Edel, Rabea - Portrait meiner Mutter mit Geistern

Veröffentlicht am 13.06.2025
Schlaglichter auf eine bewegte Familiengeschichte.
Zuerst kommen die Wanderjahre, in denen die 1945 geborene, alleinerziehende Martha mit ihrer kleinen Tochter Raisa von Ort zu Ort zieht, um möglichst großen Abstand zwischen sich und ihre Familie zu bringen, von der sie nichts mehr wissen will. Ein kleiner Koffer ist alles, was die beiden haben, und mit Gelegenheitsjobs kann Martha unabhängig leben. Dann, kurz vor Raisas Einschulung, wird sie mit ihrer Tochter sesshaft in einer Stadt und einer Siedlung, die sie lange gemieden hat. Darauf folgen die Jahre des Schweigens, denn Martha will die immer drängender werdenden Fragen ihrer Tochter nach dem Vater und nach den Großeltern nicht beantworten. Zu sehr lähmen sie schmerzvolle Erinnerungen an häusliche Gewalt und an den Verlust ihres ersten Kindes, zu groß ist ihr Wunsch, Raisa unbelastet aufwachsen zu lassen.
Allerdings sind da noch andere Erzählstimmen aus vergangenen Jahrzehnten, die Schlaglichter auf die bewegte Familiengeschichte werfen. Angefangen von der Großmutter Dina über Marthas Mutter Selma bis zu Jakob, der als Sohn einer jüdischen Mutter im Krieg versteckt werden muss und 1945 nach Amerika auswandert, bevor er Selma, seine große Liebe, noch einmal trifft. Erst als einsamer alter Mann in New York versucht er, sich seinen Erinnerungen zu stellen und seine Geschichte aufzuschreiben. Auch ihm hat man vieles verschwiegen, zum Beispiel, dass Selma eine Tochter zur Welt gebracht hat. Seine bruchstückhaften Schreibversuche erreichen nach langer Zeit Raisa und helfen ihr, aber auch den Leserinnen und Lesern, zu verstehen, wie die Zeit vor und nach dem Zweiten Weltkrieg Marthas und damit auch Raisas Familie geprägt hat.
Das Schweigen, das „Nicht-darüber-Reden“ zieht sich durch alle Generationen und steht symbolhaft für die Nachkriegszeit, in der viele Ereignisse verdrängt wurden, damit sie nicht real wurden und einen Neuanfang behinderten. Im Alter erkennt Jakob, dass Erzählen auch beim Gesundwerden helfen kann, und die 1982 geborene Raisa will das Verschweigen sowieso nicht mehr hinnehmen. Endlich kann auch ihre Mutter Martha sich dazu durchringen, von ihrer Vergangenheit zu erzählen, allerdings nicht in einem offenen Gespräch. Sie versteckt für ihre Tochter Zettel in der Gartenmauer, auf denen sie – fast märchenhaft verschlüsselt – Ereignisse aus ihrer bewegten Vergangenheit aufschreibt.
Viele Menschen bevölkern diesen Roman, und es wäre interessant, auch ihre Spuren weiter zu verfolgen. Was wurde aus Jakobs Mutter Meta, nachdem sie von den Nazis abgeholt wurde? Hat Jakobs Freund Oskar den Krieg heil überstanden? Was hat Heinrich, Selmas Mann, in den Augen seiner Tochter zu einem Tier werden lassen? Aber es sind die Frauen, die im Mittelpunkt stehen, und ihr unbändiger Wille, ihr Leben zu meistern.
Gute Literatur schafft es, in persönlichen Schicksalen gesellschaftlich Relevantes zu thematisieren, und das gelingt der 1982 geborenen Autorin in diesem autofiktionalen Roman über die Geschichte ihrer Mutter sehr eindrucksvoll.
Ida Dehmer
Edel, Rabea - Portrait meiner Mutter mit Geistern
Roman. München: Beck 2025. 396 S. - fest geb. : € 27,50 (DR) ISBN 978-3-406-82971-0