Georges-Arthur Goldschmidt - Lebensschmuggler und Schwarzfahrer des Lebens

Georges-Arthur Goldschmidt -  Lebensschmuggler und Schwarzfahrer des Lebens

Veröffentlicht am 02.04.2021

Von Simon Berger

„Kaum ein Tag vergeht, ohne dass mir bei ein wenig grauem aber lichtem Himmel der 18. Mai 1938 wieder ins Gedächtnis komme. Mein ganzes Leben hat sich um dieses Datum herum aufgebaut, es ist der Tag, an dem ich meine buchenrauschende Heimat für immer verlassen musste. Alles was ich schreibe, ist aus diesem Bruch in meiner persönlichen Geschichte entstanden, aus dem Schrecken der Verfolgung, aber auch aus dem Erstaunen des Daseins“, so begann Georges-Arthur Goldschmidt seine Vorstellungsrede vor der Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. Kürzer und genauer kann man Goldschmidts Leben und Werk nicht in Worte fassen. 
Geboren wurde er als Jürgen Arthur Goldschmidt am 2. Mai 1928, als Sohn des Hamburger Oberlandesgerichtsrats Arthur Goldschmidt (1873-1947) und von Toni Katharina-Maria Jeanette Horschitz, genannt Kitty (1882-1942) in Reinbek bei Hamburg. Da sein Vater noch vor dem Anfang des Jahrhunderts zum Protestantismus konvertierte, durfte ich als „Nichtarier“ nicht mehr aufs Gymnasium. 
Seine Eltern, die die Folgen der Judenverfolgung kommen sahen, schickten ihn mit seinem vier Jahre älteren Bruder Erich zu einem Frankfurter Emigranten nach Florenz, Paul Binswanger, der über Humboldt promovierte und ein Buch „Die deutsche Klassik und der Staatsgedanke“ schrieb., wurde er in einem Internat in Hochsavoyen untergebracht. 
Da aber der Rassenwahn der Nazis auf Italien übergriff, mussten die Brüder im März 1939 erneut vor den Nazi-Schergen flüchten und erreichten unter Lebensgefahr das französische Savoyen, wo Georges-Arthur in einem Internat bei Annecy unterkam. Die dortigen, ihn langzeitig traumatisierenden und konditionierenden Gewalterfahrungen hat er später unter anderem in seiner Erzählung „Die Absonderung“ (1991) und in vielen seiner weiteren Werke verarbeitet. Während der deutschen Besetzung Savoyens (1943-1944) wurde er von Bergbauern versteckt gehalten, was ihn vor der Deportation bewahrte. Die ersten Jahre nach der Befreiung verbrachte Georges-Arthur Goldschmidt in einem jüdischen Waisenhaus in Pontoise bei Paris: „Franzosen retteten mir das Leben und riskierten ihres für mich“.
Die Eltern waren 1942 (die Mutter) und 1947 (der Vater) gestorben. Die Brüder (Erich wurde in Frankreich Offizier und starb 2010) haben ihre Eltern nie wiedergesehen. 
Georges-Arthur Goldschmidt wurde 1949 französischer Staatsbürger, konvertierte zum Katholizismus und nahm nach dem Abitur an der Sorbonne ein Germanistikstudium auf, 1957 legte er das französische Lehrexamen ab und unterrichtete von da an bis zu seiner Pensionierung 1992 an verschiedenen Gymnasien in und um Paris: „Ich wurde französischer Staatsbürger und französischer Beamter, Studienrat, was mir genügend Zeit ließ, la république est bonne fille, mich mit dem 18. Mai 1938 auseinanderzusetzen. Was mich dabei immer zugleich angespornt und beunruhigt hat, ist, dass ich nicht die leiseste Erinnerung an mein Erlernen des Französischen behalte, es plötzlich einfach konnte“. 
„Zugleich“, so meinte er, „blieb das Deutsche in mir mit seiner poetischen Kraft und Frische unversehrt erhalten. Das Schreiben entstand in mir zwischen den Sprachen, ich hatte nur noch einen Stoff zu bearbeiten, der mir entweder in der einen oder in der anderen jeweils ähnlich und doch verschieden kam. Ich tat es französisch zuerst und schrieb meine sieben ersten Bücher französisch. Ich lebte mit meinen beiden Muttersprachen zusammen, im selben Haus, sie beflügelten sich, bereicherten sich gegenseitig immer mehr, bis allmählich, was Frankreich und meine französische Frau mir geschenkt hatten, mich wieder für das Deutsche frei machten, mir das Deutsche befreit, aber nicht von der Vergangenheit entlastet zurückgaben.“ 
Er begann, Literaturkritiken und Essays für Zeitschriften zu schreiben, und vor allem zu übersetzen, verdienstvolle und herausragende Übersetzungen von deutscher Literatur ins Französische. So war er nicht nur der erste Übersetzer von Werken von Peter Handke, sondern hat bislang 20 Bücher von Handke ins Französische gebracht. Dann kam es mit Handke wegen dessen Sympathien für die Serben zum vorübergehenden Zerwürfnis. Er übersetzte Nietzsche. Auf Nietzsche war Goldschmidt gleich nach dem Krieg gestoßen, in einem Antiquariat in Annecy erstand er den „Zarathustra“ in einer Ausgabe für die Wehrmacht. Auf einer Bank zwischen Stadt und See entdeckte er ein „Deutsch wie aus der Lutherschen Bibelübersetzung“. Seine französische Übersetzung drei Jahrzehnte später entstand für eine Theater-Inszenierung und wurde zum Bestseller: Die Taschenbuchausgabe erreichte umgehend eine Auflage von 100.000, und noch jahrelang wurden jeweils weitere 10.000 Exemplare abgesetzt. Der Rezeption von Nietzsche, der in Frankreich als faschistischer Meisterdenker galt, hat Goldschmidt wertvolle Impulse verliehen. Weiters übersetzte er Franz Kafka, Walter Benjamin, Georg Büchner, Johann Wolfgang Goethe, Friedrich Nietzsche, Adalbert Stifter u.a. Das Außergewöhnliche daran ist, dass er nicht nur der erste französische Übersetzer Peter Handkes ist, sondern Peter Handke umgekehrt sein erster Übersetzer ins Deutsche, nämlich des ersten Buches „Der Spiegeltag“ (1982). 
Darin wird die Geschichte eines 25-jährigen Namenlosen erzählt, der die Mansarde eines Waisenhauses in einer französischen Provinzstadt, unweit von Paris, bewohnt. Das erste Jahrzehnt seines Lebens hat er als das Kind, wie es scheint, angesehener, gutbürgerlicher Eltern in einer dorfähnlichen Kleinstadt der norddeutschen Ebenen verbracht. Diese Kindheit in der Villa mit Garten endet fast über Nacht: es ist das Jahr 1938, die Eltern sind auf einmal Juden, und sie schicken ihr Kind mit dem Zug nach Italien – Bestimmungsort Florenz-, um es zu retten. Florenz ist nur eine kurze Station; der bessere Unterschlupf für den Bedrohten ist ein kleines Internat in den Bergen des französischen Savoyen, wo der Heranwachsende während des Krieges versteckt bleibt. Immer wieder kommen die deutschen Besatzer in das abgelegene Haus, auf der Suche nach ihm. Diese Stunden, die er, gewarnt, allein im Wald abwartet, sind vielleicht die bestimmenden seines Lebens. 
In „Ein Garten in Deutschland“ (1986) wird sein Vaterhaus, die Villa, die 1937 inmitten eines Gartens in einer dorfähnlichen Kleinstadt vor Hamburg, in Reinbek, steht, zum Angelpunkt des Erinnerns. Damals, im Garten der elterlichen Villa, unter dessen Bäumen er das Spiel von Licht und Schatten lieben lernte, wurde mit jedem Tag und jedem Atemzug die bedrohliche Atmosphäre körperlich spürbarer. Die Eltern (nach den Nürnberger Rassen-Gesetzen sind sie sogenannte „Geltungsjuden“; der Vater, ein Hamburger Richter, wurde von den Nazis zwangspensioniert) bereiten hinter den Türen heimlich die Abreise des Kindes vor. Aus Andeutungen, Schritten, flüsternden Stimmen, heftigen Streitgesprächen errät Arthur voller Angst und Schuld, was vor sich geht. Und angesichts der gereizten und erschöpften Eltern, die bei jedem Türklingeln zusammenzucken, hat er eine schreckliche Vermutung: „Vielleicht waren auch sie Juden!“ Mit großer Bildintensität und atmosphärischer Dichte, die jede Seite dieser meisterhaften Erzählung auszeichnen, wird mit dem Blick des Jungen der Abschied von einer unwiederbringlich verlorengehenden Kindheit beschworen. 
Es ist der Morgen seines letzten Tages in einem stillen Garten in Deutschland: „Von nun an wäre dieser frühe, schattenlose Morgen auf der Terrasse immer in ihm. Die alltägliche Landschaft: der hohe graue Himmel vor dem Garten. Im Innern des Hauses rief die Mutter vor einem Zimmer zum anderen, wie immer, zum letzten Mal ... Alles würde weitergehen, alles blieb so, wie es war ... Über dem Garten würde immer dieser farblose Lichthof des Morgengrauens stehen, eine Hand, die im schattenlosen Licht auf- und zuging. Das Seltsame war, dass man alle diese Dinge zum letztenmal sah, ohne dass sie es wussten.“
Die letzten Seiten des Buches, auf denen der Junge abschiednehmend auf seinem Fahrrad noch einmal durch die Reinbeker Landschaft fährt, gehören, weil sie ohne falsche Gefühligkeit und Sentimentalität auskommen, zu den bewegendsten Passagen. Kein Wort fällt darüber, dass es nach dem Abschied von den Eltern am Bahnhof kein Wiedersehen mehr gab, kein Wort darüber, dass die Mutter nach vier Jahren an der nicht verwundenen Trennung starb, dass der Vater zwar Theresienstadt überstand, doch nach dem Krieg nur noch kurze Zeit lebte.
Sein erstes auf Deutsch geschriebenes Buch, „Die Absonderung“ (1991), war der erste Teil einer Trilogie, dem dann noch „Die Aussetzung“ (1996) und „Die Befreiung“ (2007) folgten. 
Goldschmidt schildert die Situation eines elternlosen Kindes im französischen Exil, dessen Identität ganz unsicher ist – einmal gilt der Junge als Christ, schließlich ist er getauft, dann wieder als Jude. Der Junge fällt vom Deutschen ins Italienische, von dort aus ins Französische, das unmerklich zu seiner Sprache wird. Dies Kind, ein „er“, auch ein „man“, wird vor den Nazis versteckt; in einem Kinderheim, auf Bauernhöfen, in einem Internat in den Savoyen. Das Kind sucht Schutz. Es findet Fremde. Umgekehrt ließe sich aber auch sagen: Der Junge sucht Fremdes und findet Schutz. Das Fremde sucht er, um nicht an die Eltern denken zu müssen; die Erinnerung an sie ist für ihn lebensgefährlich. Und was wäre ein Schutz? Können Körperstrafen schützen? Der Junge wird von seinen Mitschülern gepeinigt, und die Erzieherinnen gehen mit ihm besonders streng um. Immer wieder wird er bestraft, ob als Bettnässer oder wegen anderer Vergehen. 
Der Junge weiß, dass er nicht leben sollte, er weiß, dass er für Buchenwald oder für ein anderes KZ bestimmt war, er hätte ein Lampenschirm werden sollen und imaginiert sich immer wieder als einen Gegenstand. Zusätzlich erfährt er von seinen Erzieherinnen, dass andere Jungen in seinem Alter aufgrund ihrer Arbeit für die Résistance, die auch „solche wie ihn“ schützte, längst hingerichtet worden seien. Was macht ein Kind mit den immensen Schuldgefühlen, die von allen Seiten auf es einstürmen? Der Junge, von dem Goldschmidt wieder und wieder schreibt, übt sich in den Jahren seiner Jugend in der Kunst des „Umstülpens“. Es wird sein Stolz, die Zeichen umzudrehen. Schwäche verwandelt er in Stärke, Unsicherheit in Sicherheit, Unfreiheit in Freiheit. Was so abstrakt alles und nichts sagt, konkretisiert sich, verlebendigt sich in dem Augenblick, wo Schmerz in Lust umschlägt, wo die Strafe in die Entdeckung der Sexualität mündet und, so heißt es, als Lust „auflodert“.
In „Die Aussetzung“ (1996), dem zweiten Band der Trilogie, muss der 16-jährige Georges-Arthur 1944 das Kinderheim in den Savoyen verlassen, die Unterbringung dort ist zu gefährlich geworden. Auf einem Bauernhof findet der jüdische Jugendliche Unterkunft, hört Radio London und Radio Paris und hilft dem Bauern bei der Arbeit. Das abgelegene Gehöft liegt auf einem Hochplateau, nur wenige Kilometer vom Internat entfernt. Er ist ängstlich, fremd, einsam, und dennoch ist alles ganz anders, aus einem einfachen Grund: Er wird nicht mehr geschlagen, er muss nicht frieren, und er muss keinen Hunger leiden. Zur Begrüßung werden ihm gelbbraune Kartoffelpuffer vorgesetzt, und er darf nehmen, soviel er will. Prompt pinkelt er nicht mehr ins Bett, wie er es, seit dem Tod seiner Mutter, jede Nacht im Internat gemacht hatte, von schweren Sanktionen gefolgt. Und prompt onaniert er nicht mehr.
Der Junge beobachtet die Begattung einer Kuh, das Schlachten eines Schweins und weiß dabei seine Sexualität auf eine dumpfe Art mit im Spiel. Doch nach neun Monaten schickt ihn der Bauer aus Angst, als Fluchthelfer entdeckt und erschossen zu werden, zurück zum Kinderheim. Schließlich kommt er zu einem anderen Bauern, in einem anderen Tal. Er wird in einer Höhle versteckt, ein Widerstandskämpfer gesellt sich zu ihm und die Deutschen ziehen ab. Er geht ins nahe Dorf hinunter, und am Ende läuten sämtliche Glocken die Befreiung durchs Tal. Für einen Augenblick, den letzten der Erzählung, tönt so etwas wie der Klang der Erlösung durch einen Text der Schmerzen. 
Mit der Erzählung „Die Befreiung” (2007) vollendet Georges-Arthur Goldschmidt die autobiographische Trilogie seiner Jugendjahre. Am 17. September 1944, die französischen Alpen sind gerade von den deutschen Besatzern befreit, verlässt Arthur Kellerlicht den Bauernhof, auf dem er sich ein gutes Jahr versteckt gehalten hatte. Er kehrt ins nahe gelegene Internat in Megeve in Hochsavoyen zurück.
„Mit jedem Schritt erweiterte sich die Talsicht; hoch oben, über dem, der da ging, trieben Wolken schiffartig dahin, sonnenumrandet. Der Jüngling hatte die Abkürzung genommen, die geradeaus zum Internat heraufführte, welches, wie zur Aufsicht dahingestellt, das ganze Dorf überragte, sodass man es sich davon abheben sah wie einen Schornstein an einem Satteldach.” So beginnt der Roman, doch ihr Tempo bremst jäh ab: Aus seinem Versteck befreit, braucht er erst einmal Zeit, die freie Natur auf sich wirken zu lassen. Immer wieder holen ihn die Erinnerungen an die vergangenen sechs Jahre ein: seine Verlassenheit weitab von der Heimat seiner Kindertage, der Verlust der Eltern, die dem Nationalsozialismus zum Opfer gefallen sind, das dauernde Gefühl, überflüssig und auf das Wohlwollen seiner Mitmenschen angewiesen zu sein, schließlich die sexuellen Schuldgefühle, die sich unter den Stockschlägen einer sadistischen Internatsdirektorin in irritierende Lust verwandeln. Diese Erinnerungen führen als Rückblende Motive aus den ersten beiden Teilen der Trilogie ein, die nun in immer neuen Verwandlungen wiederkehren werden. Und indem sie den Fortgang der eigentlichen Erzählung verzögern, bauen sie jene für Goldschmidt so typisch beklemmende Spannung auf, die dem Leser die Obsessionen und Ängste Arthurs ganz unmittelbar vermittelt.
„Wer zu spät kommt, bekommt kein Essen”, begrüßt ihn die Direktorin, als er die Tür zum Speisesaal öffnet. Der 16-jährige Arthur ist einem heillosen Chaos seiner Empfindungen ausgesetzt: Isolation und Geborgenheit, Schmerz und Lust, die Euphorie, überlebt zu haben und die Scham gegenüber den Ermordeten. Er kann das alles nicht voneinander trennen. Als Retter erweist sich sein scharfer Verstand, der ihm zu einem ausgezeichneten Abitur und einem bis dahin unbekannten Selbstbewusstsein verhilft.
Als Retter erweist sich auch ein junger Erzieher, der sich in Arthur verliebt – und ihn davon überzeugt, dass Sexualität sich nicht den Maßstäben von Schuld und Sünde unterwerfen lässt. Von der äußeren Verfolgung durch die Deutschen befreit, erlebt Arthur auch seine innere Befreiung. Nach dem Abitur bricht er nach Paris auf. Arthur Kellerlicht wird sich dort in Georges-Arthur Goldschmidt verwandeln, den Essayisten und Erzähler.
Im Jahr 2001 legte er mit „Über die Flüsse“ seine Autobiographie vor. Die ersten Kapitel sind der Herkunft gewidmet. Am Beispiel der eigenen Familie erzählt er weit ausholend vom Weg des assimilierten jüdischen Bürgertums im Deutschland des 19. Jahrhundert. Er tut dies mit aller Ausführlichkeit, mit Exkursen etwa über Hamburg und die Hanse, weil er diese Geschichte zunächst einem französischen Publikum erzählt. Goldschmidt hat sein Buch auf Französisch geschrieben und veröffentlicht und es dann selbst in ein melodisches, manchmal altertümliches und sanft von der Norm abweichendes Deutsch übersetzt.
Seine Autobiographie verfolgt mehr als nur den Zweck, die „zu schriftstellerischem Ausdruck gebrachte Selbstbesinnung des Menschen über seinen Lebenslauf“ zu sein. Sie ist auch ein Werk der praktischen und existenziellen Vermittlung: zwischen deutschem und französischen Denken, deutscher und französischer Sprache, einer Vermittlung allerdings, die keinesfalls auf eine Versöhnung der Gegensätze hinausläuft. Weil in den ersten Kapiteln von Goldschmidts Autobiographie gleichsam Thomas Mann die Feder führt (alles atmet patrizisches Behagen und strenge Ehrbarkeit wie in den „Buddenbrooks“), kommt es umso überraschender, wenn sich, kaum dass der kleine Junge laufen lernt, der Wind dreht. Fortan scheint es, als hätte sich in der noch heilen Hamburger Vorort-Welt der Geist Franz Kafkas eingenistet.
„Über die Flüsse“, so heißt seine Autobiographie“, und auch wenn wir dabei an viele Flüsse (die Seine, die Elbe, die durch Reinbek fließende Bille) und an den Doppelsinn des Wörtchens „über“ denken können, so ist doch klar, was gemeint ist. Es geht Goldschmidt um sprachliche Übersetzung und leibliche Übersetzung von Deutschland nach Frankreich. Und zurück? Ja, was die Sprache angeht, nein, was die Existenz betrifft. Aus Georges-Arthur Goldschmidt ist im Internat unter tausend Hieben, aber ganz freiwillig, ein Franzose geworden. Er hat ein zweites Zuhause in der französischen Kultur gefunden; denn anders als die deutsche hat er sie als einladende Kultur erlebt. Um so schmerzlicher trifft ihn die französische Niederlage des Jahres 1940, die ihn der eben erst erworbenen Sicherheiten gleich wieder beraubt. Der Krieg dringt vor bis nach Hochsavoyen, und manchmal ist unklar, was schlimmer ist, die durchziehenden deutschen Soldaten oder die unvorstellbar schwarze Pädagogik der französischen Erzieher.
Auf seine alten Tage macht er, wie er schreibt, folgende Erfahrung: erst schien ihm das Überleben illegitim, später, dank Rousseau, endlich legitim, und nun ist es gar keine Frage der Legitimität und also auch kein Überleben mehr, sondern einfach Leben und zwar eines, das „immer schöner“ wird. Das „Gefühl des Existierens“, das die Lektüre der „Bekenntnisse“ von Rousseau 1943 in ihm weckte, hat ihn seitdem nicht wieder verlassen. Es definiert die Zeitdauer, in der das autobiographische Ich mit sich selbst identisch ist. Vorher war alles Konfusion und Verstörung, seitdem aber wölbt sich über allen Erlebnissen und Eindrücken der immergleiche Himmel im Fluss der Zeit. Goldschmidt hat in seiner Autobiographie die schmerzlichen Tatsachen seines Lebens vor den Lesern ausgebreitet, und am Ende spricht aus ihm eine große Gelassenheit, für die er niemandem persönlich zu danken hat, es sei denn der Literatur.
In der Erzählung „Ein Wiederkommen” (2012) lässt der 18-jährige Arthur Kellerlicht seine Internatszeit im französischen Haute-Savoie hinter sich, reist nach Paris, von dort in eine Kleinstadt, wo er sein Abitur beenden soll und kommt schließlich wieder nach Deutschland, in das Land seiner Kindheit, so wie es der Titel verheißt. „Auf einmal stand das Haus da vor einem, mit Frontgiebel und Balkon, wie gezeichnet, genau wie in der Erinnerung, und doch wirklich zum Anfassen da, es stand ganz einfach da in der Luft, doch war alles vorbei, es hatte diese ganze Zeit gegeben mit all dem Stehen zwischen einem selbst und dem Elternhaus und der Wand: und hinter dieser Wand die ganze verlorene Zeit.“
Die Erziehung im Internat war von Gewalt geprägt. Bei Arthur Kellerlicht regte sich gegen diese körperlichen Züchtigungen kein Widerstand, sondern er sah sich in seinen Minderwertigkeitsgefühlen bestätigt, ist er doch „geburtsschuldig“ wegen seiner nicht-arischen Abstammung. Und schon seine Eltern hatten ihm das Gefühl gegeben, ein „Böser“ zu sein, wegen seiner Renitenz und weil er sich so oft der „stummen Sünde“ hingab. Er sieht sich als „nutzloser Esser“, und die Begriffe Schuld und Scham ziehen sich wie rote Fäden durch „Ein Wiederkommen“. Selbst der erste Besuch bei der Familie nach dem Krieg treibt ihn noch weiter in die Isolation: Die ältere Schwester hat ihn nur eingeladen, um ihm seine Ansprüche am Elternhaus abzuluchsen.
Für Goldschmidt, der hier sein alter ego auf Reisen schickt, ist zwar die Flucht als Zehnjähriger aus Nazideutschland eine schicksalhafte Fügung in größter Not gewesen, hat aber auch zeitlebens in ihm das Gefühl hinterlassen, verstoßen worden zu sein. Zugleich aber empfinde er an jedem Morgen in seiner neuen Heimat Paris, wo er seit Ende des Krieges als Schriftsteller, Essayist und Übersetzer lebt, eine sich immer wieder neu einstellende Freude darüber, überhaupt am Leben zu sein.
„Der Ausweg“ (2014) erzählt wieder mit subtilen Abweichungen von den Erfahrungen des Überlebens im Exil, das nichts als eine Untergrundexistenz bot, und von der Schuld und der Scham, die der Überlebende gegenüber den Toten empfindet. Der Ausschnitt ist neu gewählt. Der Held der Erzählung ist bereits 17 Jahre alt. In Tagträume versunken, sitzt er auf dem Dachboden des Collège Florimontane. Das ist der Name des katholischen Internats in der Gegend von Annecy, dem er sein Leben verdankt.
Traum und Traumata verschmelzen in Goldschmidts Erzählung „Der Ausweg“ zu einem Leid, aus dem die Strafe als der einzige Ausweg empfunden wird. Nur in ihr gab es Sicherheit und Selbstvergewisserung. Der Erzähler wird radikaler, erspart seinen Lesern nichts, auch nicht den unfreiwilligen eigenen Anteil an der Schmach, ob er nun Masturbation oder Bettnässen heißt.
Als Befreiung vom Schmerz, den prügelnde Erzieher verursachen, deutet Goldschmidt dessen Umkehrung in „Schmerzenslust“ und in Masochismus, den er als einen Akt der „Integration“ begreift: Erst wenn der Geschlagene Lust erfährt, gewinnt er sein Selbst zurück. Sein Ausweg aus Scham und Schmach öffnet sich nicht in der Analyse, sondern in literarischen Bildern. 
In dem kleinen Büchlein „Vom Nachexil“ (2020) berichtet Goldschmidt noch einmal mit expressiver Kraft von den Erfahrungen eines Kindes, das zum Opfer der Willkürmaßnahmen und der antisemitischen Verfolgung durch die NS-Diktatur geworden ist. Wie fast jedes seiner Bücher ist auch „Vom Nachexil“ Dank und Hymne an das zur „Leib- und Seelensprache“ gewordene Französisch, das ihm als Gegenpart der „zur Todessprache gewordenen Muttersprache“ schnell zu einer neuen Heimat wurde: „Er lernte die Sprache nicht, auf einmal war sie da, als wäre sie schon immer seine Muttersprache gewesen.“ Diese Zweisprachigkeit hat sein Sensorium für Sprache geschärft, die Spannung aus Nähe und Distanz zur deutschen Sprache dürfte ein Grund dafür sein, dass Goldschmidt ein Deutsch schreibt, das in seiner Präzision und Reflektiertheit einmalig, von unverwechselbarer Schönheit und Begrifflichkeit ist, in der das Exil etwa zur „Selbstumstülpung“, zum Leben in einer „Empfindungshülse“ zwingt. So dicht, so konzentriert wie in diesem Buch hat der mittlerweile über 90-Jährige sein Leben noch nie erzählt, so frisch und auch so musikalisch durchkomponiert. Auch mit dieser Ambivalenz ist schwer fertigzuwerden: dass einer, der brutal aus der Heimat seiner Muttersprache vertrieben wurde, diese „Frühaufsteher- oder Wanderersprache“ mit so viel Glanz beschenkt. 
Im Gespräch mit Hans-Jürgen Heinrichs hat er sich einmal einen „Schwarzfahrer des Lebens“ und auch einen „Lebensschmuggler” genannt, das ist einer, der als kostbarstes Gut sein Leben gerettet hat. Bis heute unendlich tief berührt ist Georges-Arthur Goldschmidt von Dankbarkeit denen gegenüber, die so viel aufs Spiel setzten, um dieses als „lebensunwert” gebrandmarkte Leben zu retten. Wenn man ihm gegenübersitzt, so Heinrichs weiter, oder sich mit ihm über Emails austauscht, kommt aber noch etwas hinzu, was einen nie unbeteiligt lassen kann: sein Humor, seine Freude am Quatsch und seine wunderbare Selbstironie, mit der er sich als „immenses Genie” und sein Werk als „Zeugs” und „Geschreibsel” bezeichnet. Neben der Selbstironie gibt es aber auch eine Zuspitzung im Infragestellen des eigenen Lebens und dessen „Wert”, die radikaler gar nicht vorstellbar ist: „Glauben Sie wirklich, Sie könnten verstehen, was geschehen ist. Für das Grauen gibt es keine Sprache.” 
 
Foto: (c) Wallstein Verlag