Elif Shafak - Der große Kreislauf des Lebens
Veröffentlicht am 12.11.2024
Brigitte Winter über Leben und Werk von Elif Shafak.
Elif Shafak ist die wohl prominenteste und international bekannteste Schriftstellerin der Türkei. Sie schreibt sowohl auf Englisch als auch auf Türkisch und gilt als wichtige Stimme für Feminismus, Diversität und Menschenrechte. In ihren zahlreichen Romanen thematisiert sie gesellschaftliche Tabus, Minderheitenrechte und die Komplexität von Identitäten. In der Türkei wurde sie deshalb schon öfters angeklagt, unter anderem wegen „Beleidigung des Türkentums“. Für den bislang einzigen türkischen Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk ist sie allerdings „die beste Autorin, die die Türkei im letzten Jahrzehnt hervorgebracht hat.“
Elif Shafak wurde 1971 in Straßburg als Tochter der Diplomatin Şafak Atayman und des Soziologieprofessors Nuri Bilgin geboren und wuchs unter anderem in Madrid und Amman auf. Nach der Trennung ihrer Eltern zog sie mit ihrer Mutter zur Großmutter nach Ankara und so verschwand ihr philosophischer Vater (wie sie ihn nannte) für 20 Jahre aus ihrem Leben. Ungewöhnlich für eine Türkin ihrer Generation in einem konservativen Viertel von Ankara, war ihre alleinerziehende Mutter zurück zur Universität gegangen, um das Studium abzuschließen, das sie wegen ihrer Heirat abgebrochen hatte. Ihre Großmutter war, so Shafak, „etwas wie eine Heilerin“, die Blei schmolz, um den bösen Blick abzuwehren, und auch eine begnadete Geschichtenerzählerin, weswegen ihre Enkelin sehr gut mit der mündlichen Kultur Anatoliens vertraut ist. Eigentlich heißt die Autorin Elif Bilgin (so ihr Geburtsname); das Pseudonym Şafak (türkisch „Morgenröte“) ist der Vorname ihrer Mutter, die sie als Kind als „abla“ (große Schwester) ansprach. „Die Verbindung zu meinem Vater war sehr brüchig. Ich war der dunkle Fleck in seinem Leben“, so die Schriftstellerin.
Sie studierte an der Technischen Universität des Nahen Ostens in Ankara Internationale Beziehungen, erhielt einen Master in Gender Studies und promovierte in Politikwissenschaft. 2005 war sie am Wissenschaftskolleg in Berlin tätig, ab 2006 als Gastdozentin an der University of Arizona in Tucson. Sie hat seither an etlichen Universitäten in der Türkei, den USA und in Großbritannien gelehrt. Seit mittlerweile 15 Jahren ist die preisgekrönte Autorin britische Staatsbürgerin und lebt in London mit ihrem Mann, dem türkischen Journalisten Eyüp Can Sağlık, mit dem sie eine Tochter und einen Sohn (geboren 2006 und 2008) hat.
Bereits im Alter von acht Jahren hatte sie begonnen, ein Tagebuch zu schreiben: „Aber das wirkliche Leben war so langweilig, dass ich fast nichts zu sagen hatte, und so begann ich, über Menschen zu schreiben, die nicht existierten, und über Dinge, die nicht passiert waren. Es war ein sehr schneller Weg von Tagebüchern zu Kurzgeschichten, und von diesem Moment an schrieb ich immer weiter.“ Als ihre Mutter ihr Studium mit mehreren Sprachen abschloss und einen Job im Außenministerium bekam, war Elif zehn Jahre alt und ihr Leben wurde plötzlich spannender. Der erste Job der Mutter führte die beiden nach Madrid. „Es war ein großer Kulturschock für mich, in diese sehr internationale, noble Schule mitten in Madrid gedrängt zu werden, wo ich die einzige türkische Schülerin war“, erinnert sie sich in einem Interview (Claire Armitstead, The Guardian, 3.8.2024): „Ich musste sehr schnell Spanisch lernen. Ich musste sehr schnell Englisch lernen und diese Erfahrung habe ich sehr geschätzt. ‚Don Quijote‘ auf Spanisch lesen können; plötzlich zu entdecken, dass es eine riesige Literatur auf Englisch gibt, auf die ich jetzt zugreifen kann – das war das Geniale. Das Schwierige war, mit den anderen Kindern mitzuhalten. Ich war sehr introvertiert und wurde in der Schule oft gemobbt.“
Obwohl Spanisch ihre Zweitsprache war, wurde Englisch zu ihrem sicheren Ort, an dem sie Gedichte schrieb und ihr Tagebuch führte. Das Schreiben in einer anderen Sprache gab ihr die Distanz, auf ihre Herkunft zu blicken. Viele Jahre später, nachdem sie ihre ersten Romane auf Türkisch veröffentlicht hatte, entschloss sie sich, ganz auf Englisch umzusteigen. „Es gab einen Moment in meinem Leben, in dem ich mich so erstickt fühlte“, sagt sie. „Aber das war sehr beängstigend, weil du niemand bist. Man muss noch einmal ganz von vorne anfangen. Gleichzeitig war es paradoxerweise befreiend, denn in der Türkei ist es wirklich schwer, Schriftstellerin zu sein, und als Frau ist es noch schwerer. Alles, was sie sagen, alles, was sie schreiben, kann angegriffen und werden; sie können vor Gericht gestellt, verbannt oder eingesperrt werden – Worte sind schwer. Das Schreiben in einer anderen Sprache verschaffte mir die kognitive Distanz, die ich brauchte, um einen genaueren Blick auf meine Herkunft werfen zu können“ (Claire Armitstead, The Guardian, 3.8.2024).
Schau mich an
In ihrem ersten Buch „Kem Gözlere Anadolu“ (1994, „Böser Blick Anatoliens“ versammelt Elif Shafak kurze Geschichten aus dem täglichen Leben von Menschen in Anatolien, in den sich Themen aus der Mythologie und Märchen mit dem Alltagsleben und Denken der Menschen verbindet. Ihr erster Roman „Pinhan“ (1997) widmet sich dem Leben und Wirken des berühmten persischen Mystikers Celaleddin Rumi, das auch mit einem Literaturpreis aus dem Bereich der islamischen Mystik ausgezeichnet wurde.
Quer durch Europa führt die Leserin, den Leser der historische Roman „Spiegel der Stadt“ (2000), beginnend im Spanien der Inquisition des 17. Jahrhunderts über Italien bis hin zum Osmanischen Reich. Die Inquisition verfolgt die jüdischstämmige Familie Pereira. Unmittelbarer Auslöser ist der Neid. Eine nicht erlaubte Liebesbeziehung führt zur nächtlichen Verhaftung und zum erbarmungslosen Durchgreifen der Inquisitoren. Nur um Haaresbreite entkommen die Pereiras der Verbrennung auf dem Scheiterhaufen. Teilen der Familie gelingt dann doch die mühsame Flucht nach Istanbul, das damals Tausende von Sepharden (jüdische Flüchtlinge aus Spanien und Portugal) aufnahm und ihnen somit das Leben rettete.
„Mahrem“ (zu Deutsch: geheim, intim, vertraulich) ist der Originaltitel des 2000 erschienenen Romans „Schau mich an“. Und es geht auch ums Anschauen, um die jeweilige Wahrnehmung des eigenen Körpers und wie er sich in den Blicken der anderen widerspiegelt. Die Protagonistin des Romans, die auch die namenlose Erzählerin ist, fällt wegen ihrer ungemeinen Leibesfülle überall auf. Ihre 132 kg trotzen allen Diäten, Kuren, auch Gymnastik und unterschiedliche Therapien bringen nichts. Sie hat beinahe alles versucht, um abzunehmen, und mittlerweile hat sie resigniert, gibt ihren Fressanfällen nach, bezahlt etwa im Taxi widerstandslos zwei Plätze und bleibt am liebsten daheim, um sich „vor den Augen da draußen (zu) verstecken“. In einer mehrere Jahrhunderte überspannende Erkundung zeigt Elif Shafak in diesem für sie außergewöhnlichen Roman, mit Humor und angebrachten Sinn für Tragik, was es heißt, andere anzuschauen und angeschaut zu werden.
Der Bastard von Istanbul
„The Saint of Incipient Insanities“ (2004, „Die Heilige des nahenden Irrsinns“) ist der erste Roman Elif Shafaks, den sie auf Englisch schrieb. Es ist die Geschichte einer Gruppe von Mittzwanzigern: Omer, Abed und Piyu sind in einer Wohngemeinschaft lebende Ausländer, die alle kürzlich in den USA angekommen sind. Omer aus Istanbul, Student der Politikwissenschaften, gewöhnte sich schnell an sein neues Zuhause und hat sich in die bisexuelle, intellektuelle Schokoladenherstellerin und suizidgefährdete Gail verliebt. Sie ist Amerikanerin, fühlt sich aber wie verstoßen und schwankt von einer Obsession zur nächsten, auf der Suche nach festem Boden. Abed strebt einen Abschluss in Biotechnologie an, sorgt sich über Omers merkwürdiges Verhalten und den unerwarteten Besuch seiner Mutter in Amerika. Es fällt ihm schwer, den Kontakt zu seiner Freundin in Marokko aufrechtzuerhalten. Der Spanier Piyu macht trotz seiner Angst vor scharfen Gegenständen eine Ausbildung zum Zahnarzt und ist verblüfft von seiner mexikanisch-amerikanischen Freundin Algre und deren vielen Verwandten. Dieser äußerst humorvolle und lebendige Roman erkundet umsichtig und sensibel die Themen Liebe, Freundschaft, Kultur, Nationalität, Exil und Zugehörigkeit.
Der zweite Roman, den sie auf Englisch veröffentlichte, „The Bastard of Istanbul“ (2006, „Der Bastard von Istanbul“) befasste sich mit dem Völkermord an den Armeniern im Jahr 1915, den der türkische Staat bis heute nicht anerkennt. In Großbritannien ein Bestseller, wurde Elif Shafak deswegen in der Türkei wegen „Beleidigung des Türkentums“ strafrechtlich verfolgt. Obwohl sie später auf Antrag des Staatsanwalts freigesprochen wurde, ermittelte man gegen sie auch wegen Obszönität in anderen Büchern. „Für mich“, sagt Shafak, „war der größte Wendepunkt, dass ich nach ‚Der Bastard von Istanbul‘ vor Gericht gestellt wurde. Ich war damals schwanger. Und zufällig wurde ich am Tag nach meiner Geburt freigesprochen. Das ganze Jahr war wirklich beunruhigend. Es gab Gruppen auf den Straßen, die mein Bild bespuckten und EU-Flaggen verbrannten. Mir wurde Beleidigung des Türkentums vorgeworfen, obwohl niemand wusste, was das bedeutete. Und es war ziemlich surreal, weil die Worte fiktiver Figuren aus dem Roman entnommen und als Beweismittel im Gerichtssaal verwendet wurden, was dazu führte, dass mein türkischer Anwalt meine armenischen fiktiven Figuren verteidigen musste“ (Claire Armitstead, The Guardian, 3.8.2024).
Im Mittelpunkt des Romans steht die 19 Jahre alte, intelligente, schöne (und unglückliche) Armanoush. Sie lebt, seitdem sich ihre Eltern scheiden ließen, in zwei vollkommen unterschiedlichen Welten. Während ihre Mutter Rose ihnen in Arizona den American Way of Life nahebringt, möchte die Familie ihres armenischen Vaters in San Francisco, dass sie streng nach den Traditionen ihrer alten Heimat lebt – und dies um so mehr, da die Mutter von Armanoush in zweiter Ehe ausgerechnet mit dem Türken Mustafa verheiratet ist! Mit den Jahren wird sie sich selbst immer fremder – ist sie nun eine amerikanische Armenierin oder eine armenische Amerikanerin? Sie macht sich auf zu einer Reise nach Istanbul, um die türkische Familie ihres Stiefvaters zu besuchen und wird herzlich willkommen geheißen. Doch sie wundert sich über die Kazancis und ihr Haus, die merkwürdigen weiblichen Bewohner und vor allem über die totale Ignoranz der türkisch-armenischen Geschichte. Nur in der vaterlos aufgewachsenen Asya findet sie jemanden, die versteht, warum sie derart viele Fragen stellt.
Der temporeiche, durchaus auch humorvolle Roman nimmt sich so ziemlich alles vor, was in der Türkei gesellschaftlich brisant ist: vom Patriarchalismus und Sexismus bis hin zur Geschichtsvergessenheit, wofür sie im vergangenen Herbst wegen Herabsetzung des Türkentums angeklagt wurde. Es ist eine überaus unterhaltsame Lektüre, bei der man vieles lernen kann. Mit den Protagonisten zweier Klans (eines türkischen, der nur noch aus Frauen besteht, und einer armenischen Diaspora-Familie, auf der hundert Jahre Traumata lasten) werden die unterschiedlichsten Erinnerungen solcherart zusammenführt, dass ein jeder die fehlenden Teile der eigenen Geschichte in der Geschichte des jeweils anderen wiederfinden kann.
Der Geruch des Paradieses
Mit ihrem nächsten Werk „The Forty Rules of Love“ (2009, „Die vierzig Geheimnisse der Liebe“) wendet sich Elif Shafak dem Sufismus zu, der auch das religiöse Leben in der Türkei lange prägte. Es geht um den großen persischen Mystiker Rumi und seinen Gefährten Schams Tabrizi und es wir erzählt, wie Schams einen Gelehrten mittels Liebe in einen Sufi (Mystiker) verwandelt. Geschildert wird dies aus der Perspektive von Ella Rubenstein, die mit ihren Kindern in einer Kleinstadt in den USA lebt, deren Lebensleere erst der Liebesfähigkeitnweicht, als sie den Autor des Buches über Rumi und Schams kennenlernt.
In „Honour“ (2011, „Ehre“) befasst sich Shafak dann mit einem Mord an einer kurdisch-türkischen Familie, verübt vom ältesten Sohn, der die Ehre der Familie in Gefahr gesehen hat. Es beginnt friedlich in einem entlegenen türkischen Dorf, wo die Zwillingsschwestern Pembe und Jamila aufwachsen – beide weitere Enttäuschungen in einer Reihe von Kindern, die alle kein Junge werden wollten. Viele Jahre später lebt Pembe mit ihrem Mann, der eigentlich Jamila heiraten wollte, in London mit ihren drei Kindern, zwei Söhnen und einer Tochter. Jamila blieb in der Türkei, lebt zurückgezogen als „jungfräuliche Hebamme“ und als sogenannte Heilerin in einer Hütte in den Bergen.
„The Architect’s Apprentice“ (2013, „Der Architekt des Sultans“) ist der nächste umfängliche Roman der fleißigen Autorin. Hier lernt der junge Jahan als Elefantenführer des Sultans im Istanbul des 16. Jahrhunderts den Hofarchitekten Sinan kennen, den berühmtesten Baumeister in der islamischen Welt. Dieser errichtet gemeinsam mit dem weißen Elefanten des Jungen mehrere Moscheen, Paläste, Mausoleen und Aquädukte, zeitlose Meisterwerke. Doch hinter Jahans neuem Leben ereignen sich diverse Intrigen und Kriege, die mehr zerstören, als dass sie Neues schaffen können. Shafaks großes historisches Epos ist eine wortgewaltige Liebeserklärung an das alte Istanbul mit all den vielen Völkern, Sprachen und Religionen. Und nebenbei auch eine Absage an die heutige Gesellschaft und Politik der Türkei.
In dem 2016 erschienenen Roman „Three Daughters of Eve“ (auf Deutsch unter dem Titel „Der Geruch des Paradieses“) wird die Protagonistin Peri bereits in frühen Jahren in ihrem Elternhaus mit Extremen konfrontiert. Ihr streng säkular denkender und lebender Vater hat Atatürk-Porträts in der Wohnung aufgehängt und für die Idee Gottes nur einen augenzwinkernden Witz übrig. Ihre Mutter Selma hat sich andererseits dem Kreis eines glaubensstrengen Predigers angeschlossen, weigert sich zum Beispiel, Männern die Hand zu geben, und fordert am Strand Frauen im Bikini auf, sich zu verhüllen. Die Spaltung ihrer Familie vor Augen, stellt Peri sich für die nächsten Jahre die Frage, ob es einen „dritten Weg“ geben kann, der aus diesen starren Dualitäten herausführt.
Ihre Suche nach spirituellen Erfahrungen abseits vom kleinlichen Religionsstreit führt sie beim Studium in Oxford in ein Seminar mit dem einfachen Titel „Gott“, gehalten von einem Professor namens Azur. Er will die unterschiedlichen Glaubensrichtungen direkt miteinander konfrontieren und sieht in der Auseinandersetzung die Chance, doch Gemeinsamkeiten zu entdecken. Er kann als eine Art Alter Ego von Elif Shafak angesehen werden. „Ich glaube, Peris Geschichte ist gewissermaßen die Geschichte der Türkei. Und die Konflikte, mit denen sie umgehen muss, sind die Konflikte, mit denen die Türkei umgehen muss. Ich bin vielen Familien begegnet, in denen die Mitglieder oder die weitere Verwandtschaft mit unterschiedlichen Weltanschauungen sympathisieren. All diese Konflikte wollte ich in der Familie Nalbantoğlu verdichten. (…) Es ist die Aufgabe der Literatur, die Komplexität von Menschen zu zeigen, die Komplexität des Lebens. Die Politik macht einfache Verallgemeinerungen: Wir und die anderen. Literatur aber muss nuanciert sein. Natürlich fühlt sich Peri – und auch ich selbst – dem Vater näher. Aber ich versuche auch zu verstehen, warum die Mutter sich so verhält. Wir alle bestehen aus widerstreitenden Identitäten. In uns gibt es verschiedene Stimmen. Im Alltag können wir nicht alle hörbar machen. In der Kunst aber ist das möglich. Deshalb liebe ich die Fiktion so sehr“ (Interview in Die Welt, 24.10.2016).
Der 2021 herausgekommene Roman „The Island of Missing Trees“ („Das Flüstern der Feigenbäume“ spielt im Jahr 1974 kurz vor dem Bürgerkrieg im idyllischen Zypern. Der Grieche Kostas und die Türkin Defne treffen sich regelmäßig in einem Lokal, das einem schwulen Paar gehört – der einzige Ort, an dem sie sich begegnen können. Gleichsam der einzige Zeuge ihrer glücklichen Begegnungen ist der Feigenbaum im Innenhof der Taverne, der auch noch da ist, als der Krieg ausbricht und viele Menschen plötzlich spurlos verschwinden. Heute nun steht der Baum im Garten von Kostas und seiner 16-jährigen Tochter Ada in London. Ada kennt die Geschichte ihrer Eltern nicht, Kostas schweigt über Adas Mutter, seine verstorbene Frau Defne. Lediglich die Wurzeln des Feigenbaums, davon ist er überzeugt, stellen noch eine Verbindung dar zu dem, was damals in Zypern geschehen ist. Ada beginnt jedoch nachzuforschen und möchte hinter die Gründe für das Schweigen ihres Vaters kommen. Vor allem: Warum musste ihre Mutter sterben? Es ist ein äußerst eindringlicher Roman, ein Buch über Liebe und von Leid, von Spaltung und von Gemeinsamkeit und es schlägt nicht zuletzt auch eine Brücke zwischen Mensch und Natur: „Wenn Sie aber die Liebe suchen oder sie verloren haben, gehen Sie zu einer Feige, immer zu einer Feige.“
Am Himmel die Flüsse
In ihrem bislang letzten Roman „There are Rivers in the Sky“ (2024, „Am Himmel die Flüsse“) erzählt Elif Shafak opulente Geschichten, die sich durch Jahrhunderte und Kulturen schlängeln, die Erzählstränge verbindend durch das Thema der Migration. Ein Regentropfen verbindet drei Menschen über Zeiten und Räume hinweg: einen armen, begabten Jungen im London des 19. Jahrhunderts, ein jesidisches Mädchen aus dem Osten der Türkei und eine depressive Forscherin im heutigen London. Im antiken Ninive war dieser Regentropfen zuerst dem König Assurbanipal auf den Kopf gefallen und so konnte der Regentropfen beobachten, wie der Herrscher einen Berater unbarmherzig bestrafte. „Noch Jahrhunderte später wird eine Spur dieses Augenblicks in der elementaren Form des Tropfens enthalten sein“ – und so wird in diesem großen Roman eine Geschichte erzählt, die mehrere Kulturen und einige Jahrhunderte umspannt.
Als Schneeflocke fällt der Tropfen dann im Jahr 1840 in London auf das Gesicht eines neugeborenen Kindes mit dem Namen Arthur, der als „König der Abwasserkanäle und Elendsquartiere“ in großer Armut aufwächst. Arthur ist jedoch wissbegierig und begabt, bringt es schließlich zu einem Job im British Museum, in dem er sich vor allem mit den alten Tontafeln aus der Bibliothek König Assurbanipals beschäftigt. Auf diesen Tontafeln sind Fragmente des berühmten Gilgamesch-Epos eingemeißelt. Arthur ist überzeugt und besessen davon, in den Ruinen von Ninive die verlorenen Teile des Textes entdecken zu können.
Im Jahr 2014 findet sich der Wassertropfen in der Flasche des neunjährigen Mädchens Narin, die mit ihrer Großmutter am Tigris-Ufer in einem jesidischen Dorf lebt, das wegen eines Dammbaus überflutet werden soll: „Eine zwölftausend Jahre alte Geschichte wird von einem Staudamm ausgelöscht, der fünfzig Jahre Bestand hat – die Lebenszeit eines Maultiers.“ Schließlich wandelt sich der Wassertropfen 2018 zu einer Träne der Hydrologin (Wasserforscherin) Zaleekhah, die nach dem Scheitern ihrer Ehe auf einem Hausboot lebt und ihren Selbstmord in der Themse plant: „Es wird weniger ein Weggang sein als eine Heimkehr, eine Rückkehr zum Wasser.“ Elif Shafak geht im weitausschweifenden und dennoch klar strukturierten Roman der Frage nach, wer denn Herr des kulturellen Erbes sein darf, und befasst sich ausführlich mit dem Thema Emigration und der daraus folgenden Wurzellosigkeit. Alle Figuren des Romans sind nämlich genauso heimatlos wie das Wasser („Wasser ist durch und durch Immigrant, es ist gefangen im Übergang und kann sich nirgends für immer niederlassen“). „Wie in einem orientalischen Teppich“, so schwärmt die Kritikerin Irene Binal (NZZ, 19.7.2024), „webt Shafak ihre Geschichten ineinander, deren Zusammenhang sich erst nach und nach erschließt. So steht am Ende wieder einmal Elif Shafaks zentrale Botschaft: Die Menschheit ist ein großes Ganzes, auch wenn sie immer wieder auseinanderdividiert werden soll. Was bleibt, ist ein beeindruckender Roman, der nah an der Perfektion ist. Ein Roman, der Elif Shafaks Ruf als große Erzählerin einmal mehr unterstreicht – und der auch ein flammendes Plädoyer ist gegen das Vergessen. (…) Denn, so heißt es an einer Stelle im Roman: ‚Das Wasser erinnert sich. Nur die Menschen vergessen‘“.
Elif Shafak hat mit diesem Werk, so auch Stefan Berkholz (wdr, 24.7.2024), einen „umwerfenden Roman verfasst, atemberaubend bis zum Ende. Sie hat, als ‚kleine Schreiberin‘, wie sie bescheiden und demütig zugleich anmerkt, letztlich den großen Kreislauf des Lebens mit ihren Figuren über die Jahrtausende beschrieben, jenen Kreislauf des Lebens, den viele Menschen übersehen in ihrer Hatz, in ihrer Gier, in ihrer Angst vor dem Tod. ‚Am Himmel die Flüsse‘ ist Shafaks Meisterwerk, ein sehr gegenwärtiges Märchen voller Geschichte und Geschichten, mit Warnungen an unsere selbstvergessene Gegenwart. Weitersagen und unbedingt lesen!“
Gegen Ende ihres traumwandlerisch schönen Romans verrät Elif Shafaks auch ihre Botschaft: „Wir formen aus unseren Träumen größere oder kleinere Gegenstände. Gefühle, die wir zwar haben, aber nicht akzeptieren, versuchen wir durch Dinge auszudrücken, die wir erschaffen – darauf vertrauend, dass sie uns überleben und etwas von uns durch die Schichten der Zeit transportieren, so wie Wasser den Fels durchsickert. Auf diese Art sagen wir zu den folgenden Generationen, denen wir nie begegnen werden: ‚Denkt an uns!‘ (…) Wir schaffen Kunst, um eine Spur für die Zukunft zu hinterlassen, eine kleine Krümmung im Fluss der Geschichten, der viel zu schnell fließt und viel zu wild ist, als dass wir ihn erfassen könnten.“
Foto: (c) Ferhat Elik