Gregor, Susanne - Halbe Leben

Veröffentlicht am 16.04.2025
Roman um eine Pflegerin aus der Slowakei in einer österreichischen Familie.
Das Thema ist längst in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen: Wer kümmert sich um unsere Alten und Kranken, wenn die Angehörigen berufstätig sind und ihre Kinder eigene Karrieren verfolgen? Es sind ausländische Pfleger und vor allem Pflegerinnen, die ihre Familien für ein paar Wochen am Stück zu Hause zurücklassen, um in Österreich zu arbeiten. Paulína, die 38-jährige Krankenschwester aus einer Kleinstadt in der Slowakei, tut genau das, um als Alleinerziehende mit zwei Söhnen finanziell besser über die Runden zu kommen. Ihre beiden Buben (16 und 10 Jahre alt) leben während ihrer Abwesenheit bei der Schwiegermutter, die ihr wenig Verständnis entgegenbringt.
Aber zunächst steht die Familie der ebenfalls 38-jährigen Klara aus dem oberösterreichischen Kremstal im Vordergrund. Klaras Mutter Irene hat einen Schlaganfall erlitten und zieht zu ihrer Tochter, einer vielbeschäftigten Bauingenieurin, die beruflich weder zurückstecken kann noch will. Sie ermöglicht ihrem künstlerisch tätigen Mann und der gemeinsamen Tochter ein finanziell sorgenfreies Leben, aber ihre eigentliche Familie – so gesteht sie es sich selber ein – sind ihr Chef und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Architekturbüros, in dem sie beschäftigt ist. Irenes Krankheit passt nicht in ihren durchgetakteten Alltag.
Da scheint Paulína ein Geschenk des Himmels zu sein, eine wahre Perle, die sofort Zugang zu Irene findet und auch für Klaras Haushalt immer mehr Verantwortung übernimmt. Großzügig honoriert man dieses Engagement mit Geldgeschenken oder einem kurzen Thermenaufenthalt, bittet sie aber immer häufiger um einen Gefallen, der nichts mit ihrem Vertrag zu tun hat. Dabei übersehen ihre Arbeitgeber, bewusst oder unbewusst, dass Paulína selbst Mutter ist und Verpflichtungen ihrer eigenen Familie gegenüber hat.
Zu Hause in der Slowakei entgleiten ihr die beiden Söhne, sie weisen ihre Mutter immer mehr zurück, weil sie ihr innerlich vorwerfen, sie im Stich zu lassen. Rišo, der Ältere, hält seine Zukunftspläne vor ihr geheim und Andrej, der Jüngere, wird zum Bettnässer. Paulína muss bei seinen Lehrern vorsprechen, weil sich der Bub auch in der Schule auffällig verhält. Als Klara und ihrer Familie eine Veränderung in der Pflegerin wahrnehmen, führen sie diese zwar auf ihre schwierige Situation zurück, schaffen es aber nicht einmal, sich die Namen von Paulínas Söhnen zu merken. Immer mehr wird dieser bewusst, dass Österreich ein „narzisstisches“ Land ist, „voller selbstverliebter Menschen, die nur um sich selbst kreisen.“
Elegant wechselt die Erzählperspektive zwischen Klara, Paulína und Irene, jede hat ihre Geschichte und unterschiedliche Erinnerungen an die eigene Kindheit, mit jeder hat man Sympathie, aber es ist klar, dass Paulína auf der Strecke zu bleiben droht. Oder doch nicht? Den Rahmen der Romanhandlung bildet nämlich die Schilderung eines Unfalls, bei dem eine der drei Frauen den Tod findet.
Klare Sprache, psychologisch stimmige Figurenzeichnung und erzählerische Tiefe machen diesen Roman von Susanne Gregor zu einem besonderen Leseerlebnis. Er sollte in jeder Bibliothek nicht nur eingestellt, sondern auch prominent aufgestellt werden, damit er viele Leserinnen und Leser findet.
Ida Dehmer
Gregor, Susanne - Halbe Leben
Roman. Wien: Zsolnay 2025. 188 S. - fest geb. : € 24,50 (DR) ISBN 978-3-552-07523-8