Filipenko, Sasha - Der Schatten einer offenen Tür

Veröffentlicht am 10.03.2025
Roman um tatsächlich passierte und dokumentierte Suizide von Jugendlichen in russischen Waisenhäusern.
Gut gemeint, scheint mir im Falle dieses Romans leider nicht auch gut genug gemacht! Tatsächlich passierte und umfassend dokumentierte Suizide von Jugendlichen in russischen Waisenhäusern werden von Sasha Filipenko hier in einen (Kriminal-)Roman gegossen. Das mag für eine gut – im Sinne von „nicht die Augen vor der unendlich tristen Realität verschließen“ – gemeinte ungeschminkte Beschreibung der Lebensumstände in der russischen Provinz durchaus schlüssig sein, die handwerkliche Umsetzung war für mich dann aber doch weitgehend enttäuschend.
Die Romanfiguren bleiben – vielleicht mit Ausnahme des Dorfsonderlings Petja, der für eine Selbstmordserie von Waisenhausbewohnerinnen von der lokalen Polizei verantwortlich gemacht wird – schemenhaft und farblos, so dass man als Leser:in eigentlich nie in einen emotionalen Kontakt mit diesen kommt. Nicht einmal der von Moskau zwecks Aufklärung der Ereignisse in die Provinz entsandte Ermittler Koslow, die Hauptfigur des Romans, der nicht an Petjas Schuld glauben will, kann in seiner Rolle als desillusionierter Systemdiener mit Anflügen von Gerechtigkeitssinn wirklich überzeugen.
Die Haupthandlung der Ermittlungsarbeit schleppt sich kraftlos voran, vieles, etwa der Griechenlandurlaub, den eine korrupte lokale Wirtschaftsgröße den Jugendlichen aus dem Waisenhaus spendiert und damit ungewollt den Auslöser für die Suizidserie liefert, wirkt auf mich nur bruchstückartig erzählt. Auch die bemühten Versuche des Autors, dem Ganzen durch Zitate aus Songs russischer Musikgrößen und eine durchaus ungewöhnliche innere Gliederung des Romans einen anspruchsvollen Anstrich geben zu wollen, fielen bei mir nicht auf fruchtbaren Boden. Und ohne den abschließenden Epilog wäre ich auch nie auf das vom Autor möglicherweise intendierte Fazit der erzählten Geschichte gekommen: Offenkundig kann es außerordentliche Glücksmomente im Leben geben, in deren Nachhall der gewöhnliche Alltag manchen Menschen auf Dauer völlig unerträglich erscheint – bis hin zum Suizid.
Der heute mit seiner Familie in der Schweiz lebende, vielfach ausgezeichnete Sasha Filipenko stammt aus Belarus, lebte und arbeitete lange Zeit in St. Petersburg und zählt durchaus zu den arrivierteren Autoren des von mir hoch geschätzten Diogenes Verlags. Was ich damit sagen will: Vielleicht liegt es an meiner mangelnden Vertrautheit mit der russischen Kultur und Literatur, dass ich die Feinheiten und Nuancen in Filipenkos Werk nicht richtig erfassen konnte. Es ist durchaus möglich, dass der Roman für Leser:innen mit tieferem Verständnis der russischen Gesellschaft und ihrer Komplexitäten eine ganz andere Wirkung entfaltet.
Gerald Wödl
Filipenko, Sasha - Der Schatten einer offenen Tür
Roman. Zürich: Diogenes 2024. 272 S. - fest geb. : € 26,50 (DR) ISBN 978-3-257-07159-7 Aus dem Russ. von Ruth Altenhofer