Dževad Karahasan - „Kommt zu mir, damit wir alles, was wir gehabt haben, wiederherstellen“

Dževad Karahasan - „Kommt zu mir, damit wir alles, was wir gehabt haben, wiederherstellen“

Veröffentlicht am 05.04.2023

Dem großen europäischen Autor zum 70. Geburtstag. Von Robert Leiner.

Er wurde Zeuge der Belagerung Sarajevos und schilderte 1993 in seinem in zehn Sprachen übersetzten „Tagebuch der Aussiedlung“ detailliert Prozesse geistiger Verengung und kriegerischer Zerstörung. Lediglich das Lesen literarischer Werke habe ihm ermöglicht, individuelle Gefühle und Denkweisen zu entfalten, sagt der bosnische Autor Dževad Karahasan heute, der als literarischer Vermittler zwischen Ost und West als aussichtsreicher Kandidat für den Literaturnobelpreis gilt.

Gern hätte Dževad Karahasan als junger Mann von Menschen gelernt, die in der Lage sind, Komplexität zu leben. Stattdessen erfuhr er das Gegenteil. Er wurde in einen Krieg gezogen und Zeuge der Belagerung Sarajevos und der Zerstörung seiner Lieblingsbibliothek, der bosnischen Nationalbibliothek. Mit 17 Jahren rettete ihn, so Karahasan, Goethes Werk „Wilhelm Meister“ aus einer tiefen Sinnkrise, später entwickelte er auf der Grundlage von Goethes Literatur sein eigenes poetisches Denken. Heute zählt er zu den wichtigsten europäischen Autoren. Geboren am 25. Januar 1953 als Sohn muslimischer Eltern in Duvno im heutigen Bosnien-Herzegowina, besuchte er als Schüler das Realgymnasium in Sarajevo, war ein aufgeweckter Knabe, lernwillig und wissbegierig, und doch kein Streber. Die zwei Wochenstunden in Latein waren ihm jedoch nicht genug. So ging er ins Franziskanerkloster, wo er kundige Leute vermutete, und bat Fra Ivo Bagarić, ihm in Latein, Griechisch und Philosophie Unterricht zu geben und der Mönch willigte ein. Als der Privatunterricht zwei Jahre später zu Ende ging, fragte der Schüler, wie viel er wohl schuldig sei? Ich schulde dir Geld, weil du lernen willst und zu mir gekommen bist, antwortete der Franziskaner. Diese autobiographische Geschichte aus der Schulzeit des späteren Schriftstellers trug sich 1970 zu. Da war Tito schon seit einem Vierteljahrhundert Staatsoberhaupt Jugoslawiens. Dževad Karahasan studierte sodann Literatur- und Theaterwissenschaft in Sarajevo. Die Promotion erfolgte an der Universität Zagreb. Von 1986 bis 1993 war er Dozent für Dramaturgie und Dramengeschichte an der Akademie für szenische Künste der Universität Sarajevo. Während des Bosnien-Kriegs verlor er Verwandte, Freunde und seine Bibliothek. Er selbst überlebte nur, weil er durch einen Tunnel ausgeschleust und nach München in Sicherheit gebracht wurde. Dort begann in den frühen neunziger Jahren sein zweites Leben. Seitdem war er Gastdozent an verschiedenen europäischen Universitäten, darunter Salzburg, Berlin und Göttingen. Während des Balkankrieges kam er nach Österreich und war Stadtschreiber in Graz. Heute lebt und arbeitet er in Graz und Sarajevo.

Über seine Herkunft sagte er in einem Interview: „Meine kulturelle Zusammensetzung ist kompliziert. Meine Eltern waren beide bosnische Muslime, meine Mutter war gläubig, mein Vater war ein tiefgläubiger Kommunist, der bis zu seinem Lebensende ein glühender Titoist blieb. Ich selbst war niemals Kommunist, hatte aber größere Probleme mit den Antikommunisten, denn die Kommunisten ließen mich einfach schweigen, während ihre Gegner wollten, dass ich mich zu allem äußere.“ Das Studium finanziert er mit Schwarzarbeit auf deutschen Baustellen. Damals habe er sein „Jugoslawentum“ stark gespürt, so wie er heute sein „Bosniertum“ spüre, seit Bosnien in seiner Existenz bedroht ist.

Der östliche Divan

Der opulent dahingleitende Erzählteppich seines ersten Romans „Der östliche Divan“ (1989) zeigt bereits den Grundzug des Karahasan‘schen Erzählens: die Arabeske, diese Figur der Unendlichkeit im Endlichen, die ein Geschehen quer durch alle Zeiten und leicht variierend fortschreibt. Divan bedeutet soviel wie Sammlung und bezeichnet die Grundform der orientalischen Dichtkunst, für einen Roman das Geflecht von Erzählung und Fabel, Aufzeichnungen und Märchen, Wechselrede und Rätselstreit, Briefen und Sprüchen. So ist auch der „östliche Divan“ gleichsam ein fliegender Teppich aus 1001 Geschichte. Man schwebt lesenderweise in islamischen Lebenswelten und Kulturen, ob in Medina, in Bagdad oder an europäischen Schnittpunkten zwischen Okzident und Orient, wie Sarajevo. Geschichten aus dem orientalischen Mittelalter begegnen dem Leser zunächst verkleidet als Briefroman, dann als Kriminalgeschichte und im letzten der drei Teile als innerer Monolog. Die blumige Sprache kontrastiert häufig mit den modernen erzähltechnischen Mitteln.

Von seinem ersten, kunstvoll verschachtelten Roman «Der östliche Divan» (1993) bis hin zu seinem Opus magnum über den Dichter und Astronomen Omar Chayyam, „Der Trost des Nachthimmels“ (2016), beschäftigt sich Karahasan mit Fragen von Gewalt und Ohnmacht, Fanatismus und Toleranz, Kunst und Krieg, Wahrheit und Wahn, Sterblichkeit und Metaphysik, ohne die Ambivalenzen des Seins eindeutigen Lösungen zuzuführen. Krimihafte Handlungsverläufe hindern ihn nicht, seine Figuren in philosophische Gespräche zu verwickeln. Zorn und Kritik sind ebenso mit von der Partie wie Humor und Gelassenheit.

Karahasans Werk kreist um eine Stadt, deren multikulturelle Vielfalt sprichwörtlich war, bis der Jugoslawienkrieg ihr ein grausames Ende bereitete: die „Wunderstadt“ Sarajevo. Strategisch ohne größere Bedeutung, hat sich die Stadt seit 1440 als lebendiger Beweis entwickelt, dass Angehörige dreier großer monotheistischer Religionen (Muslime, Katholiken, Orthodoxe) friedlich miteinander leben können, mit "der Bereitschaft, dem Blick des anderen Relevanz und Fundiertheit zuzugestehen". Die Aggressoren hielten mit ihrem dualistischen Weltbild diese Offenheit nicht aus, sie zerstören Sarajevo, davon ist Karahasan überzeugt, "weil in dieser Stadt Gotteshäuser von vier Religionen stehen".

Tagebuch der Übersiedlung

In seinem „Tagebuch der Übersiedlung“ (zuerst 1993 erschienen) porträtiert er dieses „zweite Jerusalem“ architektonisch, kulturell und gastronomisch mit einem besonderen Essay über seine jüdischen Bewohner. Zugleich beschreibt er als Augenzeuge die Bombardierung und Belagerung Sarajevos – und wie er mit seiner Frau nur knapp einem Granatenbeschuss entkommen ist. Er verließ die Stadt, um nach dem Krieg wieder zurückzukehren.

Doch das alte Sarajevo überlebte nur in seiner Erinnerung, zu verheerend waren die Zerstörungen, die der Krieg angerichtet hatte, nicht nur an Gebäuden, sondern auch am Gemeinwesen: Viele Menschen waren umgekommen oder geflohen, das ungezwungene Zusammenleben der unterschiedlichen Ethnien gehörte der Vergangenheit an. Und wenn Karahasan Sarajevos Geist fortan in liebevoll-sachkundigen Essays über seine Stadtviertel, Parks und Küchen beschwor, handelte es sich vor allem um elegische Hommagen an eine Stadt, die es so nicht mehr gab.

Scharijars Ring

Sarajevo erlaubte, die Einheit von Konkretem und Abstraktem, Sichtbarem und Unsichtbarem zu erfahren. Die Stadt ist untergegangen, doch Karahasan hat ihr in seinen Büchern ein Denkmal gesetzt. Eine einzige Liebeserklärung ist nicht nur das essayistische „Tagebuch der Übersiedlung“, sondern auch der Roman „Scharijars Ring“ (1997). Karahasan schrieb den Roman, während Sarajevo von den Berghängen herab beschossen wurde.

Einmal rettete er ihnen sozusagen das Leben: Während er seiner Frau Dragana im Büro die neuesten Seiten vorlas, schlug in der Wohnung eine Granate ein. „Scharijars Ring“ verknüpfte diese Gegenwart mühelos mit dreitausend Jahre alten Geschichten von der Sehnsucht nach Liebe, die ihr Heil zuletzt im Erinnern findet.

Es ist ein aberwitzig komplex gebauter Roman, der eine Vielzahl an wundersamen Geschichten auf drei Schauplätzen und drei Zeitebenen zueinander in Beziehung setzt. Wie drei Zeichnungen, die so aufeinanderliegen, dass jede von ihnen auf die beiden anderen durchscheint, so ergänzen und kommentieren die drei Bücher dieses Romans einander (so Karl-Markus Gauß). Die Liebesgeschichte des ersten, in der Gegenwart spielenden Buches zeichnet seine Konturen dem zweiten Buch ein, das von einer politischen Verschwörung im 15. Jahrhundert handelt; diese wiederum hängt ursächlich mit dem 3000 Jahre alten Märchen zusammen, von dem das dritte Buch erzählt. Und das sumerische Märchen schließlich enthält eine Liebesgeschichte, die den Schlüssel für die Ereignisse des ersten Buches enthält. Das ist keineswegs zu kompliziert, denn der Wechsel vom Krieg in Sarajevo zu den Palastintrigen von Istanbul ins vorchristliche Land der Sumerer ist zwar ein erzählerischer Kraftakt, aber man merkt dem Erzähler die Anstrengung kaum an. Karahasan bringt hier vielerlei zusammen: Liebesgeschichte und theologischen Traktat, jugoslawischen Bürgerkrieg und islamische Mystik, zarte Poesie und Szenen der Folter, dichte Erzählprosa und kulturkritische Essayistik. Als wäre es nicht genug, ist dem Buch noch ein Anhang aus dem Geist eines Jorge Luis Borges beigefügt, der auf zehn gelehrten wie hochironischen Seiten alles Wissenswerte über sufistische Theologie und sumerische Fabelwesen ineinanderwirbelt.

In dem berührenden Roman „Sara und Serafina“ (2000) soll ein junges Paar mit Hilfe gefälschter Taufdokumente aus dem belagerten Sarajevo herausgebracht werden, doch die Aktion scheitert. Die beteiligten Retter werden von Schuldgefühlen gequält, denn Serafina (die sich Sara nannte), die Mutter, kann den Verlust ihrer Tochter und die Zerstörung einer Liebe nicht ertragen und beschließt zu sterben. Sie zieht es vor, sich an einer Straßenkreuzung von einem Heckenschützen erschießen zu lassen, statt ihrer Schwester und ihrer Tochter ins Ausland zu folgen. Es ist eine Märtyrerin der stillen Art, die trotz Fürsorglichkeit und Menschenliebe ihren Traumata nicht mehr gewachsen war. Als Jüdin wäre sie im Zweiten Weltkrieg fast zum Opfer der nazistischen Ustascha geworden. Die brutale Belagerung Sarajevos gab ihr jedoch den Rest, ohne dass sie an Flucht denken mochte.

Der nächtliche Rat

Voller Überschwang und mit einem Jauchzer des Glücks beginnt der Roman „Der nächtliche Rat" (2006) und wird dann zu einer Reise in das schiere Grauen. Die Heimatstadt Foca, in die Simon Mihailovic nach 25 Jahren in Deutschland zurückkehrt, liegt am ersten Tag schön und sinnfällig wie eine Schöpfung Gottes vor seinen Augen im Tal. Dann geschehen in ihr vier Morde, und für den Täter halten auch Freunde und Bekannte den Rückkehrer, der bald Bekanntschaft mit Zombies schließt. Um vom Beginn der jugoslawischen Kriege im Jahr 1991 zu erzählen, zieht Karahasan hier sämtliche Register des Horrorromans und reichert sie mit Elementen des Kriminal- und des Zeitromans an. Karahasan deutet die Kriege als ein neues Kapitel der Gewalt, die den Schwächsten, den Moslems, seit Jahrhunderten immer wieder angetan wird. Wie auf einer schiefen Ebene gleitet die jugoslawische Welt hier unaufhaltsam in den Wahnsinn. Ähnelt Foca anfangs der Stadt Visegrad in Ivo Andrics Nationalepos "Brücke über die Drina", so endet der Roman mit Anklängen an die Hölle in Dantes "Göttlicher Komödie".

Simon kann diese mörderische Entwicklung nicht aufhalten. Aber in der österlichen Zeitspanne von 40 Tagen nach Mariä Himmelfahrt, dem höchsten Feiertag der orthodoxen Kirche, an dem der verlorene Sohn zurückkehrt, verwandelt sich seine Liebe. Nun gilt sie nicht mehr nur der Ehefrau und der Heimat, sondern auch den unerlösten Opfern der Massaker. Das Leiden der Untoten sucht Simon, dessen Name an den Apostel erinnert, an den Begründer der orthodoxen Lichtmystik und jenen Mann, der eine Zeitlang das Kreuz Jesu trug, durch Mitleiden aufzuheben. Dem mythischen Verhängnis der Gewalt wird mit einer Mystik der Liebe begegnet.

Der zurückgekehrte Arzt lässt sich von seinem Freund so tief in Diskussionen hineinziehen, dass er bereit ist, ihm ins Zwischenreich zu folgen, wo die Seelen der seit Jahrhunderten Ermordeten auf Erlösung warten. Als Simon mit seinem toten Freund Enver Pilav in den Keller seines Hauses hinabsteigt, wird aus dem Heimkehrerroman eine Gespenstergeschichte. Die beiden treffen auf die Seelen derer, die dort im Laufe der Jahrhunderte getötet wurdenHier zeigt sich Karahasan von seiner theologisch spekulativen Seite, mit Schwerpunkt auf islamischen Traditionen.

Der Trost des Nachthimmels

„Der Trost des Nachthimmels“ (2015), Karahasans Hauptwerk, führt wiederum in die Blütezeit des Orients, ins Reich der Seldschuken im 11. Jahrhundert. Das Buch basiert nicht nur weitgehend auf wahren Begebenheiten, sondern angeblich auch auf dem Fund eines alten Manuskripts.

Das Leben des Hofastronomen und Alchemisten Omar Chayyam erscheint darin durchaus romanhaft. Im Auftrag des Großwesirs hat er einen Giftmord aufzuklären, verliebt sich in die Tochter des Opfers und kann die Wahrheit nicht ans Licht bringen, ohne seine junge Liebe zu gefährden. Letztlich aber bietet das Geschehen nur den Anlass, Vergangenes mit Gegenwärtigem zu verknüpfen. Es geht um eine radikalisierte Volksgruppe, die die Ordnung im Nahen Osten bedroht, um Anschläge, die Errichtung eines Nachrichtendienstes, um Spitzeleien, um die Bedrohung wissenschaftlichen Fortschritts vor dem Hintergrund des Islams und schließlich den Zerfall des Reiches von Sultan Malik-Schah. Erzählt wird wie aus der Sicht Omar Chayyams. Er bleibt eine Figur in der dritten Person, denn seine Geschichte wird wiederum von einem Bosnier erzählt, der ihn in seiner Jugend im Orient kennenlernte. Mithin erzählt ein 80-jähriger Bosnier (wir nähern uns in seiner Gestalt Sarajevo), was der 80-jährige Omar Chayyam ihm berichtet hat. Das Manuskript dieses erzählerischen Methusalem-Projekts findet dann Anfang der 1990er Jahre ein Doktorand in der während der Belagerung zerstörten Bibliothek von Sarajevo.

Um das dort verbrannte Manuskript zu rekonstruieren, erzählt er seinerseits nach, was er einst gelesen hatte, und schließt mit den Worten: „Kommt her, meine Lieben, kommt, alle ihr Schwachsichtigen und Schüchternen, Streber und Bücherwürmer, Büffler und Brillenträger, Wortverschlinger und Papierfresser, kommt, ihr Unangepassten und Zurückgezogenen, Stillen und Unsicheren, ihr, die ihr die Welt zu sehr liebt, um sie zu erobern und zu beherrschen, kommt zu mir, damit wir alles, was wir gehabt haben, wiederherstellen.“ Karahasan erweist sich hier in seiner charakteristischen Mischung aus Skepsis und Humor, in seiner kunstvoll eingebauten Huldigung an das Erzählen als ein großer Romancier voll schierer Erzähllust.

In seinen Erzählungen, 2019 unter dem Titel "Ein Haus für die Müden" erschienen, zeigt der bosnische Schriftsteller seine ganze Kunst der Widersprüche und Paradoxien. Viele Geschichten beginnen mit einer allgemeinen, philosophischen oder theologischen, Reflexion, oft gefiltert durch das Denken und Fühlen einer Figur. Und bald schon reichert er seine Sätze mit Details an, mit Witzen, mit Staub und Schmutz von menschlichen Händen, mit Feuchte, Ruß und Gerüchen, mit all dem "unsichtbaren Dreck, der uns umgibt und nur zusieht, woran er sich kleben und wie er Sichtbarkeit erlangen kann".

Durch diesen Staub laufen die Figuren, Menschen, die gern grübeln und stolz auf ihre kleinen "Narreteien" und Verdrehungen sind. Der Bauer Karlo Brzohod etwa, menschenscheu und ein Witwer, fürchtet sich, „über der Zersplitterung der Welt“ den Verstand zu verlieren. Rundum „eine Unzahl selbständiger und isolierter, selbstgenügsamer und in sich geschlossener Anblicke“, nur keine Ganzheit weit und breit. Allein beackert er sein Feld, die Frau ist tot, von der stämmigen und lebenstüchtigen Freundin Hajrija lässt er sich nichts sagen. Deren Briefe an Geliebte, Ehemänner und Kinder hat er veruntreut, den eigenen Sohn mit dem Satz „Ihr habt kein Wissen, ihr seid Fachleute“ beleidigt, der Hast des Fortschritts entgegengehalten: „Bewahre mich Gott davor, an einem Tag das zu machen, wofür man zehn braucht, was würde ich mit neun Tagen Überschuss im Leben anfangen?“ Widerstand um jeden Preis, Beharren auf Selbständigkeit und Andersheit, bloß kein Bediensteter oder Angestellter werden, damit die „Unwirklichkeit“ nicht überhandnimmt.

Oder Tahir aus „Samtblumen an ihrer statt“. Kein seltsamer Vogel, sondern die ergreifendste Figur des Buches. Wie Karahasan in Duvno geboren, ging er, weil er sich von der Familie unverstanden fühlte, ins ferne Australien und kehrt nun nach vielen Jahren an seinen Geburtsort zurück, um den Eltern ein Scheinbegräbnis auszurichten. Beerdigt sind sie in Norwegen, wo der Bruder lebt. Doch Tahir will ihnen wenigstens ein symbolisches Grab besorgen und lässt einen Imam das Totengebet sprechen. Anschließend streift er, bei heftigem Wind, durch das menschenleer wirkende Städtchen, das er kaum wiedererkennt und stößt auf das verlassene Haus einer Freundin seiner Mutter, der schönen Fahrija, die ihm in seiner Kindheit die glücklichsten Momente beschert hat und befindet sich längst außerhalb von Raum und Zeit. Die wunderbaren Erzählungen dieses Bandes führen durch ein Jahrhundert bosnischer Geschichte, vom Ersten Weltkrieg (Zeitpunkt der ersten Erzählung) über den Zweiten Weltkrieg bis ins 21. Jahrhundert.

Einübung ins Schweben

Auch Karahasans jüngster Roman, «Einübung ins Schweben» (2022), stellt Sarajevo in den Mittelpunkt. Eine Stadt im Belagerungszustand, die in Armut, Chaos und Finsternis zu versinken droht. Traditionelle nachbarschaftliche Verhältnisse funktionieren zwar noch, doch Drogenbanden und Korruption zersetzen das geschwächte soziale Gefüge. Was dies bedeutet, erfährt der renommierte Altphilologe und Dichter Peter Hurd, den es zu Beginn der Belagerung nach Sarajevo verschlägt, wo sein Freund und Übersetzer Rajko eine Lesung organisiert hat. Hurd entschließt sich, zu bleiben, streift tagelang allein durch die eingekesselte Stadt, ergibt sich dem Drogenrausch und den Exaltationen einer vermeintlich absoluten Freiheit, die den Tod mit einschließt. Am Ende sieht sich das Freundespaar gezwungen, Sarajevo auf abenteuerlichen Wegen zu verlassen. Rajko begleitet Hurd nach Sizilien, wo seine geistige Zerrüttung immer offensichtlicher wird, während er selber von Traumbildern verfolgt wird. An der Documenta in Kassel, wo der einen Vortrag über „Freiheit der Kunst und Kunst der Freiheit“ halten sollte, zerreißt er sein Manuskript und bricht in Tränen aus. Er ist an sein klägliches Ende gekommen.

„Einübung ins Schweben“ zeigt nicht nur eine Stadt im Ausnahmezustand, sondern auch eine Figur, die durch den Zusammenprall abendländisch individualistischen Denkens mit einer orientalisch mystischen Erfahrungswelt aus den Fugen gerät. Peter Hurd, der in Sarajevo den Tanz der Mevlevi-Derwische kennenlernte und diesen „in einer seiner chemischen Ekstasen mitten im Wohnzimmer“ seines sizilianischen Hauses aufführt, behauptet: „Ich bin die Wahrheit“, um hinzuzufügen: „Oder nichts.“ Sein Größenwahn zerplatzt in der Berührung mit dem mystischen Andern, sein Ich löst sich gleichsam auf. Das Schweben wird zum Symbol für einen Zustand zwischen Wirklichkeit und Traum, für das Ende aller vermeintlichen Gewissheiten. Bis auf eine: die Freundschaft. Rajko harrt bei seinem kranken Freund aus. Mehr noch: Er schreibt ein Buch über ihn, um ihr gegenseitiges Verhältnis zu ergründen. Es ist typisch für Dževad Karahasan, dass er die Freundschaft in diesem Buch – wie in vielen andern – als verlässlichen Wert hochhält. Freundschaft, zu der auch Gastfreundschaft und das produktive Streitgespräch gehören, widersteht den zerrütteten Zeitläuften, als soziale Keimzelle schafft sie Stabilität und Kontinuität.

Karahasan verweigert sich allem Trendigen. Wer ihn liest, staunt über die Klarheit und Schönheit seiner Sprache, über die Souveränität, mit der er Historie und Gegenwart, Archaik und Zeitgeist, Spannung und Langsamkeit zusammenbringt. Er ist ein Erzähler nicht nur von europäischem, sondern von Weltrang.

Foto: (c) Suhrkamp Verlag