Geiger, Arno - Reise nach Laredo
Veröffentlicht am 02.09.2024
Eine lange, abenteuerliche Reise zu sich selbst.
Ich muss erneut bekennen: Ich bin ein großer Bewunderer des literarischen Schaffens von Arno Geiger – und fühle mich vielleicht gerade deshalb nicht wirklich prädestiniert, möglichst unvoreingenommen sein neuestes Buch hier zu besprechen. Aber es ist nun mal erfreulicherweise auf meinem Schreibtisch gelandet, und ich habe mich mit größtem Interesse ans Lesen gemacht.
Zum geschichtlichen Hintergrund des Romans: Karl I., König von Spanien und als Karl V. gleichzeitig römisch-deutscher Kaiser, legte im Jahre 1556 die spanische Krone nieder. Er zog sich danach in das Kloster San Jerónimo de Yuste in Spanien zurück. Zu dieser Zeit war er schon in sehr schlechter physischer und psychischer Verfassung, es plagten ihn die Gicht, heftige Zahnprobleme und Fettleibigkeit sowie Erschöpfung und Depressionen. Der Rückzug ins Kloster, in welchem er zwei Jahre später 1558 auch verstarb, war der Suche nach spiritueller Ruhe und innerem Frieden im Angesicht seines herannahenden Todes geschuldet. In Friedrich Schillers Drama „Don Carlos“ und Giuseppe Verdis gleichnamiger Oper ist er zwar kein direkter Handlungsträger, jedoch bilden seine Lebensthemen wie Macht, Freiheit, politische und persönliche Konflikte am spanischen Hofe, Unterdrückung und religiöse Intoleranz den Hintergrund für diese beiden großen Werke.
Und nun holt Arno Geiger für die „Reise nach Laredo“ Karl I. aus dem Hinter- in den Vordergrund. In dieser faktenbasierten und dennoch fiktionalen Geschichte bricht der von schwerer Krankheit gezeichnete Karl gemeinsam mit seinem noch im Kindesalter befindlichen unehelichen Sohn Geronimo zu einer Reise nach Laredo (nordspanische Küstenstadt am Golf von Biskaya) auf. Eigentlich macht er sich klammheimlich aus dem Staub, denn er hat genug von all dem Getue um ihn herum im Kloster. Nachdem sie ein überfallenes Geschwisterpaar, Honza und Angelita aus der ausgegrenzten Volksgruppe der Cagotes, aus den Händen ihrer Peiniger befreien und Honza, gepflegt von einer kräuterkundigen Frau, wieder dazu fähig ist, erteilt Karl dem Fuhrmann Honza den Auftrag, sie alle an sein Reiseziel Laredo zu bringen.
Die letztlich viele Wochen dauernde abenteuerliche Reise, die Geiger nun beschreibt, ist für Karl jedoch vor allem eine Reise zu sich selbst. Tiefgehende Reflexionen rund um das menschliche Leben in all seiner Vielfalt, das Sterben und den Tod prägen die weitere Erzählung. Diese sind kunstvoll und mit großer Sprachmächtigkeit in die Reiseerzählung eingeflochten, die gegenüber diesen Reflexionen immer mehr in den Hintergrund tritt. Geiger lässt seine Romanfiguren kluge Sätze denken und sprechen, die man auch gerne mehrfach lesen sollte: Etwa wenn er mit seinem Beichtvater über die Sinnhaftigkeit des Schreibens von Lebenserinnerungen nachdenkt: Fray Regla: „Die Tiefe unseres Lebens erahnen wir nur, wir schreiten über sie hinweg, ohne eigentlich von ihr zu wissen. Deshalb ist es eine seltsame Anwandlung, sein Leben niederschreiben zu wollen.“ Karl weiß, bedeutende Menschen haben es getan und doch, es ist Schwäche, es bleibt ein hinfälliger Versuch. Wen geht das eigene Schicksal an? Andere haben auch ein Schicksal.
Oder er von Angelita, auf seine allgemeine Schweigsamkeit angesprochen, zum Schluss kommt: Vielleicht war es längst keine Weigerung mehr, sich anderen mitzuteilen, vielleicht hatte er es verlernt und könnte es auch nicht mehr, selbst wenn er wollte. Er sah zur sinkenden Sonne. Am Abend kann man hineinblicken, dachte er und sagte lange nichts, er erinnerte sich seines vergangenen Lebens, und beim Gedanken an das Viele, das sein Leben gewesen war, empfand er Erstaunen. Alles ist geschehen, alles könnte man in ein helles, klares Licht stellen und mitteilen. Aber es tut weniger weh, die Schatten zu betrachten, die von den Dingen geworfen werden. Vielleicht ist das Leben nur so auszuhalten.
Oder er mit einem Herbergswirt über Religion und das Jenseits zu disputieren versucht: Wirt: „Mit Jenseits und Unsterblichkeit ist es so eine Sache. Weil der Tod ein unlösbares Rätsel ist, hat irgendwer es durch ein hinter dem Tod platziertes anderes Rätsel ersetzt, abgeschirmt vom vorne liegenden Rätsel, so dass man das dahinter liegende Rätsel nie wird lösen können.“ Und am Ende der Reise und seines Lebens angekommen, denkt: Der Tod könnte schön sein, wenn man gelebt hat. Er dachte es ohne Bitterkeit.
Dieses Buch wirft also eine Fülle entscheidender Lebensfragen auf, ohne diese für seine Leser:innen auch gleich alle beantworten zu wollen. Manchmal irritierende und gerade deshalb inspirierende Kopf- und Seelennahrung vom Feinsten!
Gerald Wödl
Geiger, Arno - Reise nach Laredo
Roman. München: Hanser 2024. 272 S. - fest geb. : € 27,50 (DR) ISBN 978-3-446-28118-9