Haller, Günther - Café Untergang

Haller, Günther - Café Untergang

Veröffentlicht am 15.01.2024

Stalin, Hitler, Trotzki, Tito 1913 in Wien.

Wien war um 1913 noch der Mittelpunkt eines brodelnden Vielvölkerstaates. Glücksritter, Taglöhner, Migranten und politische Fanatiker trafen hier zusammen. Mitten in diesem Dampfkessel waren auch vier Männer, die noch am Anfang ihres Weges standen. Fatalerweise führte ihre Zukunft nicht nur sie selbst, sondern einen ganzen Kontinent in den Untergang.

Günther Haller hat ein spannendes, detailreiches Mosaikbild dieser Zeit zusammengestellt. Seine akribischen Recherchen (wie die beeindruckenden Quellen- und Literaturangaben beweisen) zeigen ein umfassendes Sittenbild. Dabei schildert er nicht nur plastisch die vier Protagonisten, sondern zeichnet auch die sozialen, gesellschaftlichen und politischen Hintergründe.

Da ist der intellektuelle Lew Dawidowitsch Bronstein, ein eifriger Besucher im Café Central, wo er auch mit Victor Adler über die Zukunft des Sozialismus diskutiert. Keiner kann damals ahnen, dass er als Trotzki in die Geschichte eingehen wird. Weit weg von dieser Gesellschaft lebt der junge Josip Brod aus Kroatien in Wien. Er wird Spezialschlosser und „Einfahrer“ bei Daimler und könnte so relativ gut leben. Aber in seinem Kopf spuken wilde sozialistische Ideen. Er ist ein glühender Stalinanhänger und wird später als Tito bekannt und gefürchtet.

Iossif Wissarionowitsch Dschugaschwili wird auch einmal seinen sperrigen Namen ändern. Er wählt den Kampfnamen Stalin. Nach Wien kommt er, da er von Lenin zu einer Parteikonferenz beordert wird und er einen Platz in der revolutionären Organisation bekommen soll. Er wohnt bequem in der Schönbrunner Straße 30, denn diese Adresse ist eine Drehscheibe auch für politische Emigranten und Parteifreunde. Am anderen Ende der Stadt lebt ein junger Kunstmaler, nicht ganz so gut, in einem Männerheim. Es ist Adolf Hitler. Seine Familie hält ihn für einen Taugenichts, die Kunstakademie lehnt den „Künstler“ zweimal ab und so wächst sein Groll und er beginnt sich mit den Ideen der Sozialdemokraten auseinanderzusetzen. Er wird sich für die „unendlich bittere Zeit“ und seine „Lehr und Leidensjahre“ furchtbar rächen.

Wien 1913: Elend, Aufbruch, Unsicherheit in jeder Gesellschaftsschicht. Der Historiker Günther Haller hat ein großartiges Sittenbild erstellt und zeigt uns, wie die Menschen ungewollt in einen Umbruch hineintaumeln, dessen fatalen Ausgang man sich nicht vorstellen konnte. Auch die österreichische Politikszene und das Kaiserhaus wird beleuchtet, auch da kommt es zu höchst unterschiedlichen Ansichten, die zur allgemeinen Unsicherheit beitragen. Eine spannende, mitreißende Lektüre, die einen auch betroffen macht. Konnte man die politischen Entwicklungen nicht rechtzeitig stoppen? Konnte niemand sehen, wohin das führt und einen anderen Weg durchsetzen?

Günther Haller hat ein Buch aus den unterschiedlichsten historischen Fakten zusammengestellt, aber die menschliche Seite nicht vergessen und so ist es packend zu lesen. Es ist aber auch eine Lektüre, bei der man zu grübeln beginnt: sitzen vielleicht jetzt wieder solche Menschen in den Cafés, Vereinen oder politischen Gruppen? Können wir heute ahnen, was aus so manchen Ideen entstehen kann?
Renate Oppolzer

Haller, Günther - Café Untergang
Stalin, Hitler, Trotzki, Tito 1913 in Wien. Wien: Molden 2023. 192 S. : zahlr. Ill. - fest geb. : € 27,95 (GE) ISBN 978-3-222-15114-9

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