Dinić, Marko - Buch der Gesichter

Dinić, Marko - Buch der Gesichter

Veröffentlicht am 15.10.2025

Ein Balkan-Roman über kollektive Erinnerung, jüdische Geschichte und individuelle Identität.

Marko Dinić ist, nach eigener Definition, ein österreichischer Schriftsteller aus Serbien. Bereits als Kleinkind kam er (1988 in Belgrad geboren) nach Österreich, verbrachte die Jahre des Krieges mit seiner Familie in Serbien, bevor er zum Studium (Germanistik und Jüdische Kulturgeschichte) nach Salzburg zog. 2012 erschien von ihm ein Gedichtband („Namen: Pfade“), auf den er nicht mehr stolz ist. Heute lebt er in Wien und nach seinem Romandebüt „Die guten Tage“ (2019) legt nun seinen zweiten Roman vor, der wiederum stark im jugoslawischen Kosmos am Balkan verwurzelt ist.

Die episch-dichte Erzählung reicht von der Zeit der Habsburgermonarchie bis in die Gegenwart und widmet sich vorwiegend dem Leben in der jüdischen Gemeinde, hauptsächlich im Ort Zemuny (Zemun, heute ein Vorort von Beograd), in dem auch ein Lager errichtet wurde. Alles kreist um einen entscheidenden Tag im Jahr 1942, als Belgrad unter deutscher Besatzung für „judenfrei” erklärt wurde. im Zentrum steht dabei ein junger Mann, der mal Isak und mal Ivan heißt. Das hat triftige Gründe, denn er will nicht als Jude erkannt werden, weshalb er sich dann auch Ivan nennt.

Isak ist der Sohn Olgas die, nachdem ihr Mann im ersten Weltkrieg an die Front musste, versuchte, sich und ihr Kind durchzubringen. Starker Antisemitismus grassiert – egal, wer gerade in Serbien das Sagen hat, in den Augen der Herrschenden sind stets die Juden schuld an jeglichem Ungemach und Unfrieden. Isak/Ivan wächst schließlich, als Olga verschwindet, bei den Anarchisten Milan und Rosa auf. Besonders Milan wandelt sich vom ungebildeten Bauernjungen zu einem Mitglied der politischen Intelligencija. Immer wieder geht es auch um die Hagada, ein wertvolles jüdisches Gebetbuch, das lange über alle Auseinandersetzungen hinweggerettet werden kann.

In acht Kapiteln, die sich um diesen Tag im Jahr 1942 verdichten, nehmen in dem klug komponierten Roman acht unterschiedliche Figuren unterschiedliche Perspektiven ein. Dabei wird die Geschichte nicht chronologisch erzählt und auch der Erzähler bringt sich mitunter selbst mit ein, setzt einzelnen Passagen bisweilen Gedichte voran, lässt ein Kapitel überhaupt aus der Perspektive eines Hund erzählen. Und auch ein Brief eines Onkels bekommt einen durchaus dominanten Platz im Buch und dient der Geschichte immer wieder als Vorlage für die weiteren Gegebenheiten.

Marko Dinić setzt sich in seinem beeindruckenden Roman mit kollektiver Erinnerung, jüdischer Geschichte und individueller Identität auseinander und fügt virtuos eine ganze Reihe von Puzzleteilen aneinander, die zusammen eine interessante Geschichtsschreibung des Balkans ergeben.
Georg Pichler

Dinić, Marko - Buch der Gesichter
Roman. Wien: Zsolnay 2025. 464 S. - fest geb. : € 29,95 (DR) ISBN 978-3-552-07577-1

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