Han Kang - Palimpseste aus Schatten
Veröffentlicht am 19.11.2024
Ein Porträt von Peter Klein.
Vor acht Jahren, im Jahr 2016, begann der schmale Roman „Die Vegetarierin“ auch im deutschen Sprachraum Aufsehen zu erregen und entwickelte sich schnell zu einem Bestseller (wie auch schon in Südkorea, wo er 2007 erschien, in den USA und England im Jahr 2015 und weiters in vielen anderen Ländern). Mit ihrer Geschichte um eine Frau, die sich weigerte, Fleisch zu essen und ihre Freunde und Familie empörte, sich von ihrer Umgebung abwandte, um letztlich das Leben selbst immer mehr abzulehnen, traf sie zielsicher ein Nervenzentrum unserer Zeit. Heuer wurde sie mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet.
In ihrer Heimat Südkorea galt Han Kang schon lange als eine der wichtigsten Autorinnen der Gegenwartsliteratur. Als Tochter des Schriftstellers Han Seung-won 1970 in Gwangju im Südwesten von Südkorea geboren, wuchs sie seit ihrem elften Lebensjahr in Seoul auf. Dort studierte Koreanische Literatur und graduierte im Jahr 1993. Im selben Jahr gab Han ihr literarisches Debüt mit einer Reihe von fünf Gedichten, die in der koreanischen Zeitschrift „Literature and Society“ veröffentlicht wurden. Im folgenden Jahr gewann sie den Frühlingsliteraturwettbewerb „Seoul Shinmun“ mit einer Kurzgeschichte.
Ihre erste Kurzgeschichtensammlung, „Liebe in Yŏsu“, wurde 1995 veröffentlicht. 1998 nahm sie drei Monate lang am International Writing Program der University of Iowa in den USA teil. Ihre seitdem erschienenen Romane, Novellen, Essays und Kurzgeschichtensammlungen beschäftigen sich auf unterschiedliche Weise mit Themen wie Patriarchat, Gewalt, Trauer und Menschlichkeit. Spätestens 2009, als ihr Roman „Die Vegetarierin“ von Im U-seong verfilmt wurde, galt sie als eine der erfolgreichsten Autorinnen Südkoreas.
Deine kalten Hände
Doch zuvor erschien ihr Roman „Deine kalten Hände“ (2002), der von einer Autorin erzählt, die zufällig und über mehrere Jahre hin auf Skulpturen des Künstlers Jang Unhyong stößt. Es sind Gipsabdrücke von einzelnen Körperteilen oder ganzen menschlichen Körpern. Während sie außen jede Pore, jedes Haar und jede Ader zeigen, sind sie an den Rändern wie abgeschnitten und innen hohl. Eigentlich zeigen die Skulpturen nur Hüllen. Hüllen umhüllende Hüllen, denn auch die Haut der Menschen ist ja nur eine Hülle, die ein Inneres verbirgt. Jedes Mal, wenn sie darüber nachdenkt oder die Arbeiten betrachtet, bekommt die Schriftstellerin eine Gänsehaut – und besonders auch, als sie dem Bildhauer eines Abends persönlich begegnet, natürlich auch ganz zufällig nach der Theaterpremiere einer Freundin. Sie fragt ihn, warum er Abdrücke von Menschen nimmt und er bleibt ihr eine Antwort schuldig. Stattdessen fragt er sie, ob sie für einen Abdruck Modellstehen möchte. Ihre Antwort darauf: nein. Ein Wort, das ihr rückblickend wahrscheinlich das Leben gerettet hat.
Zwei Jahre später nämlich liegt sie krank in ihrem Bett und liest ein Manuskript des Bildhauers, der eines Tages spurlos verschwunden ist – und mit ihm eines seiner Models. Blut hätte man in seinem Keller-Atelier gefunden, zwischen mehreren zerstörten Gipsabdrücken, von Oberkörpern, Beinen, Armen – und Händen. Und neben seinen faszinierenden Gipsabdrücke von Händen und Körpern hinterließ er nur dieses bewegende Tagebuch, das seine lebenslange Suche nach Nähe und Wahrhaftigkeit in einer Welt voller Masken schildert. Han Kangs Roman ist ein unkonventionelles Buch, verrätselt, aber auch plakativ in der Darstellung der Motivation der Figuren. Der Text kreist gelassen um Themen wie Schönheit, Schuld und Schmerz und vermittelt eine Art von „Surrealismus“, der einem den Boden unter den Füßen wegzieht.
Die Vegetarierin
2015 erhält Han Kang für ihren gerade übersetzten Roman „Die Vegetarierin“ den Man Booker International Prize. Der Roman stellt die südkoreanische Hausfrau Yeong-hye in den Mittelpunkt, die eines Tages beschließt, sich nur noch vegetarisch zu ernähren und die konsequent alle tierischen Produkte aus dem Haushalt entfernt. Yeong-hye, ist, wie ihr Mann meint, „in jeder Hinsicht völlig unauffällig“. Sie ist eine vernünftige, fleißige Hausfrau, eine einigermaßen aufmerksame Ehefrau, nicht sehr unglücklich und von keinen großen Leidenschaften getrieben. Cheong, ihr Ehemann, ist ein mittlerer Angestellter, nicht besonders ehrgeizig und von seinem Leben leicht, aber nicht besonders begeistert. Die Zeit vergeht wie im Flug und die beiden führen ihr normales Leben weiter. Doch ihre Gewöhnlichkeit ist, wie sich herausstellt, fragiler, als ihnen bewusst ist.
An dem Tag, an dem Yeong-hye das gesamte Fleisch aus dem Gefrierschrank wegwirft und verkündet, dass sie sich fortan vegetarisch ernähren wird, beginnen die Dinge zu zerbrechen. Die einzige Erklärung, die sie ihrem Mann gibt, ist wenig zufriedenstellend: „Ich hatte einen Traum.“ Die Leser wissen, obwohl ihr Mann es nicht weiß, etwas über die Natur des Traums: Er ist dunkel, blutig und aggressiv. Auch in Yeong-hyes Welt bricht bald Gewalt aus, als ihr Vater versucht, ihr ein Stück süß-saures Schweinefleisch in den Mund zu stecken. Von da an geht es bergab. Andere Menschen werden hineingezogen, andere Beziehungen geraten ins Wanken und Yeong-hyes Schwur, Vegetarierin zu bleiben, ist die einzige Konstante in einer Familie, die vor den Augen der Leserschaft auseinanderbricht. Ihre passive Rebellion nimmt immer groteskere Ausmaße an, als sie sich in der Öffentlichkeit zu entblößen beginnt und von einem Leben als Pflanze träumt.
Es ist ein Roman in drei Akten: Der erste zeigt Yeong-hyes Entscheidung und die Reaktion ihrer Familie. Der zweite konzentriert sich auf ihren Schwager, einen erfolglosen Künstler, der von ihrem Körper besessen ist. Im dritten geht es um In-hye, die Managerin eines Kosmetikgeschäfts, die versucht, ihren eigenen Weg zu finden, mit den Folgen des Familienzusammenbruchs umzugehen. In allen drei Teilen wird man mit den Verhaltenserwartungen, der Funktionsweise von Institutionen konfrontiert. Ebenso mit den Spannungen zwischen großer Leidenschaft und erschreckender Distanziertheit, gestillten und verleugneten Wünschen. Bei solch einer Gewalt in den inneren Welten der Charaktere und einer wahnsinnigen äußeren Gleichgültigkeit werden diese inneren Leidenschaften zwangsläufig irgendwann zum Ausbruch kommen. In diesem Meisterwerk geht es um mehr als um eine Hausfrau und ihre Familie, es zeigt die Mechanismen einer autoritäre Kontrolle, die Dimensionen des Verlangens (einschließlich des Verzichts auf das Verlangen) und die Art und Weise, wie wir versuchen, ein Leben zu führen, das sich weniger falsch anfühlt.
Griechischstunden
Der bei uns heuer übersetzt herausgekommene Roman „Griechischstunden“ ist im Original bereits 2011 erschienen und erzählt die Geschichte zweier relativ gewöhnlicher Menschen, die sich in Frankfurt in einem Moment privater Angst begegnen. In einem Klassenzimmer in Seoul beobachtet eine junge Frau ihren Griechischlehrer. Sie versucht, zu sprechen, hat aber ihre Stimme verloren. Der Lehrer fühlt sich zu der stummen Frau hingezogen, denn er verliert von Tag zu Tag mehr von seinem Augenlicht. Bald entdecken Die beiden spüren, dass sie etwas verbindet. Die junge Frau hat in nur wenigen Monaten sowohl ihre Mutter als auch den Kampf um das Sorgerecht für ihren neunjährigen Sohn verloren. Den Lehrer schmerzt es, zwischen Korea und Deutschland aufzuwachsen, zwischen zwei Kulturen und Sprachen hin- und hergerissen zu sein. Nun begegnen die beiden Namenlosen einander im Griechisch-Kurs, allerdings geht es nicht um das heutige Griechisch, sondern um Altgriechisch. Langsam entdecken die beiden ein tiefes Gefühl der Einheit, und ihre Stimmen überschneiden sich mit verblüffender Schönheit.
Kommunikation ist ein zentraler Aspekt des Romans. Nicht nur auf Koreanisch und Altgriechisch, sondern auch mittels Gebärdensprache und Braille-Schrift. Mit dem Mann, dem das Sehen vergeht, kommuniziert die Frau auf so subtile wie intime Weise: sie „schreibt“ es mit ihrem Fingernagel in seine Hand. Oder sie scharrt etwas mit den Füßen, um ihre Zustimmung oder Ablehnung auszudrücken. Sie wollte schon immer „ihre Möglichkeiten nicht ausnutzen“ und sich nicht über die Grenzen ihres Körpers hinweg ausbreiten. Ton und Struktur des Textes entsprechen in etwa der Haltung der Frau. Der Roman wird geprägt von der Reduktion und nicht von einer ausschweifenden Handlung.
Menschenwerk
2013 veröffentlichte Han Kang einen Roman, dessen Titel genau übersetzt „Der Junge kommt“ lautet. Die deutsche Ausgabe des Buchs erschien 2017 dann unter dem Titel „Menschenwerk“ (angelehnt an die englische Übersetzung, die als „Human Acts“ herauskam). Han Kangs leidenschaftlicher Roman nimmt sich der gewaltsamen Zerschlagung des Gwangju-Aufstands, einem berüchtigten staatlichen Massaker 1980 in Südkorea, an.
Im Mai 1980 gingen Studenten zusammen mit anderen (viele davon Kinder) in Gwangju auf die Straße, um gegen die Ausweitung des Kriegsrechts durch den diktatorischen Armeegeneral Chun Doo-hwan zu protestieren. Fallschirmjäger schossen wahllos auf die unbewaffnete Menge und setzten Flammenwerfer, Bajonette und Knüppel gegen sie ein, wobei zwischen 1000 bis 2000 Menschen getötet wurden. Han Kang, die in Gwangju geboren und aufgewachsen ist, schildert das Geschehen in miteinander verbundenen Kapiteln, in denen es sich jeweils um eine Seele handelt, die durch die Gräueltaten von 1980 „zerteilt“ und „zerstreut“ wurde. Das Buch ist teils in einer beunruhigend eindringlichen zweiten Person geschrieben, wobei die Leserin/der Leser die Rolle von Dong-ho übernimmt, einem Jungen, der nach seinem toten Freund sucht und gleichzeitig dabei hilft, Leichen zu katalogisieren. Seine und die Geschichten anderer werden nach und nach zusammengesetzt; Wie die Angehörigen der Vermissten sucht man die ganze Zeit nach ihren Namen.
Für Karl-Markus Gauß orientiert sich Han Kangs Roman „an den verbürgten Fakten, nutzt dokumentarische Quellen wie die Tagebuchaufzeichnungen eines Rebellen und thematisiert mancherlei autobiografische Verbindungen zum Geschehen. Aber sie hat keine Reportage oder Chronik, sondern einen Roman geschrieben, der sich manche derjenigen Freiheiten nimmt, die der künstlerischen Gestaltung von realen historischen Ereignissen zustehen. Weil es ihr so gelingt, Historie zugleich individuell und exemplarisch zu fassen, weiß Han Kang mit ihrem faktenstarken Roman nicht nur aufzuklären oder zu informieren, sondern zu erschüttern“ (Neue Zürcher Zeitung, 29.11.2017).
Weiß
Im wunderbar verstörenden Roman „Weiß“ (2016) hat sich eine traumatisierte Frau in einer namenlosen, wegen der frühen Dunkelheit und unerbittlichen Kälte vermutlich sehr nördlichen Stadt (für die Warschau Pate stand) eingemietet und schreibt dort an einer Liste weißer Dinge, um sich quasi selbst zu therapieren. Der Tod ist hier allgegenwärtig, immerhin wird in fernöstlichen Kulturen mit der Farbe Weiß der Tod assoziiert. Die Liste weißer Dinge wird zu einer Art Bewältigungsstrategie für ein Leben, zu dem eben auch der Tod gehört.
Es handelt sich bei diesem Buch um eine fragmentierte autobiografische Meditation über den Tod der kleinen Schwester einer namentlich nicht genannten Erzählerin, die zwei Stunden nach ihrer Geburt starb. Han misst diesen verlängerten zwei Stunden ihres Lebens klugerweise genauso viel Wert bei wie ihrem Tod. Die Geschichte ihrer Geburt wird aus der Sicht der Mutter erzählt, die 22 Jahre alt ist, als sie das Frühgeborene selbst zur Welt bringen muss. „Es ist“, so schreibt Deborah Levy (im Guardian, am 2.11,2017), „als ob diese Geschichte selbst zu einem Mutterleib geworden wäre, in dem die Autorin ‚innerlich aufgewachsen‘ sei. Han schrieb es während ihres Autorenaufenthalts in Warschau. Als sie im Roman um ein Gebäude herumgeht, das 1944 bei einem Luftangriff zerstört und dann wieder aufgebaut wurde, beobachtet sie, wie es originalgetreu wieder aufgebaut wurde und in seine neue Struktur eine alte, noch erhaltene Säule integriert wurde. Sie versteht, dass die Anwesenheit ihrer Schwester ebenso wie diese Säule Teil ihrer Geschichte ist, und fragt sich, ob sie ihr neues Leben schenken könnte, indem sie über ihren Tod schreibt.“
Han Kangs neuester Roman „Unmöglicher Abschied“ (im Original 2021 herausgekommen) erscheint nun schon Ende dieses Jahres. Erzählt wird von der Freundschaft zwischen zwei Frauen. Inseon hat sich bei einem Unfall verletzt. Sie bittet ihre Freundin Kyungha, sie in einem Krankenhaus in Seoul zu besuchen und fleht sie an, auf die Insel Jeju im Süden Südkoreas, wo sie lebt, ihr geliebtes Haustier zu retten, einen weißen Vogel mit dem Namen Ama. Als Kyungha ankommt, zieht Ein immenser Schneesturm fegt bei ihrer Ankunft über die Insel. Sie ist sich nicht mehr sicher, ob sie rechtzeitig eintreffen wird, um das Tier zu retten oder ob sie überhaupt die schreckliche Kälte überleben wird, die sie bei jedem Schritt erfasst. Im Haus ihrer Freundin erwartet sie dann ein schwindelerregender Sturz in die Dunkelheit. Die Grenzen zwischen Traum und Realität verwischend beleuchtet die Erzählerin eindrucksvoll ein jahrzehntelang verschwiegenes Kapitel in der koreanischen Geschichte.
Am 3. April 1948 kam es auf Jeju zu einem Aufstand, den die Polizei und Armee brutal niederschlugen. Nach offiziellen koreanischen Angaben wurden bei dem genozidähnlichen Jeju-Massaker zwischen April 1948 und August 1949 von insgesamt 400 ungefähr 270 Dörfer auf der Insel ausgelöscht und mehr als 27.000 Personen – alle, auch Frauen und Kinder, getötet. Nach Angaben der einheimischen Bevölkerung wurden bei dem Massaker bis zu 140.000 Menschen ermordet (die Gesamtbevölkerung betrug etwa 300.000 Menschen). Diesen Ereignissen nähert sich die Erzählerin sozusagen mittels verlorener Stimmen der Vergangenheit. Han Kang verwischt darin die Grenzen zwischen Traum und Realität und beleuchtet eindrucksvoll ein vergessenes, jahrzehntelang begrabenes Kapitel der koreanischen Geschichte – indem es die verlorenen Stimmen der Vergangenheit ans Licht bringt, um sie vor dem Vergessen zu bewahren. Es ist sowohl eine Hymne an eine dauerhafte Freundschaft als auch ein Argument zum Erinnern, so der Verlag. Eine Geschichte tiefer Liebe angesichts unaussprechlicher Gewalt – und eine Feier des Lebens, so zerbrechlich es auch sein mag.
2024 wurde Han Kang mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet, und zwar, so die Jury, „für ihre intensive Prosa, die sich historischen Traumata stellt und die Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens aufzeigt“. Damit wurde erstmals ein Literaturnobelpreis nach Südkorea vergeben.
Foto: (c) Yeseul Jeon