Gauß, Karl-Markus - Schiff aus Stein
Veröffentlicht am 15.07.2024
Orte und Träume.
Karl-Markus Gauß ist in seinem Leben viel herumgekommen, hat auch zu diversen Reisen an die Grenzen Europas, zu vergessenen Volksgruppen Bücher geschrieben. In seinem neuen Buch versammelt er nun kurze Texte zu ausgewählten Orten und Träumen. Wobei es sich nicht unbedingt um besondere oder besonders bekannte Orte handeln muss. So verfasste er etwa ein Porträt der kleinen kroatischen Ortschaft Sveti Lovrec anlässlich einer Fotoausstellung, die ihn erkennen lässt, warum das Dorf stets bedroht war, seine Bewohner zu verlieren. Aber er singt auch ein durchaus ernst gemeintes Lob auf hässliche Orte oder will langweiligen Orten ihre Daseinsberechtigung nicht absprechen. Man lernt jedenfalls einige bemerkenswerte europäische Städte kennen.
Beeindruckend und berührend ist der kurze Text „Die letzte Zigarette seines Vaters“, in der sein Vater einige Wochen vor seinem Tod wütend zur Kenntnis muss, dass die ihm vertrauten Speisen und Getränke fremd geworden sind, sie nicht mehr vertraut schmeckten und dass ihm also „eine Selbstverständlichkeit des Lebens gerade verloren (ging), das Vertrauen in den gleichbleibenden Geschmack der Dinge, in dem sich der Zusammenhang unseres Lebens erneuert.“ Und als ihm dann die Zigarette auch nicht mehr schmeckte und er, statt mit seinem Sohn ein üblich geliebtes Streitgespräch zu führen, stumm blieb, war er am nächsten Tag gestorben, „überraschend für uns und die Ärzte, aber vielleicht nicht für ihn selber“. Dieser Text ist eine bis ins kleinste Detail behutsame, intensive Liebesbezeugung.
Oder die Erinnerung anlässlich einer unangenehmen Lesung in Salzburg an die weinende Historikerin Erika Weinzierl, die Jahre zuvor während einer Vorlesung im selben Saal beim Referieren über den Ersten Weltkrieg und die Millionen namenloser Soldaten, die in ihm „getötet, zerquetscht, zerhauen, vergiftet, verbrannt“ wurden, in Weinen ausbrach. Es war ein für ihn als Student „erschütterndes Erlebnis, denn man weinte damals weder so oft noch so leicht und schon gar nicht so herzhaft in der Öffentlichkeit wie heute, und man war es auch nicht gewohnt, es fortwährend mit beflissenen Heulern zu tun zu bekommen, die, kaum dass eine Kamera auf sie gerichtet und ihre Rührung medial übertragen wird, auch schon mit tränenreichen Bekenntnissen aufzuwarten pflegen.“ Solcherart ergänzt die manchmal fast schon historischen Anekdoten die kluge melancholische Kulturkritik à la Karl-Markus Gauß, die man meist sofort an seinem Sound erkennt.
Das titelgebende Schiff aus Stein, das er zuerst für eine Fata Morgana hielt, existiert tatsächlich, und zwar in Albanien. Es wurde von einer Familie auf einer Anhöhe als ein Hotel in Form eines Schiffes erbaut zum Gedächtnis für die drei Söhne, die „wagemutig aus Verzweiflung“ mit einem „jener Elendsschiffe“ nach Italien wollten, aber in der Adria ertranken. Das massiv gebaute Hotel, das mangels Touristen jedoch nie eröffnet wurde, steht noch immer, da es zu aufwändig wäre, es abzuwracken.
Karl-Markus Gauß schenkt uns mit diesem charmanten Buch mehrere Dutzend solcher Geschichten und Anekdoten, Texte, die noch lange nachtönen und nachwirken.
Georg Pichler
Gauß, Karl-Markus - Schiff aus Stein
Orte und Träume. Wien: Zsolnay 2024. 143 S. fest geb. : € 24,50 (DR) ISBN 978-3-552-07387-6