Elke Heidenreich - Die Liebe zu erzählten Geschichten

Elke Heidenreich - Die Liebe zu  erzählten  Geschichten

Veröffentlicht am 05.12.2023

Ein Porträt, zum 80. Geburtstag. Von Karin Berndl.

Elke Helene Heidenreich kann wohl als einer der ersten großen Medien-Star des deutschen Fernsehens in Sachen Literatur bezeichnet werden. Keine hat sich so wie sie medial im deutschsprachigen Raum für Literatur und der Lust am Lesen eingesetzt. Die Schriftstellerin startet ihre Karriere als Radiojournalistin, wird Hörspielautorin, Hörbuchsprecherin, Literaturkritikerin, Kabarettistin, Moderatorin und in ihren Siebzigern beginnt sie auch noch Opern-Libretti zu schreiben.

Sie ist ein Profi in Sachen Lesen. Randbemerkungen macht sie nur mit Bleistift, Eselsohren gibt es höchstens in Fahnen, ein Lesezeichen findet sich immer, wie sie es in zahlreichen Interviews erzählt. Lektüre auf der Toilette oder in der Badewanne ist nicht das ihre. Dass Elke Heidenreich im Dienste des Lesens und ihrer Leserschaft steht, zeigt sich, wie sie mit dem Projekt eines Sylter Luxushotels umgegangen ist, das sie mit der Einrichtung einer Bibliothek mit tausend Büchern beauftragt hat. Urlaub ist ihrer Ansicht nach nicht die Zeit für die großen, schweren Klassiker, sondern für Krimis, Kinderbücher, Novellen, Erzählungen und schmalen Bänden quer durch die Weltliteratur wie „Tonio Kröger“, „Herr und Hund“, Handkes „Wunschloses Unglück“, Bölls „Doktor Murkes gesammeltes Schweigen“ oder Martin Suters elegante Geschichten in „Business Class“. Für die Krimi-Auswahl hat auch sie einen Experten zugezogen. (Dass es sich hier um eine Aufzählung ausschließlich männlicher Schreibender handelt ist der Medienberichterstattung dazu geschuldet.) Zu Richard David Prechts Büchern mögen sich die Geister scheiden, doch hat er Heidenreich zu großen Teilen seinen Aufstieg und Erfolg zu verdanken.

Elke Heidenreichs Aufstieg geht einher mit einer nach den Wirtschaftswunderjahren zunehmenden Fülle an kulturellen Lebens der Bundesrepublik. Mit ihrer unerschöpflichen Neugier, ihrem wachen Geist, ihrem Fleiß spricht sie eine immer breiter werdende Mittelschicht der 1980er und 1990er Jahre an und scheut auch nicht den zunehmend konsumistischen Umgang mit Literatur zu bedienen und elitäre Strukturen zu hinterfragen. „Made in Germany“: ein Stück weit ist Heidenreich eine Repräsentantin und ein Garant für Qualität und Werte, die wie auch die Literatur merklich im kulturellen Leben an Bedeutung verlieren. Doch Heidenreich stellt sich diesen Veränderungen weiterhin, was wohl auch ihre ungebrochene Beliebtheit erklärt.

UNGLÜCKLICHE KINDHEIT UND DIE LIEBE ZU GESCHICHTEN

Elke Heidenreich wird in einer Kleinstadt in Nordhessen geboren und wächst in Essen auf. Der Vater ist Kfz-Mechaniker und Tankstelleninhaber, ihre Mutter Näherin für Kinovorhänge – ihren Hang zu rotem Samt erklärt sie aus dieser frühen Kindheitserinnerung. Während eines Kriegsurlaubs des Vaters wird sie gezeugt und 1943 geboren. In einem Interview sagt sie, dass sie vom Vater den Hang zum Leichtsinn, zur Untreue und zum Geldausgeben sowie das Aussehen geerbt hat; von der Mutter den Hang zur Melancholie, Literatur und Kultur hat („Elke Helene Heidenreich, geborene Riegert. Fast ein Selbstportrait“. Ein Film/Feature von Klaus Michael Heinz).

WAHLVERWANDTSCHAFTEN

Mit fünfzehn Jahren verlässt sie ihr Elternhaus und zieht zu jenem Pfarrer und seiner Familie, der sie ein Jahr zuvor konfirmiert hat. Als der Pfarrer nach Bonn berufen wird, tritt sie ins Clara-Schumann-Gymnasium ein, wo sie später maturieren wird. Im Pfarrhaus lebt sie in einer geordneten und von Abläufen geprägten Gemeinschaft voller Bücher, erfährt Struktur und Kultur, wie sie es sich in ihrem Elternhaus so ersehnt hätte. Doch was auch hier fehlt, ist Liebe, Wärme und Verbundenheit. Ihre Studien der Germanistik, Publizistik, Theatergeschichte und Religionswissenschaft führen sie nach München, Hamburg und Berlin. Diese Zeit ist auch von einer schweren Lungenkrankheit begleitet, die ihr einen Großteil ihrer Lunge kostet. Aus der Sehnsucht nach Zugehörigkeit stürzt sich die damals 22-Jährige in ihre erste Ehe mit dem Journalist und Autor Gert Heidenreich. Nach der Trennung heiratet sie noch im selben Jahr Bernd Schroeder. Diese Ehe wird 1995 geschieden. Beiden Männern ist sie noch lange Jahre beruflich verbunden. Seit 2005 lebt sie mit dem Hamburger Pianisten und Komponisten Marc-Aurel Floros in einer Partnerschaft.

Seit den 1970er Jahren ist Elke Heidenreich als Autorin und Literaturkritikerin für Presse, Funk und Fernsehen und aus der Medienlandschaft nicht mehr wegzudenken. Alles beginnt beim Hörfunksender SWF3. Bei einer Reportage über Pferderennen, für die sie von einem Radiosender beauftragt wird. Für das Pferderennen an sich kann sie sich wenig begeistern, wie sie später immer wieder in Interviews sagt, was die Gäste im breiten, Herz erfrischenden Ruhrpott-Dialekt kommentieren, weckt jedoch ihr Interesse und inspiriert sie zur bekannten Kunstfigur Else Stratmann.

In der Rolle der Comedy-Figur tritt sie 1975 erstmals auf und kommentiert das Verhalten der Nachbarin ebenso wie politisches und sportliches Geschehen. Ihre kecke Metzgersfrau aus Wanne-Eickel im Ruhrpott, die aus ihrem Kleinbürgerleben mit Mann Willi und Tochter Inge erzählt, wird sie elf Jahre lang auf Bühnen und in Sendungen begleiten. Wie sie in einem Interview sagt, vereint sie in der Figur der Else Stratmann „ein Stück gesunden Menschenverstand und ein Stück Respektlosigkeit in einer Welt, die immer vor Ehrfurcht versinkt vor Honoratioren.“

Es folgen zahlreiche Tätigkeiten als Moderatorin der rasant aufkommenden Fernseh-Talkshow-Formate, worin sie Film-, Fernseh- und Politikprominenz nicht selten genussvoll und gekonnt vorführt. Im „Kölner Treff „zeigt sie sich für diese Zeit als Frau im von Männern dominierten Medienbranche ungewöhnlich direkt, unverblümt und kritisch, was gepaart mit einem gesunden intellektuellen Reflex seine Wirkung hat. Zum Rechtsanwalt und Politiker Gregor Gysi sagt sie im Einstieg zu einem Gespräch: „Sind sie unsere letzte linke Hoffnung oder ein Schurke?“ Heidenreich gelingt dieser Balanceakt wie kaum einem vor oder nach ihr im Fernsehbetrieb. Diese Eigenschaft hat sie mit ihrer Kunstfigur Elke Stratmann gemeinsam: Bildung und Menschenverstand, gepaart mit einer herzerfrischenden Humor und einer Lust am Lernen und Denken.

KOLONIEN DER LIEBE

Heidenreichs große Sehnsucht gilt schon früh auch dem eigenen Schreiben. Mit knapp 50 Jahren erfüllt sie sich diesen Wunsch. Ende der 1980er Jahre kehrt sie Fernsehen und Radio den Rücken und widmet sich ganz ihrem Schreibprojekt. Für eine anerkannte Kritikerin ein riskantes Unterfangen mit einer enormen Fallhöhe. 1992 erscheint ihr literarisches Debüt, die Erzählsammlung „Kolonien der Liebe“. Es sind Geschichten über die Liebe und das Scheitern daran, der Sehnsucht danach, vom Anfang und vom Ende einer Liebe. Heidenreich ist eine erfahrene Leserin mit einem guten Gespür und einem großen Herz für kleinbürgerliche Welten, die sie selbst nur zu gut kennt: „Ich las alle Bücher, in denen etwas mit Liebe vorkam, besonders aufmerksam, aber es war kein System zu erkennen, wie Liebe denn nun funktionierte.“

Heidenreichs einsame Kindheit liefert den Stoff, aus dem diese Erzählungen sind. In der ersten Erzählung „Die Liebe“ berichtet die junge Erzählerin Sonja von ihrem ersten Freund Hansi, dem das kräftige Rölfchen folgt und den auch sehr rasch ein rothaariger Geiger ablöst. Während die Zahl der Namen auf der Kuss-Liste steigt, ändert sich nichts an der Einsamkeit der heranwachsenden, jungen Frau in der eigenen Familie. Sonjas Suche ist rastlos, geglückte Beziehungen und Ehen in ihrer Familie kennt sie keine. Rhett Butler und Scarlett O‘Hara geben ihre eine Ahnung von Leidenschaft und befeuern die Phantasie der Heranwachsenden. Die Liebe wird zum fernen Sehnsuchtsort in der eigenen Gedankenwelt, zum Fluchtpunkt in einer äußeren Welt des Unverbundenseins und der Fremdheit. So wie Literatur für Heidenreich zum einzigen Trost in der einsamen Kindheit wurde. In einer der einprägsamsten Geschichten „Das Herz kaum größer als eine Leichenfaust“ reist Lisa in ein italienisches Ferienhaus. Ihr Mann Richard soll nach wenigen Tagen nachfolgen. Sie genießt das Gewohnte an diesem Ferienort, doch nach und nach schleicht sich Einsamkeit und Melancholie in das Urlaubsidyll, und auch Zweifel für die wahren Gründen seines Ausbleibens – eine Ahnung. Dann nur eine einzige kurze Nachricht: „Brief folgt. Kuss, Richard.“ Lisa landet schließlich auf dem Obduktionstisch und während Richard sie identifiziert, freut er sich schon auf seine neue Liebe und das gemeinsame Kind. Es geht um das Ungleichgewicht in der Liebe, das schmerzende und jähe Ende einer Liebe, bedingt durch die unterschiedlichen Voraussetzungen und Vorstellungen von Frauen und Männern.

Hubert Spiegel resümierte: „Aber es ist eine Typologie ex negativo. Elke Heidenreich beschreibt nicht Spielarten der Liebe, sondern die verschiedenen Erscheinungsformen ihrer Abwesenheit. Nicht vom Umgang mit der Liebe wird hier erzählt, sondern von verschiedenen Arten, mit ihrem Fehlen fertigzuwerden“ (Hubert Spiegel, taz, 13. 6. 1992). Das Buch des Publikumslieblings wird zueinem Bestseller und wohlwollend von der Kritik aufgenommen. Es ist lange Zeit auf den Bestsellerlisten des „Spiegels“, die sie in den 1990er Jahre nicht nur auf diese Art beeinflusst. Heidenreich hat dabei immer eine spezifisch journalistisch geprägte Wahrnehmung und einen liebevollen Blick auf verschiedene Lebensrealitäten, die wohl auch einen Teil ihres Erfolgs beim Publikum erklären.

NERO CORLEONE

Über das von Quint Buchholz illustrierte Buch „Nero Corleone“ sagte sie selbst, es sei „eine Katzengeschichte von einem Kater, der aus Italien nach Deutschland kommt, dort ein großer, starker und gefürchteter Macho wird und im Alter wieder zurück auf seinen alten Bauernhof geht. Für die Erwachsenen ist es die Liebesgeschichte zwischen einer etwas sentimentalen Frau und einem italienischen Macho. Und es ist auch eine Mafia-Geschichte … Er erpresst Schutzgelder, er beschützt einen alten Kater, er schwängert, wen er will, er unterdrückt, er raubt. Irgendwie hatte ich Lust, eine Geschichte zu schreiben, die mit acht Jahren auf der einen Ebene lesbar ist und mit dreißig auf der anderen.“

Das Büchlein wird in 23 Sprachen übersetzt und erhält viele Auszeichnungen. „Nero Corleone“ (1995) wird unter den Top Ten der Jahresbestsellerliste des „Spiegels“ 1996 geführt. Bereits im ersten Jahr des Erscheinens verkauft es sich 250.000 (!) Mal. Elke Heidenreich kann nach diesem gelungenen Wurf ihre Moderationstätigkeit aufgeben und sich von nun an ganz aufs Schreiben konzentrieren. Von 1983 bis 1999 gehört Elke Heidenreichs Kolumne fix zur Frauen-Zeitschrift „Brigitte“. Die gesammelten Kolumnen erscheinen natürlich aufgrund der Beliebtheit und Vermarktungsgründen auch in Buchform. 2005/2006 gibt Heidenreich auch eine eigene Edition mit 26 literarischen Empfehlungen heraus.

KOOPERATIONEN

Die Edition erreichte eine Gesamtauflage von fast zwei Millionen Exemplaren. Auch die Bertelsmann-Gruppe machte sie sogleich zur Herausgeberin einer nach ihr benannten Edition. Kurze Zeit soll Elke Heideneich dann auch in der Verlagsgruppe Random House ihre inzwischen beiden großen Leidenschaften Musik und Literatur vereinen können. Für das Kinderbuch „Am Südpol, denkt man, ist es heiß“ (1998)“ reist sie mit dem Fotografen Tom Krausz im Auftrag der Zeitschrift „Brigitte“ nach Neuseeland. Mit ihm wird sie später auch einen Band über den Rhein herausgeben, den sie dafür gemeinsam vom Ursprung aus bereisen. Gemeinsames Nachspüren des Urgrunds und des Bösen findet sich auch in der gelungenen Kooperation im Bildband „Schlafes Mörder: Macbeth“ (2002).

Auch in „Sonst noch was! Oder die Kunst, miteinander zu reden (1999)“ stehen Tiere und ihre oft skurrilen Beziehungen zu Menschen im Mittelpunkt. In der Folge erscheinen „Nurejews Hund oder was Sehnsucht vermag“ (2002)“. Und gemeinsam mit ihrem Ehemann Bernd Schroeder entsteht auch der Erzählband „Rudernde Hunde“ (2002)“. Ihre Erzählungen zeugen von einem liebevollen Blick auf Menschen, ihre Beziehungen, Erwartungen und Vorstellungen ans Leben und der oft ironische und unverstellte Blick auf Lebensrealitäten, alltägliche Tücken ermöglichen eine unmittelbare und einfache Identifizierung. Leicht ist nicht gleich seicht und diese feinen Unterschiede beherrscht Heidenreich exzellent. 2001 erscheint die Erzählungssammlung „Der Welt den Rücken“, die autobiographisch gefärbt ist.

LESEN!

Kurzzeitig moderiert Elke Heidenreich in den 1990er Jahren den „Literaturclub“ des Schweizer Fernsehens. Ihr Temperament und ihre Begeisterung bringen Farbe in das Format. Nach dem Ausscheiden Sigrid Löfflers wird sie Gastkritikerin in „Das literarischen Quartett“. Auf diesem Sendeplatz wird sie dann von 2003 bis 2008 ihre ZDF-Sendung „Lesen!“ präsentieren. Die Bücher, die sie in den sechs bis acht Sendungen pro Jahr präsentiert, werden meist zu Good- oder Bestsellern.

Das Geheimnis ihres anhaltenden Erfolgs ist es wohl auch, dass Heidenreich stets als leidenschaftliche und begeisterte Leserin zum Publikum spricht. Sie zählt zu dieser Zeit zu den einflussreichen Frauen im Literaturbetrieb und ist vor allem ein wesentlicher Verkaufsmotor in der Buchbranche. Sie trifft einen Zeitgeist, aber auch und vor allem die potenziellen Kunden, die sich die zunehmende Zahl an Neuerscheinungen auch leisten können und wollen. In Ihrer auffordernden Geste und ermutigenden Weise wird sie dabei für ihren Erfolg gerne missverstanden und misstrauisch beäugt. Zuschreibungen wie „missionarisch“ oder „eitel“ erfährt sie nicht selten. Christian Schachinger sieht in seiner Kritik der Sendung, in dem er Heidenreichs Verführung zum und Begeisterung für das Lesen als Verfall der (damals elitären und männlich geprägten) Literaturkritik postuliert („Heizdecken für alle ... oder: Elkes literarische Butterfahrt. Zum sensationellen Quoten-Erfolg der ZDF-Literatur-Sendung ‚Lesen!‘“, Der Standard, 11. Juni 2003).

Unaufgefordert lässt sie sich heute nichts mehr zuschicken. Verlagsprospekte werden durchgesehen und Bücher dann bewusst ausgewählt und bestellt. Heidenreich selbst vermerkt, sie wolle keine Literaturkritik vorführen, sondern dem Publikum Leidenschaft und Begeisterung fürs Lesen vermitteln. Tilman Spreckelsen beschreibt es in seiner Besprechung ihrer ersten Sendung „Lesen!“ so: „Die Chuzpe, den eigenen Geschmack für so interessant zu halten, dass er zum roten Faden einer ganzen Sendung taugt.“ Heidenreichs Einschaltquoten überflügeln die der Vorgängerformate. Marcel Reich-Ranicki, den Heidenreich in vielen medialen Diskussionen unterstützt, spricht ihr den Erfolg nicht ab, aber die kritische Analyse, für die er Jahrzehnte stand. Da steht Heidenreich drüber, denn Kategorisierungen waren nie das ihre.

Auch Karriere scheint nicht unbedingt Heidenreichs größtes Ziel, dafür ist sie zu phantasievoll und eigenwillig. Sie ist hart im Nehmen, das hat sie in der Branche gelernt und gleichzeitig zügelt auch sie sich nicht medienwirksam, weiterhin zu zu polemisieren: „Grass, Walser – diese eitlen, alten Männer, die den Mund nicht halten können!“, ihnen hält sie den Spiegel vor – mit großen Erfolg. Dass sie Günter Grass’ und Martin Walsers Werk als „ekelhafte Altmännerliteratur“ bezeichnet, spielt natürlich dieser Polemik zu, wie mit männlichem Blick ihr Format verhandelt wird.

Aus der Sicht Heidenreichs ist die Literaturkritik einseitig zum Medium einer überwiegend (männlichen) Selbstdarstellung verkommen. Einen Kurzbeitrag über einen 400-Seiten-Roman, der den Kritiker zwar in ferne Länder bringt (dezenter Hinweis auf Denis Scheck und seine Sendung „Druckfrisch“), aber dem Inhalt der vorgestellten Bücher nur wenig Platz einräumt, kann sie nichts abgewinnen.

Das Ende ihrer Sendung kann auch als Reaktion darauf verstanden werden: „Lesen!“ wird 2008 abgesetzt, als sie sich ironischerweise ihrem Freund Reich-Ranicki zur Seite stellt, der den Deutschen Fernsehpreis wegen der mangelhaften Programmqualität des öffentlich-rechtlichen Fernsehens ablehnt. Sie bietet daraufhin ihrem Sender ihre Kündigung an, die prompt vom ZDF-Intendant und Programmdirektor folgt. Sie findet Wege, ihre Literatursendung im Internet fortzuführen und veröffentlicht Beiträge beim Literaturportal litCOLONY. „Weiterlesen!“ heißt die Literaturkolumne, die in der Zeitschrift „Stern“ 2009 erscheint, um den Erfolg und den Wirkungsradius der Quotenkönigin noch etwas zu nutzen. Über Marcel Reich-Ranicki sagt Elke Heidenreich später in einem Fernsehporträt: „Seine Lebensgeschichte berechtigt ihn, schlecht gelaunt und böse zu sein …“. Nach seinem Verrat während ihres ungebührlichen Abschieds ihrer Sendung ist sie „bleibend böse, aber nicht mehr gekränkt.“

DIE LIEBE ZUR OPER

Die Oper ist ihre späte und größte Leidenschaft und diese teilt sie mit ihrem heutigen Lebenspartner, einem Musiker und Komponisten. Mozarts „Zauberflöte“, die sie im Alter von dreizehn Jahren hört, hat einen tiefgehenden Eindruck hinterlassen und bildet die Grundlage für Elke Heidenreichs spätes Arbeits- und Lebensglück. Seit den späten 1990er Jahren schreibt sie auch Libretti für Opernstücke und vor allem die Modernisierung von alten Operntexten für die Kölner Kinderoper sind ihr eine ausgesprochene Herzensangelegenheit. Ihre späte Liebe ist eine sehr große und sie würde heute Musik der Literatur vorziehen, sagt sie in Interviews. Ihre erste Oper heißt „Das Opernschiff“ und auch ihr Kinderbuch „Am Südpol, denkt man ist es heiß“ wird in der Kinderoper der Oper Köln uraufgeführt. Bei vielen ihrer musikalischen Projekte ist ihr Lebensgefährte Marc-Aurel Floros an ihrer Seite.

PFLAUMENKERN, LIEBESKUMMER UND VEILCHENMUSTER

„Jeder Mensch muss sich kleiden, aber nicht jeder muss sich darum kümmern, was Mode ist.“ Im Band „Männer in Kamelhaarmänteln. Kurze Geschichten über Kleider und Leute“ (2020) zitiert Heidenreich Virginia Woolf aus „Orlando“. Sie preist in Thomas Manns „Tod in Venedig“ die Eleganz Tadzios, es finden sich Anekdoten Wagners über seidene Unterwäsche ebenso darin wie Ravels Hang zu Luxus, Karl Lagerfeld und ungleiche Socken und auch von einer Begegnung mit Susan Sontag erzählt sie wie von dem ersten Dufflecoat ihrer Jugend, den sie dann doch nicht klaut. In „Ein Mann schält Kartoffeln“ beschreibt sie ein Bild des Gastronomen Charles Schumann: „Charles Schumann, der schöne Mann, der auf einem Foto in blütenweißer Jacke mit blütenweißer Schürze sitzt und leise lächelt bei seiner Arbeit, benutzt einen Kartoffelschäler ... Und er schält genauso hingebungsvoll und versunken wie meine Mutter.“ Von diesem Bild ausgehend, entspinnen sich Assoziationen und Erinnerungen an ihren Vater und ihre Mutter, was zu einer der berührendsten Stellen des Bandes wird. „Das Erhabene und Profane, aus allzu menschlichen Gründen immer ganz dicht beieinander“: So lässt sich nicht nur die Atmosphäre der Texte in diesem Band gut beschreiben, sondern generell Heidenreichs literarisches Schreiben. Und: „Es mangelt ja nicht an Liebe in der Welt, es mangelt an erträglichen Erwartungen. Stärker aber als Liebe und Tod ist allemal die Kunst“.

Doch beharrlich begeistert Heidenreich nunmehr auch in ihrem eigenen Internet-Channel weiter und zeugt von einer Beständigkeit in der immer mehr produzierenden, aber immer gehaltloser werdenden Medien- und Buchbranche. Elke Heidenreich lernt die Verlegerin Julia Eisele kennen, als sie das Vorwort für Anita Brookners „Hotel Du Lac“ schreibt. Sie schätzt an ihr die Hingabe und den Geschmack sowie die Sorgfalt, wie diese die Buchprojekte ihres Verlages gestaltet und realisiert.

In dem schön gestalteten Band „Hier geht’s lang! Mit Büchern von Frauen durchs Leben“ (2021) wird noch einmal deutlich, wie sehr sich Heidenreich für gute Bücher und Literatur mit nunmehr fast achtzig Jahren noch immer einsetzt. Sie erzählt darin ihre Lebens- und Lektüregeschichte. Am Beginn stehen die Roswitha-Bildchen und Märchen der Kölln-Haferflocken, einem Unternehmen, das für den wachsenden Wohlstand der BRD steht. Es finden darin Bücher Erwähnung, die abseits des Kanons, Könnens, Niveau, Inhalts sich aus Heidenreichs Biografie erklären lassen. Glückhaft habe sie Bücher in bestimmten Lebensphasen gefunden und sie waren der Trost im einsamen Heranwachsen. Es finden sich darin neben Astrid Lindgren und Selma Lagerlöf auch Vicki Baum, auch umstrittene Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur wie der Weltliteratur. Das am Beginn noch sehr gründlich gearbeitete Buch verliert im letzten Drittel doch an Stringenz, was auch symptomatisch für die inzwischen unübersichtlich und überbordende Buchproduktion stehen mag.

Im Vorwort zu diesem Band schreibt sie: „‘This is not a battle to fight‘ habe ich mal auf dem Deckblatt der Speisekarte eines Restaurants in New York gelesen. So ist das auch mit den Büchern: Es geht nicht um Kampf, es geht auch nicht um einen Kanon, es geht einfach nur um Liebe. Um die Liebe zu erzählten Geschichten. Und Liebe macht etwas mit einem, immer“.

Foto (c) Stephan Pick