Emine Sevgi Özdamar - Wanderin zwischen Sprachen und zwischen Orient und Okzident

Veröffentlicht am 14.11.2022
Robert Leiner über die Trägerin des Georg-Büchner-Preises 2022.
18 Jahre lang ist von ihr kein Buch mehr erschienen, ihr riesiges autobiografisches Projekt wirkte unterbrochen. Lange schien Emine Sevgi Özdamar verstummt zu sein. Als man dann voriges Jahr endlich „Ein von Schatten begrenzter Raum“, Emine Sevgi Özdamars jüngsten Roman, in den Händen halten konnte, hatte man als Leser ihrer vorigen Bücher das Gefühl, dass man keinen Tag ohne diese Erzählerin auskommen hätte dürfen. Ohne ihre mit den Dingen, Menschen, Tieren, Städten, Zeitstimmungen atmende Sprache, die eben nicht nur eine Sprache ist, sondern eher eine körperliche Erfahrung, die unscheinbar daherkommt und gleich darauf weit ausschwingend volltönig dröhnt. Eine Sprache, die durch das Türkische, das Griechische, das Französische gewandert ist und sich dann ausgerechnet ins Deutsche eingelebt hat. In diesem Jahr also ist sie für die Öffentlichkeit wiedererstanden und erhielt die bedeutendste deutsche Literaturauszeichnung, den Georg-Büchner-Preis.
Für Emine Sevgi Özdamar bedeuten künstlerische und geographische Grenzen nichts: Zwischen Schauspiel, Kino und Literatur ist sie genauso gewechselt wie zwischen der Türkei und Deutschland und Frankreich. Ihren Weg aus dem Istanbul der Siebzigerjahre nach Berlin (Ost wie West) und weiter nach Paris und Bochum und wieder zurück nach Berlin, von Theater zu Theater und Text zu Text, hat sie schreibend immer wieder beschritten: Zuletzt auf den 800 Seiten von „Ein von Schatten umstellter Raum“ (Suhrkamp). Es ist dies ein Lebensbuch, das die Autorin „Roman“ genannt hat, das aber wie ihre Bücher zuvor auch diese Grenzen sprengt. Weil es so lyrisch wie autobiographisch ist und Lektürespuren (Brecht, immer wieder Brecht) sogar mit Fußnoten markiert sind. Das Buch zeigt zuletzt wieder Emine Sevgi Özdamar als eine kundige Wanderin und Wandlerin zwischen den Sprachen Deutsch und Türkisch und zwischen Orient und Okzident.
Geboren wurde Emine Sevgi Özdamar am 10. August 1946 in Malatya in Ost-Anatolien und ist an verschiedenen türkischen Orten aufgewachsen, zuletzt in Istanbul. Im Alter von 19 Jahren kam sie 1965 als Gastarbeiterin erstmals nach Deutschland und besuchte die Schauspielschule in West-Berlin. Von 1967 bis 1970 lebte sie wieder in Istanbul. Unter dem Druck der türkischen Militärdiktatur, nach kurzer Haft wegen politischer Aktionen und einer Reportage über die Armut kurdischer Bauern in Anatolien, kam sie 1976 nach Berlin zurück.
Sie arbeitete 1976/77 unter der Regie von Benno Besson, Matthias Langhoff und Fritz Marquardt als Regieassistentin und Schauspielerin an der Ost-Berliner Volksbühne. 1978 ging sie mit dem Brecht-Schüler Besson nach Paris und erlangte dort das Diplom als „Maitre de Théatre“. Es folgten Theaterarbeiten in Avignon, Berlin, Bochum und München mit Regisseuren wie Franz-Xaver Kroetz, Einar Schleef, Ruth Berghaus und Peter Zadek und die Regie ihres ersten Theaterstücks in Frankfurt sowie Filmrollen wie in „Yasemin“ von Hark Bohm, „Happy Birthday, Türke“ von Doris Dörrie und „Die Reise in die Nacht“ von Matti Geschonneck.
Ihr erstes Theaterstück war „Karagöz in Alamania“ (1982), eine Auftragsarbeit am Schauspielhaus Bochum, das 1986 in Schauspielhaus Frankfurt uraufgeführt wurde. 1992 folgte „Keloglan in Alamania“. Beide Stücke schildern türkische Gastarbeiterschicksale in absurden, surrealen Bildern, fern von Sozialreportage und Betroffenheitskitsch. Keloglan, der junge Türke in Deutschland, entgeht seiner Abschiebung durch eine Heiratsburleske. Karagöz („Schwarzauge“), eine berühmte, listig-naive Figur des türkischen Schattenspiels, ist mit seinem philosophierenden Esel auf dem Weg ins gelobte Deutschland, gerät in groteske Situationen und endet buchstäblich gespalten: der eine Karagöz kehrt mit seinem Esel in die Türkei zurück, sein Alter Ego hingegen gewinnt Wohlstand in Deutschland, verliert aber seine Identität und tauscht den Esel gegen einen Opel Rekord.
„Karagöz“ wurde von der Kritik noch zwiespältig aufgenommen, aber ihre beiden folgenden ersten Romane wurden zu literarischen Ereignissen. Sie nehmen das Motiv der Identitätssuche auf und erzählen die Geschichte einer jungen Türkin zwischen Asien und Europa und folgen chronologisch den Stationen der Autorin zwischen Tradition und aufgeklärtem Bürgertum Istanbuls, Terror des türkischen Militärs, Freiheiten der Berliner Boheme und Agitprop der 68er Generation.
Mutterzunge
„In meiner Sprache heißt Zunge: Sprache. Die Zunge hat keine Knochen, wohin man sie dreht, dreht sie sich dorthin … wenn ich nur wüsste, wann ich meine Mutterzunge verloren habe“, schreibt sie in ihrem ersten Buch „Mutterzunge“ (1990). Sie lernt Arabisch und nähert sich der Sprache des Großvaters über die arabischen Wurzeln des Türkischen, die mit der Europäisierung von Schrift und Sprache durch Atatürk verloren gegangen waren. Jeder ihrer Romane beginnt und endet mit einer Reise der Nomadin zwischen Zeiten, Kulturen, Sprachen, der die „Mutterzunge“ abhanden gekommen ist.
Die Erzählerin sucht ihre Wurzeln, denn ihrer „Mutterzunge“ Türkisch ist sie durch viele Jahre in Berlin entfremdet. Sie verliebt sich in den arabischen Schriftgelehrten Ibni Abdullah, der sie in die Sprache der „heiligen“ Liebe, die Sprache des Korans, einführt. Mittels der „Großvaterzunge“ Arabisch, das vor Atatürks Reformen in der Türkei gesprochen und geschrieben wurde, gelingt ihr eine Rekonstruktion ihrer Herkunft. Begleitend erzählt Emine Sevgi Özdamar das Märchen vom Bauern, der aus seinem armen, aber überschaubaren Dorf ins ferne Deutschland gelangt - aus dem türkischen Märchen wird sodann bundesdeutsche Realität, aus dem Bauern schließlich ein Straßenkehrer. Ein bäuerliches Volk verwandelt sich in die Dienstbotenkaste westdeutscher Großstädte. Zuletzt sinkt sogar Ophelia von der Bühne ihres Heimatlandes zur Putzfrau eines deutschen Theaters hinab. Es ist ein feines, kluges, souveränes Buch, das schon zeigt, wie geradezu unmöglich es ist, wenn man sich darauf eingelassen hat, sich dem Zauber von Özdamars Sprache und ihrer koboldhaften Ironie, die niemanden ungeschoren lässt, zu entziehen.
Das Leben ist eine Karawanserei
In ihrem aufsehenerrregenden großen Roman „Das Leben ist eine Karawanserei, hat zwei Türen, aus einer kam ich rein, aus der anderen ging ich raus“ (1992) schildert sie die Kindheit und Jugend, das orientalische Erbe der Großmutter und Elendsviertel der Städte, den Alltag in der Türkei der 50er und 60er Jahre und viele Umzüge der Familie, eben sogenannte die Karawanserei. In zehntausendundzehn Episoden wird in diesem prallen Buch von der Geburt der Erzählerin in Malatya erzählt, weiters von den Sprüchen und Weisheiten der Großmutter Ayse, einem Umzug nach Istanbul, Einschulung und Umzug in „die religiöse Straße“ von Yeniyesir. Und die Pubertät in Bursa, Verarmung der Familie, Bankrott des Baugeschäfts des nichtsnutzigen Vaters, Selbstmordversuch der Mutter. Die Erzählerin (Emine ohne Zweifel, auch wenn sie ohne Namen bleibt) entdeckt die Bühne, arbeitet als Statistin in Molière-Stücken am Staatstheater Bursa. Es folgt wieder ein Umzug, dieses Mal nach Ankara, Besuch des Gymnasiums, dann erneut Istanbul, schließlich der Entschluss, nach Deutschland zu gehen: vorläufiger Abschluss also einer Jugend in der Türkei von 1946 bis 1965. Schlussbild des Romans ist ein nach Deutschland fahrender Zug, ein Zug voll türkischer Frauen, die vor der Vermittlungsstelle der deutschen Botschaft in Istanbul ihre Aufnahmsprüfung (inklusive Urinprobe) bestanden haben und sich nun, in einer von Ironie und Sarkasmus getränkten Atmosphäre, aus dem an sie verteilten „Handbuch für die Arbeiter, die in der Fremde arbeiten gehen“, vorlesen.
Der Roman hört dort auf, wo „Mutterzunge“ eingesetzt hatte, in West- Berlin, bei einer jungen Türkin, die auf der Suche ist, ihr eigenes Sprechen wiederzufinden in einem Akt der Befreiung, der gegen die allseitige Entfremdung gerichtet ist. Der Roman ist gleichsam ein langer Lebens-Film aus einzelnen Bildern, die pausenlos vorüberziehen. Es gelingt ihr immer wieder, diese eigene, privateste Geschichte mit der Geschichte der Türkei zu verweben, doch die Bilder beider Geschichten sind meist phantastisch, überhöht, ergeben letztlich das absolute Gegenteil eines realistischen Türkei-Romans. Der Islam ist präsent (so grün wie der Schutzumschlag des Buches), die türkische Sprache und ihre Musikalität, die Reformen Atatürks, das neue Alphabet. Über türkische Kultur und über den Zustand der Türkei in den 50er und 60er Jahren wird quasi zwischen den Zeilen berichtet. Während die türkischen Soldaten 1951 im Koreakrieg kämpfen und sich den zweifelhaften Ruf brutaler Nahkämpfer erwerben, schauen sich Emines Eltern Filme mit Pürt Lankester und Ave Kartener an. Die Hügel Ankaras werden nachts mit Gecekondu-Häusern überzogen, der türkischen Variante der Favelas. Die Militärs putschen: erster Putsch einer langen Reihe von Putschen, und richten Ministerpräsident Adnan Menderes hin. Politik und Korruption werden ins poetische Sprechen gezogen, der Bosporus und seine Dampfer, die Verse Orhan Velis (eines großen türkischen Dichters), die todtraurigen, mächtigen und verrückten Hexen-Frauen. Aber auch die Zuneigung der Frauen untereinander, das vergängliche Leben, der sichere Tod. Zwar kann man als Kind „den Tod mit Totspielen erschrecken“, aber er bleibt immerzu auf den Fersen, und die Heldin betet immer wieder für die Toten, immer länger wird ihre Liste der Toten. Sie betet für die Frauen und für die toten Soldaten und für den toten Molière. Das Gewicht des Todes wächst in dem Buch. Einmal fragt die Mutter die Tochter: „Hat ein Mensch mehr als seine süße Zunge?“, und die Tochter versucht einen Roman lang dies aggressiv und körperlich oder zärtlich zu widerlegen. Die Reise nach Deutschland am Schluss verkündet schließlich Aufbruch und Befreiung.
Die Brücke vom Goldenen Horn
„Die Brücke vom Goldenen Horn“ (1998) zeigt die junge Frau dann 1965 in Berlin als Arbeiterin bei Telefunken, als Reporterin in Anatolien. Die junge Türkin bewegt sich im Berlin und im Istanbul von 1968 zwischen Heimweh und Erwachen, zwischen Aufbruch und Alptraum. Sie ist jung. Sie will etwas erleben und die Welt entdecken. Also setzt sie sich in Istanbul in den Zug, der die zukünftigen „Gastarbeiter” nach Berlin bringt. Mit dem Blick des 17-jährigen Mädchens, das zuerst kein Wort Deutsch spricht und deswegen so viel sieht in dem Film, der vor ihren Augen abläuft, erzählt Emine Sevgi Özdamar über das Berlin der 60er Jahre, über ihre Leute, die, wie sie, bei Telefunken arbeiten, im Wohnheim wohnen und bei „Aschinger“ Erbsensuppe essen. In einer Sprache, deren Bilder und Rhythmen aus der türkischen Kultur stammen, erzählt sie die Geschichte ihres Aufwachens als Frau zwischen zwei Welten, der politischen Explosionen und Aufbrüche um sie herum und ihrer Sehnsucht nach dem Theater.
Und dann geht sie mit dem, was sie im brodelnden Berlin der Studentenunruhen gehört und gesehen hat, als junge Schauspielschülerin zurück nach Istanbul, wo sie in ein ganz anderes 68 hineingerät: brutaler und alptraumhafter als alles, was man aus Westeuropa kannte. Eine Welt zwischen türkischer Tradition und Moderne erlebt der Leser hier, zwischen hungernden anatolischen Dörfern und verrückten Künstlerlokalen in den Städten, ein Istanbul voller Träume und panischer Ängste, wo die Fährschiffe auf dem Marmara-Meer die Menschen täglich hin und her fahren zwischen dem europäischen und dem orientalischen Teil. Sie trotzt ihrer streng patriarchalischen Umwelt ein Stückchen Frauenfreiheit ab, riskiert Liebesabenteuer, um endlich ihren „Diamanten“ (ihre Unschuld) loszuwerden. Eine Jungfrau, so hat sie gehört, kann unmöglich eine gute Schauspielerin sein. Als der Hahnenkampf zwischen Regime und linken Studenten blutig ausartet, muss auch sie sich gefährdet fühlen, und ihre abermalige Reise nach Berlin wird auf fatale Weise mehr als nur die Annäherung an den erhofften Theaterruhm. Durchs Fenster ihres Fluchtzuges grüßt von weitem die Brücke vom Goldenen Horn, Verbindung zwischen Asien und Europa, Symbol der Hoffnung auf Wiederkehr, wenn die Heimat endlich ihren Frieden gefunden hat.
Seltsame Sterne starren zur Erde
Das 2003 erschienene Buch „Seltsame Sterne starren zur Erde“ (nach einem Zitat von Else Lasker-Schüler betitelt) folgt der Pendlerin zwischen dem Ost-Berliner Brecht-Theater an der Volksbühne und der West-Berliner Kommune, die von Otto Mühl gegründet worden war. Es spielt in einem schon versunkenen Berlin, betrachtet wie von einem anderen Stern, voller kleiner und großer Liebesgeschichten und Entdeckungen diesseits und jenseits der Mauer. Es ist das Berlin Mitte der 70er Jahre. Eine geteilte, eingeklemmte Stadt, und doch voller heftiger und stiller Aufbrüche in Ost und West. Genau dorthin zieht es 1976 die junge türkische Schauspielerin aus Istanbul, noch niedergedrückt von Erinnerungen an die Militärdiktatur im eigenen Land, aber mit einem großen Traum: das Theater Bertolt Brechts an der Ostberliner Volksbühne kennen zu lernen.
Mit staunenden Augen und umwerfendem Witz erzählt Emine Sevgi Özdamar von einem Berlin, das kein Deutscher so je gesehen hat: das Leben ihrer WG-Mitbewohner im Westberliner Wedding und ihrer Ostberliner Freunde in Pankow, die türkischen Einwanderer in der Nachbarschaft, die politischen Ereignisse des „deutschen Herbstes“, die täglichen S-Bahnfahrten zwischen West und Ost, kleine und große Liebesgeschichten und vor allem ihre heiße Liebe zum Theater Heiner Müllers und Benno Bessons, das sie zurück ins Leben holt. Als Regieassistentin an der Volksbühne hält sie die Proben zu Müllers „Die Bauern“ und Goethes „Bürgergeneral“ in faszinierenden Skizzen fest, die diesem Buch einen zusätzlichen Reiz und dokumentarischen Wert geben.
Es sind vielmehr die persönlichen Erlebnisse, der Weddinger Nachbarpuff, die Liebe zu einem in Dänemark lebenden Briten, die Probleme und Freiheiten in der West-WG zwischen Sex, Liebe und gemeinsamem Baden, die Begegnungen im Transit, die Visa-Probleme im kleinen und großen Grenzverkehr und natürlich die konkrete Theaterarbeit an der Ostberliner Volksbühne, die im Mittelpunkt des Romans stehen. Özdamar gibt hier also einen Einblick in ihre Zeit als Praktikantin an der Volksbühne. Die autobiografischen Berührungspunkte liegen auf der Hand und werden durch den vielfältigen Montagecharakter verstärkt. Dabei bildet das Theater einen eigenen Kosmos aus.
Das Buch erzählt von einem Transit im mehrfachen Sinne. Von dem ganz Realen zwischen West- und Ostberlin, aber auch wieder von der Wanderin zwischen der alten und einer neuen Heimat, zwischen den menschlichen und alltäglichen Problemen und der intellektuellen und einen eigenen Raum für sich beanspruchenden Arbeit im Theater. Und letztlich werden die zwei Jahre in Deutschland auch zu einem individuellen Entwicklungsprozess der Protagonistin, an deren Ende die Arbeit in Paris steht. Wie in jedem ihrer Romane verbindet sie die persönliche Geschichte mit politischer Gegenwart. Jeder erzählt ein Kapitel im Emanzipationsprozess des namenlosen Ich und beginnt, wo der Andere endete, und endet, wo der Folgende beginnt. Immer fällt ihr fremder Blick auf die Umgebung, der türkische Blick auf Deutschland, die deutsche Sicht auf die Türkei.
Assoziativ webt Emine Sevgi Özdamar an einem bunten Erzählteppich, in dem wiederholt das Motiv der Tür auftaucht: „Deutschland ist nur eine Tür, aus der man herausgeht und durch die man wieder zurückkommt. Wie man sich dabei ändert, wie die Sprache und die Ästhetik sich ändern, auch im eigenen Land, hat mich immer beschäftigt“, sagte sie mit Blick auf die Theater-Figur Karagöz. Nun schickt sie ihr Roman-Ich durch bühnenreife Drehtüren. Berlin ist ein großes Gebäude: Heimtür auf, Bustür zu, Fabriktür auf, Kaufhaustür zu – ohne Kontakt nach draußen, ohne Abend und von trauriger Komik ist das Gastarbeiterleben zwischen Heim und Stechuhr in „Die Brücke vom Goldenen Horn“. Bei der Karawanserei steckt die Tür schon im Titel. Auswanderung, Rückwanderung, Fremde, Entfremdung und Bindungen sind ihr Thema, Glücksucher die Figuren und ihre Bücher Entwicklungsromane anderer Art: Emine Sevgi Özdamar psychologisiert nicht, sie zeigt. Sie schreibt nicht: „Ich bin traurig“, sondern „Ich weinte“, und beschreibt den Hunger nach Welthaltigkeit, Weltanschauungen und brechtschem Theater.
Ein von Schatten begrenzter Raum
Nach dem Militärputsch 1971 musste sie wegen Passformalitäten zurückkommen in die Türkei. Istanbul sieht sie jetzt mit Augen, die vorher Berlin und Paris gesehen haben. Solche Perspektiven sind wichtig in diesem Roman: Es sind nicht die heimatlichen Verbindungen, es sind die Lebenserfahrungen, die die Blicke leiten. Den türkischen Militärputsch der 70er Jahre versteht sie mit einem Wort des Berliner Dichters Thomas Brasch: „Vor den Vätern sterben die Söhne“. Die Pariser Lebendigkeit steht im Kontrast zu den von den türkischen Nationalisten „getöteten“ Istanbuler Straßen. Aber, andere Perspektive, sowohl in Paris als auch in Istanbul kann man der Sehnsucht nachhängen, nicht aber in Berlin. Berlin ist eine Stadt, „die der Sehnsucht ständig eins ins Gesicht haute“. Und zwischendurch ist Özdamars Erzählerin in jeder dieser drei Städte und überhaupt an jedem Ort, an dem sie sich befindet, anders fremd. „Ein von Schatten begrenzter Raum“ holt weit aus und ist streckenweise ein wilder Erzählfluss von 760 Seiten, an dem sie, zehn Jahre lang gearbeitet hat. Er umfasst den Zeitraum von den frühen Siebzigern bis nahezu heute; die Pariser Bataclan-Morde werden ebenso erwähnt wie aktuelle Ereignisse in der Türkei. Erinnerungen überstürzen sich, verschachteln sich. Es bilden sich Themenkomplexe, etwa um die Erlebnisse am Theater oder in der noch geteilten Stadt Berlin.
Es ist in dem Buch zwar vieles vergangen und von historischem Edelrost überzogen, doch es geht hier nicht darum, eine vergangene Epoche zu schildern. Vielmehr ist alles auf Vergegenwärtigung ausgerichtet, darauf, die angesammelten Erlebnisse dieses reichen Lebens in die Gegenwart zu ziehen. Es ist, alles in allem, keine „migrantische“ Erfahrung, die hier evoziert wird. Eher geht es um so etwas wie Aufbruch, ein Leben unter vollen Segeln, um Entdeckungen, um Menschen, die man trifft, Zimmer, in denen man sich befindet, Türen, die aufgehen und sich schließen. Und dann allerdings auch immer wieder darum, dass so ein Leben an Grenzen stößt und verhindert wird. Ihre glückliche Zeit begreift die Erzählerin als Phase, in denen die „Hölle eine Pause macht“. Die Hölle, das sind hier der türkische Militärputsch von 1971 oder die islamistischen Terroranschläge aus jüngerer Zeit. Es ist ein reicher Roman über ein reiches Leben. Er dreht sich um eine einzelne Frau, um ihre Erlebnisse, ihre Erfahrungen, die Wörter, die sie findet, um sie zu beschreiben, und zugleich wirbeln die vergangenen fünfzig Jahre in ihm herum. Am Anfang dieses Romans sieht man die Erzählerin, eine Frau mit allen biografischen Merkmalen der Autorin, auf einer Insel zwischen der Türkei und Griechenland sitzen und überlegen, ob sie emigrieren soll, wegen des Militärputschs in der Türkei. Sie berät sich mit dem Haus und den Tieren. Die Mosquitos sagen: „Für Deutschland ist der beste Türke in Wahrheit der als Türke verkleidete Deutsche.“ Die Krähen sagen: „Du wirst dich schämen, weil du dauernd ein Thema bist. Kein Mensch mehr, ein Thema.“ Und die Wände sagen: „Leb hier mit deiner großen Kindheit, mit deinen Toten, und stirb später bei deinen Toten.“ Die Frau sagt: „Ich werde gehen“, und in dem langen Roman ist es, als schreite sie die üblen Prophezeiungen ihrer Mitwesen ab.
Jeder Lernprozess ist in den Büchern von Emine Sevgi Özdamar ein Sprachprozess, ihre Annäherung an Deutschland eine sprachliche, ihr Deutsch kommt aus dem Türkischen: „Zwillingsmützen“ heißt der Büstenhalter in „Die Brücke vom Goldenen Horn“. „Wonaym“ buchstabiert sie ihr neues Zuhause, nicht „Wohnheim“, „Herscher“ und nicht Herr Scher nennt sie den Meister. Und weil im Türkischen „zerbrochen“ und „beleidigt“ ein Wort sind, ist der zerstörte Anhalter Bahnhof „beleidigt“. Eine „Wörtersammlerin“ war sie schon früher. Nun wurde aus der Sprachnot ihr Sprachstil. Sprache prägt die Wahrnehmung, weiß die Sprachwanderin Emine Sevgi Özdamar, flicht türkische Redewendungen und Sprichwörter in ihren deutschen Text, spannt in ihren Büchern eine Art Baldachin orientalisch-bunter Bilder über das triste Alltagsgrau und verbindet Beschreibung, Imagination und Assoziation in einer kunstvoll-naiven Sprache. So selbständig und körperlich wirken die Wörter und Geräusche, dass sie laufen. Geräusche werfen Echos in das tragikomische Slapstick-Geschehen von drei Schnauzbärten, die hinter ihren Wörtern hergehen. „Meine deutschen Wörter haben keine Kindheit, aber meine Erfahrung mit deutschen Wörtern ist ganz körperlich“, sagt sie und vertraut auf ihre Theatererfahrung. „Der Erfahrungsdruck macht den Schriftsteller“, zitiert sie Heiner Müller in „Seltsame Sterne starren zur Erde“ und lässt solcherart geliebte, verlorene Menschen lebendig werden.
Foto: (c) Heike Steinweg