Hochgerner, Christine - Damals ist nicht mehr

Hochgerner, Christine - Damals ist nicht mehr

Veröffentlicht am 27.07.2022

Ein unaufgeregtes, feinfühliges Porträt einer alten Frau

Schnell geht bei Hertha Talhammer nichts mehr. Sie ist neunzig Jahre alt, hat arthrotische Schultern und gichtige Finger. Doch mehr als das stört sie, dass kaum noch jemand da ist, mit dem sie Zeit verbringen kann. Als sie vor über siebzig Jahren mit ihrem Mann in die Mietwohnung gezogen ist, in der sie immer noch lebt, hat sie viele Freundinnen und die Kameraden vom Turnverein gehabt. Inzwischen sind da nur noch die Fixpunkte in ihrer Wochenstruktur, zu denen die morgendlichen Turnübungen im Bett genauso gehören wie das „ein wenig durch die Wohnung fegen“ oder die regelmäßigen Spaziergänge, die sie meistens gleich mit dem Einkauf verbindet. Sie sind, wie das Blumengießen am Mittwoch, das Staubsaugen am Donnerstag oder das sonntägliche Auf-den-Friedhof-Gehen, „die sicheren Stützen in der Gleichförmigkeit ihres Daseins“. Solange sie diesen „Trott einhalten“ kann, ist für Hertha alles in Ordnung. Wenn die Gelenke und diverse Knöchelchen im Winter zu rebellieren beginnen, funktioniert das weniger. Die Ereignislosigkeit ist dabei nicht das Problem. In ihr sieht sie eher den „Garant für Vertrautheit und Verlässlichkeit“. Schließlich ist ihr Leben immer ein bescheidenes gewesen.

Aufgewachsen als lediges Kind mit einer alkoholabhängigen hysterischen Mutter und einem gewalttätigen Stiefvater in einer Zimmer-Küche-Wohnung, beginnt sie nach der Lehre in einer Fabrik für Berufskleidung zu arbeiten. Den schwierigen Familienverhältnissen entkommt sie, indem sie einen um fünfzehn Jahre älteren kriegsversehrten Mann heiratet. Weil der keine Kinder mag, wird Hertha nie schwanger und geht immer arbeiten. Und obwohl sie noch einer Generation entstammt, in der sich ausschließlich die Frau für den Haushalt zuständig fühlt, macht sie den Führerschein vor ihrem Mann. So wie er sie sein ganzes Leben lang gebraucht hat, bräuchte Hertha jetzt auch jemanden, vor allem zum Reden. Denn mit den Jahren ist ihr vieles fremd und sie einsam geworden. Die Gerüche im Stiegenhaus sind ihr unbekannt, die Nachbarn entweder ausgezogen oder hinausgestorben. Es gibt keine Hausmeisterin mehr, keine morgendlichen Treffen an der Bassena oder Kartenspielabende auf dem Gang wie früher.

Ihre Nichte sieht Hertha auch nur einmal im Monat, weil die ihren kranken Mann nicht gern alleine lässt. Und ihre letzte noch lebende Freundin Trude ist nach mehreren Schlaganfällen kaum noch ansprechbar, während Hertha selbst noch gut alleine zurechtkommt. Sie benötigt weder Essen auf Rädern noch die Unterstützung einer Heimhilfe, ist sie doch für ihr Alter, wie man sagt, „sehr gut beisammen“. Manchmal allerdings fühlt sie sich ein wenig hilflos, wenn sie etwa technischen Neuerungen wie dem Fahrkartenautomat bei der Schnellbahn gegenübersteht oder die Geldbörse verliert und glaubt, beim Sich-die-Tasche-hinauftragen-Lassen zu „leichtgläubig“ gewesen zu sein; oder als ein Fremder versucht, ihr im Stiegenhaus die unter dem Mantel verborgene Tasche zu entreißen. In solchen Momenten kommt sie sich vor wie eine „wehrlose alte Frau“.

Dagegen richten auch ihre Beruhigungstropfen und leichten Stimmungsaufheller, die sie hin und wieder nimmt, nicht viel aus. Umso mehr drängt sich die Frage auf, ob es nicht gescheiter wäre, ins Pensionistenheim zu ziehen. Nicht nur böte das Leben dort eindeutig mehr Sicherheit, sie müsste sich auch nicht um den Alltag kümmern und gewänne dadurch an Lebensqualität. Die Idee des Umzugs wird immer realer. Denn nicht nur soll das Haus, in dem sie wohnt, „saniert, modernisiert und aufgestockt“ werden; es ist auch der Hausverwaltung lieber, wenn sie auszieht. Aber dann freundet sie sich mit dem bosnischen Jungen Luka und seiner Mutter an. Hier zeigt die Autorin sehr schön, was es heißt, in einem vor allem von Einsamkeit, Angst und körperlichen Beschwerden bedrohten hohen Alter zu sein, in dem es nicht mehr selbstverständlich ist, Menschen um sich zu haben, denen man vertrauen kann.

Christine Hochgerners Schilderung der Alltags- und Lebenssituation von Hertha Talhammer inmitten der Corona-Krise, die ihr neben dem bevorstehenden Umbau des Hauses mitunter das Gefühl vermittelt, „in einer Falle zu sitzen“, ist nicht nur detailreich und genau, es wohnt ihr auch ein sich behutsam entfaltender poetisch-melancholischer Glanz inne, durch den sozial- und gesellschaftskritische Töne schimmern. So bildet sich auf sehr vielschichtige Weise das unaufgeregte, feinfühlige, mit kleinen Rückblenden in die Vergangenheit angereicherte Porträt einer alten Frau und ihres von Zurückhaltung und Bescheidenheit geprägten Lebens heraus, in dem die Strategie „Sich still verhalten und abwarten“ ihr schon über so manche Krise hinweggeholfen hat.

Andreas Tiefenbacher

Hochgerner, Christine - Damals ist nicht mehr

Roman. Klagenfurt: Sisyphus 2021. 174 S. - br. : € 14,80 (DR) ISBN 978-3-903125-60-5