalls stark zurück. Durch Home-Office-Regelungen waren manche Büchereien überhaupt nicht geöffnet, auch die wenigen Veranstaltungen fielen weg. „Heute rennen einem die Leute nicht mehr von allein die Tür ein. Ich war früher mit meinen Lesern oft bei einem Ritteressen oder bin mit ihnen auf die Hohe Wand gefahren“, erinnert sich Eva Auterieth. „Damit habe ich viele angesprochen. Man muss eine freundschaftliche Beziehung mit den Kollegen aufbauen, dann kommen sie auch in die Bücherei.“ Dass solche Aktionen während der Pandemie nur schwer zu realisieren sind, versteht sich aber von selbst.
Wie es mit den Betriebsbüchereien der Wiener Linien weitergeht, wird sich in der Zukunft weisen. „Der Erfolg hängt vom Engagement eines jeden einzelnen Büchereileiters ab“, weiß Eva Auterieth, „und natürlich auch ganz maßgeblich von der Unterstützung durch unseren Geldgeber!“