Han Kang - Griechischstunden
Veröffentlicht am 25.10.2024
Ein Roman, der gängige Vorstellungen und Wahrnehmungen feinsinnig hinterfragt.
„Blank lag das Schwert zwischen uns“ lautet der erste Satz von Han Kangs neuem Roman. Er ist kursiv gesetzt und bezieht sich auf ein nordisches Epos, wonach ein Schwert zwischen Mann und Frau in der ersten wie in ihrer letzten Nacht gelegt wird. Darüber denkt ein Altgriechischlehrer nach, der weiß, dass er bald, bedingt durch eine familiäre Erbkrankheit, schleichend erblinden wird. In seinem Unterricht begegnet er einer jungen Frau, die ihn anzieht und deren Wahrnehmung und Bezug zur Welt auf eine andere Weise getrübt ist: Sie spricht nicht mehr.
Han Kang setzt sich am Beispiel dieser beiden Menschen mit grundlegenden philosophischen Fragen menschlicher Existenz auseinander: Was trennt uns und was kann uns verbinden? Sie hinterfragt gängige Vorstellungen und Wahrnehmungen. Die junge Frau ist aufgrund traumatischer Erfahrungen in Therapie. Wenn sie ihrem Therapeuten etwas mitteilen will, schreibt sie es auf. Dass sie in einem Griechischkurs landet, ist auf der konkreten Ebene nicht relevant für den Lesenden. Vielmehr bringt die Autorin dadurch – in der Rolle des Lehrers – tröstliche philosophische Einsichten in diese beiden Selbstbefragungen. Während der Lehrer naturgemäß mit seinem Schicksal hadert, wird etwas sichtbarer und nachvollziehbarer, was so schwer in das gegenwärtige Leben der Frau wirkt.
Seit dem ungewöhnlichen und herausragenden Debüt „Die Vegetarierin“ (2017) hat sich Han Kang beharrlich in die Gegenwartsliteratur eingeschrieben. In ihrer eingängigen und klaren Sprache erzählt sie mit Feinsinnigkeit und mit oft brutaler Klarheit über Verlust und Einsamkeit. In dem, was uns trennt, scheint es, findet sie zuversichtlich auch immer etwas, was uns verbindet.
Julie August
Han Kang - Griechischstunden
Roman. Berlin: Aufbau 2024. 204 S. - fest geb. : € 24,50 (DR) ISBN 978-3-351-03792-5 Aus dem Korean. von Lee Ki-Hyang