Gertraud Klemm - „Mutter Natur ist die Schlimmste überhaupt“ oder (K)ein Zimmer für mich allein

Veröffentlicht am 15.05.2021
Julie August über die österreichische Autorin
„Dieses Schreiben ist assoziativ, sprunghaft, nicht systematisch, es versucht, emotionale und körperbezogene Schattierungen zu erfassen, es ist gleichzeitig Autobiografie, Kommentar, feministisches Manifest, politischer Traktat, philosophischer Diskurs, Erzählung, Poesie und Gesang – ein schier undurchdringliches Gewebe von Gattungen und Stilen.“ So beschreibt Gertrude Postl, Professorin für Philosophie und Gender Studies, die Ästhetik der „écriture féminine“, die Ästhetik weiblichen Schreibens, die ihren Ausgang in den 1970er Jahren nahm.
Der Deutschlandfunk stellte im Rahmen einer Sendereihe „Ein Zimmer für sie allein“ die Frage an zahlreiche deutsche Autorinnen, ob es noch so etwas wie „weibliches Schreiben“ gibt. Kathrin Röggla, Ulla Lenze, Katja Oskamp oder Ulrike Draesner wurden interviewt und letztere meinte dazu „Weibliches Schreiben – wenn ich das höre, denke ich zuallererst an die Produktionsbedingungen und nicht so sehr an die literarischen Ergebnisse. Und wenn ich an weibliches Schreiben denke, fallen mir meine Schriftstellerkolleginnen und Freundinnen ein, die eigentlich nicht schreiben können, weil sie so viel andere Dinge zu tun haben. Weil die so soziale Wesen sind. Sie müssen die Kinder früh in den Kindergarten bringen oder zur Schule. Sie müssen den Haushalt machen. Sie müssen einkaufen. Sie müssen Einladungen aussprechen und ausführen. Sie müssen Arzttermine wahrnehmen, auch Frisörtermine. Sie müssen zum Sport gehen, sie müssen die Steuererklärung machen. Sie haben so viel zu tun, dass sie eigentlich nicht zum Schreiben kommen. Und nur die Allerhärtesten schreiben trotzdem. Nachts oder ganz früh. Und es gibt eigentlich immer viel mehr Gründe, nicht zu schreiben, als es trotz aller Widerstände zu tun.“
In beiden Beschreibungen finden sich zahlreiche Aspekte, die auch auf die Autorin Gertraud Klemm und ihr Schreiben zutreffen, was ihr eigenes Schriftstellerin-Sein bedingt und worum sich ihr Schreiben dreht. „Gertraud Klemm versteht es nicht nur, ständig sich verändernde, „neue" Fragestellungen einer Gesellschaft des permanenten Wandels in ihre Texte zu integrieren, sie erinnert auch auf unmissverständliche Weise an die Aktualität ‚alter‘ Themen: zentral ist dabei noch immer die Forderung nach der Gleichberechtigung von Frauen, die mittlerweile allzu gerne als ‚selbstverständlich‘ abgetan wird.“ So lautet der Text auf der Autorinnen-Seite zum Outstanding Artist Award für Literatur, den sie 2020 erhalten hat.
Nach ihrem Studium der Biologie in Wien arbeitete Gertraud Klemm bis 2005 bei der Stadt Wien als Beamtin für Trinkwasserkontrolle. In einer Lebenskrise tauschte sie die Sicherheit auf eine gehobene BeamtInnen-Karriere gegen ein Leben als freie Schriftstellerin. Als sie mitten in diesem Veränderungsprozess, in dieser Übergangszeit, wie sie in Interviews erzählt, Anfang dreißig schmerzhaft anerkennen muss, dass sie ein weiterer großer Wunsch ihrer Lebensplanung nicht realisieren lässt: Das Projekt Mutterschaft in all seinen möglichen Facetten am eigenen Körper zu erfahren. Sie reflektiert dies Jahre später im schmalen, aber intensiven Roman „Muttergehäuse“. Nach einer Fehlgeburt entschließt sie sich gemeinsam mit ihrem Mann zur Adoption. Heute ist sie Mutter zweier Söhne. Gemeinsam mit ihrer Familie lebt Gertraud Klemm in der Nähe von Baden und führt „eine Beziehung auf Augenhöhe, in der aber der Mann das gute Geld verdient.“, wie sie in einem Interview mit Brigitte Handlos auf „frauenfunk“ sagt.
Seit 2014 hat sie in rascher Abfolge fünf Romane und einigen Beiträge in Sammelbänden veröffentlicht, in denen sie sich mit Fragen zu weiblicher Identität und Identitätsfindung, feministischen Fragestellungen literarisch auseinanderzusetzt. Bereits mit ihrem Romandebüt „Herzmilch“ stand sie auf der Shortlist des European Union Prize for Literature und mit ihrem zweiten Roman „Aberland“ 2015 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises.
Herzmilch
„Kindsein heißt, auf der Zeit dahinzutreiben und immer wieder von den Eltern herausgefischt zu werden, sie füttern uns und schicken uns zur richtigen Zeit an die richtigen Orte, wo uns alles Wichtige beigebracht wird. Kindsein heißt, an wechselnden Orten das Leben auszuprobieren (Herzmilch 2014).“ Schon früh hat die Autorin, die selbst aus behüteten und gut bürgerlichen Verhältnissen stammt, gespürt, dass etwas nicht stimmt. Etwas Beunruhigendes vor sich geht, etwas Grundlegendes nicht passt, in der Art und Weise, wie Mädchen und Buben aufwachsen und erzogen werden. Bei der Lektüre von „Herzmilch“ (Droschl, 2014)“ wird rasch spürbar, dass ihr gängige Rollenvorstellungen gehörig gegen den Strich gehen. „Herzmilch“ stellt den Ausgangspunkt einer Suchbewegung dar, was es heißt Frau zu werden und Frau zu sein in einer Gesellschaft, die vorherrschende patriachale Strukturen noch lange nicht überwunden hat.
An ihrem Roman-Debüt hat Klemm viele Jahre lang gearbeitet. Sie beschreibt das Heranwachsen eines Kindes, zum Mädchen, zur jungen Frau, erwachsenen Frau, Geliebten, Freundin, Ehefrau und schließlich Mutter. Ein trauriges Mädchen wächst wie die Autorin selbst in einer wohlhabenden Kleinstadt der 1970er Jahre in einem großen Gründerzeithaus auf. Klemm ist hautnah dran an ihrer Figur, die bereits als Kind beim Essen merkt, wie Unterschiede gemacht werden: „Da werden wir andere Dinge essen als die Männer. Mein Bruder und der Vater werden Liebe auf den Teller bekommen, meine Mutter und ich ein schlankes Essen. Gekochte Fisolen, die den Bauch aufblähen und Krämpfe verursachen. Salate mit Joghurtdressings und Knäckebrot, das traurig schmeckt. Aber das wird nichts sein gegen das Dilemma mit dem Fett. Ich sehe schon den täglichen Kampf. Nie ist er vergessen, jeder Bissen ist ein verlorenes Manöver“.
Die Kinder- und Jugendjahre sind geprägt von Scham, unsichtbaren Nachmittagen im Schwimmbad, „Langeweile, böse(n) Schulbuben, unaufmerksame(n) Geschwister(n), zu wenige Süßigkeiten (…) Meine Motivation ist sehr diffus. Biologie blieb übrig, weil mir alles andere erfolgreich ausgeredet wurde. Jetzt sitze ich da und lasse mich eben mit Biologie berieseln, bis ich Kopfweh bekomme. Irgendwas wird schon aus mir werden.“ Ihre Ich-Erzählerin ist voll von Klischees und Rollenbilder, wie ein weibliches, emanzipiertes, selbstbestimmtes Leben auszusehen hat, von dem sie glaubt, es sich selbst zu wünschen. Während ihrer Studienzeit sucht sie nach alternativen Lebensentwürfen: „Ich wünsche mir eine Art Herbarium voll mit den Leben von Frauen, die sich zwischen 25 und 35 nicht zwischen Karriere und Kindern entschieden haben und monogam leben und zu Ferragosto nach Italien auf Urlaub fahren. Solche, deren Lebensplanung nicht voller Etappenziele ist, die dicht an dicht stehen, wo Konventionen mit Kompromissen verknotet sind.“
Klemm schlachtet Lebensentwürfe aus und spart dabei niemanden aus. Auch mit ihrer Ich-Erzählerin geht sie schonungslos um. Als Studentin arbeitet diese als Kellnerin in diversen Lokalitäten: „Ich mache es, weil ich das System melke. Es will nichts anderes als gemolken werden. Von Frauen wie mir. Die Kopfrechnen können und lächeln. Die Brüste haben und kräftige Unterarme und einen starken Rücken. Ich führe das Fräulein mit seinen Dirndlbrüsten an einer Leine spazieren und lasse es Männchen machen.“ In solchen mal deftigen, rauen und eindringlichen Bildern wird Klemms Vehemenz und die Unmittelbarkeit ihres Schreibens deutlich: „Wir Mädchen haben Träume. Unsere Träume haben einen Deckel. Auf dem sitzen die Kinder, auf die wir uns schon freuen dürfen.“ Hier liegen bereits die Fäden, um mit den Leben ihrer Protagonistinnen in „Aberland“ anzuknüpfen.
„Es gibt kein Entkommen von meinem Geschlecht“. Zur Wahl der richtigen Männer scheint ihrer Erzählerin auch das Glück zu fehlen und sie weiß oft gar nicht wohin mit so viel überbordender Liebe: „Die Männer spült der Alltag in mein Leben und er spült sie auch wieder hinaus aus meinem Leben. Es wächst nichts an in meinem Herzen.“ Genau solche Frauen werden in ihrem zweiten Roman „Aberland“ in ihren mehr oder weniger gelingenden Lebensentwürfen und ihren Alltag geschildert. Etwas bitter von der bis dato gelebten Liebeserfahrung stellt sie lakonisch und teilweise nüchtern fest: „Allerdings gibt es bei jedem Mann ein Tortenstückchen, das ich mir gerne zurückbehalten möchte: vom einen das Klavierspiel, vom anderen die Lust, vom dritten den guten Geruch seines Brustfells, vom vierten den schillernden Humor. Der perfekte Mann wäre der, den ich aus den besten Eigenschaften zusammensetzen könnte, sozusagen ein Tortenstückmann.“
So richtig glauben kann man Klemms unzuverlässiger Ich-Erzählerin selten und diese sich oft auch nicht auf ihre Selbsteinschätzung und ihrer Rolle als Frau: „Weil ich mir vormachte, es wäre egal, ob ich eine Frau oder ein Mann bin. Als könne ich mir Sicherheit erwandern, erarbeiten, ertrotzen. Dabei bin ich selbst der unsichere Ort.“ Als Klemms Ich-Erzählerin schwanger wird, will der vermeintliche Vater, ein Studienkollege, von der damit verbundenen Verantwortung nichts wissen und lieber für Forschungsaufträge um die Welt reisen. So sorgt sie sich die ersten Lebensjahre alleine um ihre Tochter. Die Verunsicherung als Mutter in ihrer neuen Rolle, der eigenen Erziehung und Prägungen, setzt sich für Klemm naturgemäß im eigenen Kind fort – und auch diese damit einhergehenden Wut: „Lenchens Wut ist eine Art zusätzliche Extremität, die die Aufgabe hat, sich aufzuladen und zu explodieren und wieder neu aufzuladen. Das Unheimlichste an Lenchens Wut ist der Eindruck, dass sie berechtigt ist. Das sage nicht nur ich.“
Ihre Erzählerin kommt zum bitteren Schluss: „Die Frau braucht einen Knochen im Herzen. Damit der das Herz hart macht. Das Herz darf nicht so weich sein, weil sonst die Männer und die Kinder das Herz in die Faust nehmen und es drücken. Heraus kommt die Liebe, die nie genug sein kann. Die Stunde, die wir uns aus dem Tag geraubt haben. Die Träume, die wir nicht haben durften. So tropft und tropft die Herzmilch in eine Schüssel, die dann weggetragen wird von uns. Ein Leben lang.“ Klemms namenlose Ich-Erzählerin resigniert gegen Ende des Romans. Sie ist längst selbst das geworden, was sie nie hat werden wollen: ein „Muttertier“. „Ein paar Wochen später hat das Muttertier alles schon arrangiert. Das Muttertier ist an meine Stelle getreten, es ist ein kühles, aufgeräumtes Ich, das Listen schreibt, Ultimaten festlegt und die riesigen Hebel ansetzt, die mein bisheriges Leben aus seiner bisherigen Sorglosigkeit hieven werden, geordnete Bahnen, so sagt das Muttertier dazu.“ „Herzmilch“ erzählt eine immer noch sehr aktuelle weibliche Entwicklungsgeschichte, vom Mädchen-, Frau- und Mutterwerden, das Biologie und Gesellschaft noch immer zutiefst prägen und alles andere als frei wählbar ist.
Aberland
Wie sich solche Lebensläufe weitererzählen lassen, dekliniert sie in „Aberland“ (Droschl, 2015) durch. Die 35-jährige Franziska ist eine der beiden weiblichen Protagonistinnen, deren Alltag sie in diesem Roman schildert. Auch hier zeigt sich wieder, wie hautnah sie an ihren Figuren dran ist: „Sie sieht sich das Kind aus dem Stubenwagen nehmen und es weit von sich strecken, die Arme werden ihr schwer von den dreieinhalb Kilo, die sie nicht in Berührung bringen will mit ihrem eigenen Körper, lachhaft, es ist schon lange nicht mehr ihr Körper, es ist jedermanns Luststätte, Labstelle, Raststätte, Brutraum, und mittendrin der glasklare Gedanke, ihn einfach fallenzulassen, um endlich schlafen zu können, und ein paar Momente später die Reue mit einer Schärfe.“
Klemm zeigt darin eindringlich die Schattenseiten von Mutterschaft: Überforderung und der Umgang mit dieser grundlegenden Veränderung und damit einhergehenden Aggressionen einer Mutter gegenüber dem eigenen Kind, anderen Müttern, dem Vater des Kindes. Sie spart auch nicht aus, dass diese enge Bindung zwischen Mutter und Kind auch mit negativen Emotionen einhergehen kann. Sie zeigt auf, wie wenig selbstverständlich eine faire Beteiligung beider Elternteile an der Kinderbetreuung und Hausarbeit ist. Und wie sich dieser ungleiche Verzicht auf berufliche Möglichkeiten, auf die eigene Lebensgestaltung sowie die Partnerschaft auswirken. Wie das Leben mit einem Schreibaby an die eigenen psychischen und physischen Grenzen führt und die „Enteignung des eigenen Körpers“ erlebt wird.
Für ihre Teilnahme am Bachmannpreis in Klagenfurt 2014 hat Klemm das erste Kapitel von „Aberland“ ausgewählt und gewann damit den Publikumspreis. Die vor allem männlichen Jury-Mitglieder zeigten sich in der Diskussion gespalten und reagierten mit Abwehr auf diese „wütende Suada", wie Hubert Winkels den Text bezeichnete. Auch Burkhard Spinnen nimmt eine „schwere Antihaltung zum Text" ein, wie er sagt, da dieser ihn an „Frauenzeitschriften-Aufschrei-Befreiungsprosa" erinnerte. Was da geschildert werde, sei doch alles „ganz normal". Einzig Daniela Strigl erkennt darin einen „radikalen" Text, „schwarze Literatur, die wir hier nicht weißfärben wollen". Klemm-Fans sehen jedoch genau darin, in ihrer Thematisierung des Banalen, ihre Kunst und die notwendige und dringliche Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen. Bei der Lektüre ihrer Texte oszillieren Leserinnen und Leser nicht selten zwischen Empathie und Ablehnung. Sie setzt sich schonungslos mit den Geschlechtern und deren Umgang miteinander auseinander. Ihre Erzählerin Franziska ergießt sich in „Aberland“ in einer gnadenlosen Selbstbefragung. Warum hat sie sich für eine Dissertation entschieden und sich nicht der Realität der Arbeitswelt gestellt? Warum nach der Geburt des ersten Kindes ihre Arbeit an der Doktorarbeit eingestellt?
An der Geschichte von Franziskas Mutter zeigt Klemm, wie es sich fortsetzen könnte und auch für Franziska weitergehen kann und wahrscheinlich wird. Abwechselnd kommen Franziska und ihre Mutter zu Wort. Franziskas Mutter Elisabeth ist 58 Jahre alt und angekommen im Einfamilienhaus und hat am Weg dorthin Träume und Wünsche verraten und sich auf die Rolle der versorgenden Ehefrau zurückgezogen. Zwischen der Organisation des gemeinsamen sozialen Lebens wie Feierlichkeiten und geselligen Abendessen versucht sie den eigenen Alterungsprozess so gut es geht aufzuhalten und stellt lakonisch fest: „Manchmal denke ich, wenn wir unsere Fortpflanzung erfolgreich abgeschlossen haben, schwärmen die Nerven aus und wandern von den erogenen Zonen in die Mundhöhle und in die Zungenspitze. Der Appetit ist eine Geilheit, die sofort und maßgeschneidert befriedigt werden kann, im Gegensatz zu dieser immer schwieriger werdenden Sexualität.“ Die vermeintliche Gleichberechtigung, die sogenannte „Normalität“, wie wir sie vorfinden, ist noch lange nicht die „Normalität“, wie sie Klemm gerne vorfinden würde. An ihrer Protagonistin Franziska wird deutlich, wie in einer scheinbar „aufgeklärten“ und gleichberechtigen Beziehung protofeministische Haltungen diese Prozesse lähmen. Kinder, sagt Stefanie Lohaus, eine der Redakteurinnen des feministischen „Missy Magazins“, sind der „Gleichberechtigungskiller schlechthin". Gertraud Klemm hat das selbst bei der Ankunft ihres zweiten Sohnes erfahren. Wie schnell Frauen zu Rabenmütter erklärt werden, wenn sie beruflich nicht zurückstecken möchten.
Gertraud Klemm fühlt sich mit der Bezeichnung feministische Autorin sicher wohl: „Feminismus ist für mich das Engagement, das ohne Rücksicht auf Verluste dorthin geht, dass wir alle dasselbe dürfen, egal ob wir männlich oder weiblich sind. Das ist ein Zustand, den ich eigentlich für erreicht gehalten habe. Ein Gedanke, der sich aber verändert hat, je älter ich wurde. Ich habe verstanden, dass die Gesellschaft und die Gesetze unterschiedlicher Natur sind und unterschiedliche Reife haben.“ Doch wird am Beispiel von „Aberland“ deutlich, wie oft sie als „antifeministisch“ missverstanden wird. Sie selbst sagt in einem Interview dazu: „Ich halte den theoretischen Feminismus für schwierig. Es gibt viele Frauen, die schlagen sich in den sozialen Medien die Köpfe ein über Themen wie Transgender, Prostitution, Kopftuch – also diese feministischen Reizthemen, die nur spalten und nicht zusammenführen.“
Erbsenzählen
In „Erbsenzählen“ (Droschl, 2017) versucht sich Klemm an einem alternativen weiblichen Lebensentwurf und wie und ob ein solcher in der gegenwärtigen Gesellschaft gelebt werden kann. Die 29-jährige Annika bricht mit den Erwartungen ihrer Umwelt und denen der Leistungsgesellschaft und hat ihren sicheren Job als Physiotherapeutin gekündigt. Sie kellnert für ihren Lebensunterhalt, anstatt übergewichtigen Beamten nach einer Knie-OP wieder auf die Beine zu helfen. Sie hat so etwas wie eine On-Off-Beziehung mit dem bekannten Radio-Kulturredakteur Alfred. Er ist Ende fünfzig geschieden und Vater des 13-jährigen Elias. In diesem Roman zeigt Klemm, wie sich die scheinbare individuelle „Freiheit" einer jungen Frau von heute, abseits der gängigen Vorstellungen von Partnerschaft, Karriere und vielleicht irgendwann einmal Mutterdasein möglicherweise entfalten lässt. Scharfzüngig, entlarvend und gnadenlos ist dabei ihr Blick auf den Kulturbetrieb und seine Akteure und Akteurinnen, die glauben, in ihren selbstzufriedenen bürgerlichen Existenzen zwischen Premieren und Weinverkostungen immer noch kritisch, alternativ und sogar etwas subversiv zu sein.
Muttergehäuse
Vom großen Leidensdruck eines unerfüllten Kinderwunsches und den Hürden einer Adoption erzählt Klemm in „Muttergehäuse“ (Kremayr & Scheriau, 2016)“: „Seit wir versuchen, ein Kind zu bekommen, rechne ich. In Wahrscheinlichkeiten. In Eisprungzyklen. In 9-Monatszyklen. Falls ein Kind kommen würde. In Tagen bis zur Regel. Falls kein Kind kommen sollte. In Urlauben, die gebucht werden sollten, dann aber storniert werden müssen. In Zimmern, die benötigt werden könnten. In Kosten, die drohen könnten. Ist bald ein großes Auto fällig? Bis wieder nicht.“ Als einen Art „genetischen Juckreiz" bezeichnet die Autorin den Wunsch nach der kompletten Familie. Als Tagebuch hat sie diesen Roman begonnen, um darin ihre eigene Geschichte zu reflektieren. Nach der Adoption zweier Babys aus Afrika konnte sie das Thema wieder aufgreifen und die Fragmente zu einem äußerst poetischen Roman verdichten. Dieser ist in drei Teilen gegliedert, die mit „Mutter", „Papier" und „Kind" betitelt sind.
In Zeiten der propagierten Selbstverwirklichung von Mann und Frau in allen Lebensbereichen mag die Zeugung eines Kindes auch wohl geplant und finanziert sein. Doch nicht alles ist planbar und kontrollierbar. Klemm gelingt es, die Dilemmata, in die Frauen und Paare geraten, direkt und unverstellt darzustellen und anzusprechen: Unzählige Arztbesuche, Veränderungen in der Partnerschaft, der Umgang des Freundeskreises, der Tageslauf, der sich dem Kinderwunsch zusehends unterordnet. Sie versucht diesen schmerzvollen Prozess nachvollziehbar zu machen, wo dies nicht mehr möglich ist, setzt sie ihre Träume ein, die in dem mit Illustrationen gestalteten Buch als Zwischentexte eingefügt sind. Den äußeren Bedingungen stellt sie die Träume der Mutterwerden-wollenden Frau zur Seite, die die inneren Prozesse abbilden und zeigen, wie tiefgreifend eine solche Entscheidung das Leben einer Frau und in Folge ihres Umfelds verändert. Mit prägnanter Sprache führt Klemm ungeschönt eine Realität vor Augen.
Sie setzt sich darin auch kritisch mit dem Umgang der Medizin mit Dysfunktionen und Fruchtbarkeit auseinander und zeigt, dass Schwangerschaft und Gebären weit von einem natürlichen Vorgang abgerückt sind in Zeiten der grenzenlosen Verheißungen von Reproduktionsmedizin. Doch trotz der Anstrengungen und Mühen, diesen Wunsch zu realisieren, ist Gertraud Klemm selbst das Muttersein dann doch nicht so leicht gefallen wie sie in einem Interview mit Elisalex Henckel in „Die Welt“ erzählt: „Ich dachte, ich wollte es. Ich wollte unbedingt wissen, wie es ist, Mutter zu sein. Ich wollte unbedingt mitreden, mit leben können. Es war wie eine biografische Schwerkraft.“ Klemm erlebte sich selbst bei der Ankunft des zweiten Kindes „in einen einjährigen Ausnahmezustand versetzt“, weil sie nicht mehr bereit war, beruflich so zurückzustecken. Sie sagt in diesem Interview weiters: „Eine Frau, die weder auf Kinder noch auf Karriere verzichten will, bedroht mit ihrem Ungehorsam das eingespielte Ungleichgewicht zwischen bezahlter und unbezahlter Leistung.“
Hippocampus
Mit Helene Schulze in „Hippocampus“ (Kremayr & Scheriau, 2019) hat sie so einer ungehorsamen Frau ein literarisches Denkmal gesetzt. Das einstige „One-Hit-Wonder“ der feministischen Avantgarde der 1970er Jahre, ist am Beginn von Klemms letzten Roman gestorben und damals mit ihrem unbehaglichen Roman „Rauhreif“ dem „Übel des bürgerlichen Eheidylls“ auf dem Pelz gerückt. Heute wäre sie wohl mit Hass-Postings traktiert worden, früher waren es Drohbriefe und ein schwieriges Verhältnis zum Kulturbetrieb, der ihr überlebens-notwendige Förderung und Stipendien stets verwehrt hat. Helen hat unter dem existenziellen Druck versucht, mit Alkohol ihre Schreibblockade aufzuweichen und die Einsamkeit loszuwerden – mit letalem Ausgang. „Mit Helene Schulze habe Österreich eine vielgelesene Autorin verloren, heißt es bei der Beerdigung.“
Klemm nimmt dabei Bezug auf die Aussage der damaligen Kulturministerin 2010 nach dem Suizid der Schriftstellerin Brigitte Schwaiger. Das Buch ist auch dieser Wegbereiterin gewidmet und als Hommage an sie zu verstehen. Mit „Wie kommt das Salz ins Meer?“ wurde Schwaiger früh sehr bekannt und später, als sie unter schweren Depressionen litt, weitgehend vergessen. Dass es Einfluss von Lektüreerfahrungen mit Ingeborg Bachmann, Marlene Streeruwitz und Brigitte Schwaiger gibt, ist bei ihr unbestritten. Klemms schillernde Feministin Helene Schulze betrachtete es als ihre Lebensaufgabe, „sich durch die taube Hornhaut der Gesellschaft durchzunagen“. Posthum landet ihr Roman „Drohnenkönig“ auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises – unter männlichem Pseudonym. Ihr Verlag hat den Roman ironischerweise unter dem männlichen Pseudonym Karl Maria Schatt für den Preis eingereicht. Auch Elvira Katzenschlager ist ein Kind dieser Zeit und soll sich nun um den Nachlass ihrer Freundin kümmern. Im Café Gutruf sind sich Helene und Elvira zum ersten Mal begegnet und das „christliche Bauernkind schon völlig von der Großstadt verdorben“ im Dunstkreis von Hausbesetzern und Aktionskünstlern. Helenes Biografie erinnert nicht von ungefähr an den Lebenslauf einer Brigitte Schwaiger und Versatzstücken aus zahlreichen anderen bekannten und unbekannten Frauenbiographien. „Helene Schulze (die nach der Hochzeit Pezek hieß) schrieb ein paar Theaterstücke und Essays, und sie engagierte sich im engsten Radius. Sie tat, was ihr scheinbar mühelos neben den Kindern möglich war. Sie engagierte sich für die Errichtung eines Frauenmuseums in Kaiserbad: erfolglos. Erst wurde die Liebe aus ihr herausgemolken, dann wurde ihr Selbstbewusstsein abgetragen, Schicht um Schicht. Als die Kinder erwachsen waren, war die Schriftstellerin in ihr schon verschlissen. Wie sagt man? Sie hat ihre Karriere freiwillig geopfert. Man sagt Wahlfreiheit und meint Opfergaben. Das Buch war das Opfer, die Mutterliebe der Preis. Das stand nirgends in den Nachrufen.“ „Mit dem Porträt von Elvira Katzenschlager als ehemaliger Kommunardin und Mitarbeiterin eines Wanderzirkus hat Klemm die Wunschbiografie einer völlig freien Frau verfasst“, so Katrin Hillgruber in „Der Tagesspiegel“. Posthum zur Preisträgerin zu werden, ist eine Sensation und führt eine Kulturredakteurin samt Kameramann für einen Fernsehbeitrag über die Verstorbene in die Provinz auf die Spuren der Lebensgeschichte und ins Gespräch mit Helenes Jugendfreundin Elvira. Die „alte, unberechenbare Emanze“ interessiert den Kameramann Adria anfänglich gar, Hauptsache die Bezahlung stimmt. Zwischen Adrian, Anfang dreißig, und der reifen Elvira besteht so viel Unterschied wie Anziehung und so begeben sie sich schließlich gemeinsam auf einen Roadtrip, der zu einem performativen Rachfeldzug wird. Die Reise geht im Kleinbus schließlich bis nach Neapel.
Elvira will offizielle Skulpturen feministisch umgestalten. Die Abrechnung beginnt mit einem Obersenatsrat und leidenschaftlichen Jäger, dem sie eine „Fäkalskulptur“ auf seinem Hochsitz hinterlässt. Die Skulpturen signiert sie mit einem aufgesprühten Seepferdchen, jenem Meerestier, bei dem die Männchen „trächtig“ werden in dem ihnen die Partnerin ihre Eier übertragen. Zugleich bezeichnet „Hippocampus" einen Teil des Gehirns, der für das Entstehen von Erinnerungen und Überführung vom Kurzzeitgedächtnis ins Langzeitgedächtnis zuständig ist. „Man könnte als Grabbeigabe eine Stelle aus dem ‚Rauhreif‘ lesen, damals noch mit stummem H. Man wird das nicht. Man wird sich hüten. Das Buch ist ja auch nicht wirklich revolutionär. In dem Buch leidet eine Frau in ihrem bürgerlichen Gefängnis vor sich hin, während um sie herum die kulturelle Revolution der 68erBewegung in einem Meer aus Blumenkränzen, Drogen und sexuellem Freigeist wogt. In dem Buch geht es darum, dass die größte Freiheit nichts hilft, wenn sie nicht für alle gilt.“ Auf dem aufreibenden Roadtrip fasst „die Katzenschlager“ schließlich eine Lungenentzündung aus und wird von Adrian umsorgt, der ihr Thymiantee am Spirituskocher braut. „Sie schläft den ganzen Tag und er sitzt auf dem Fahrersitz und schaut eine Episode ‚Game of Thrones‘ nach der anderen.“ Adrian und Elvira nehmen einander nach und nach anders wahr: „Aber er muss zugeben, dass sie eine Erscheinung ist, in diesem Aufzug, es ist eine Mischung aus Wahrsagerin und Jane Goodall.“
Wider aller Widersprüche und Ambivalenzen finden die beiden neben dem sie anfänglich einzig einigenden, dem gemeinsamen Projekt, auch als Mann und Frau für kurze Zeit zueinander. Dieses Bild steht auch für die Intention von Klemms schriftstellerischer Arbeit. Kämpferisch für die Sache und zwischenmenschlich wider spaltende Tendenzen nach dem Verbindenden suchend. In diesem Sinne wird Gertraud Klemm hoffentlich mit dieser Leidenschaft und dem Überschuss an Liebe weiter schreiben. Foto: (c) detailsinn