Draesner, Ulrike - Die Verwandelten
Veröffentlicht am 06.09.2023
Auf der Suche nach den Lücken in den Leben und dem Schweigen der Elterngeneration.
„Sagen wollten sie nichts. Erinnern wollten sie sich nicht. Doch es verschwand nicht. Auch aus diesem Grund saßen sie zusammen. Sie sagten es sich nicht, sie stickten es sich auf, sie gaben es weiter, jede trug ihren Teil bei. Unterm Kirschbaum, unter der Linde, bei Rittersporn, Fingerhut, an dem Tisch im wuchernden Gras bestickten die Frauen der Gesellschaft das Innere der Wärmer. Sie sprachen nicht darüber, nicht einmal mit ihren Töchtern. Wissen sollten wir gleichwohl. Die Zeichen reisen im Untergrund ...“
In ihrem neuen Roman spürt Ulrike Draesner den Lücken in den Leben und dem Schweigen ihrer Elterngeneration nach, und den damit verbundenen unaufgearbeiteten Traumata dieser Generation, die naturgemäß auch in das Leben ihrer Nachkommen wirken. Ausgehend von Gesprächen mit der polnischen Verlegerin Halina Simon und der Geschichte ihrer eigenen Mutter, die sie zu einem Strang ihres dichten und umfangreichen Romans verarbeitet, berührt es auch die eigene Geschichte ihres aus Schlesien geflohenen Vaters und inspirierte sie zu einem fiktiven Strang über eine Tochter, die gefühlt ständig auf der Suche nach ihrer eigenen Geschichte und Identität ist. Die Mutter dieser Frau wird auch in einem Lebensborn-Heim der Nazis geboren und von arischen Eltern aufgezogen.
Es ist immer wieder beeindruckend, wie kreativ und produktiv die Schriftstellerin, Übersetzerin und Philologin Ulrike Draesner stets neue Formen und die entsprechende Sprache findet, um historische Themen und Fragen literarisch zu bearbeiten. „Die Verwandelten“ erzählt vom Schweigen und der heilsamen Kraft des Erzählens, das etwas Licht und Zuversicht in die Schatten der Vergangenheit bringen, die so weit reichen.
Julie August
Draesner, Ulrike - Die Verwandelten
Roman. München: Penguin 2023. 600 S. - fest geb. : € 27,50 (DR) ISBN 978-3-328-60172-2
