Juri Andruchowytsch - Exotismen in der Wodkazone

Juri Andruchowytsch - Exotismen in der Wodkazone

Veröffentlicht am 17.05.2022

Peter Klein über den großen Sprachkünstler aus der Ukraine

„Wer die Ukraine verstehen will, muss Andruchowytsch lesen“ – derart plakativ wirbt der Suhrkamp Verlag zur Zeit des sogenannten Ukraine-Kriegs, des Angriffs Russlands auf die Ukraine, für die Werke seines Autors. Ja, und warum nicht? Warum nicht sollte man aus Andruchowytschs Werken eben die Ukraine verstehen, wie auch aus den etlichen anderen Werken ukrainischer AutorInnen? Auf jeden Fall lebt man ab der ersten Seite eines seiner Romane nicht nur im Andruchowytschen Kosmos, sondern auch in der gegenwärtigen und historischen Ukraine und erfährt solcherart mehr als sonstwie über und aus diesem Land. Seine teils skurrilen Romane, Erzählungen und Gedichte machten Juri Andruchowytsch nicht nur zu einem der bekanntesten Schriftsteller der Ukraine, sondern zu einem der interessantesten Erzähler Europas.

Juri Andruchowytsch wurde 1960 im Städtchen Ivano-Frankivsk (dem früheren Stanislaw), am Fuße der Karpaten, geboren und lebt dort bis heute. Als Vierjähriger lernte er Russisch, weil er einen russischen Kindergarten besuchte, mit sieben Jahren begann er Deutsch zu lernen, weil seine Eltern ihn auf eine Schule mit ukrainisch-deutschem Sprachzweig schickten. Früh schon wollte er seine Geburtsstadt verlassen, so studierte er im 160 Kilometer entfernten Lviv (dem vormals russischen, dann polnischen, dazwischen jeweils österreichischen und deutschen Lwow und Lemberg, in der auch Leopold Sacher-Masoch, der Oberst Redl und Joseph Roth gelebt haben) an der journalistischen Fakultät des Polygraphischen Instituts und schloss 1982 sein Studium ab. Anschließend leistete er seinen zweijährigen Wehrdienst in der Sowjetarmee ab.

Er schrieb und wusste, dass er unter Sowjet-Bedingungen nichts davon würde veröffentlichen können. Folglich brauchte er einen Brot-Beruf, einen, der mit Schreiben, Drucken und Papier zu tun haben sollte und ihn trotzdem von inhaltlicher Kontrolle freihielt. Journalismus kam also nicht infrage. So ging er ans Lemberger Typografische Institut und war dann acht Jahre lang in Ivano-Frankivsk Mittelsmann und Reitender Bote zwischen den Druckern, die das Handwerk erledigten, und den Redakteuren der örtlichen Zeitung, die ihm die Aufmachung ihrer Artikel überantworteten.

„Ich wollte aus Ivano unbedingt fliehen“, sagte er später. „Alles war mir zu eng, zu klein, zu alltäglich. Ich träumte immer von Lviv: Das war für mich die Großstadt, und Ivano-Frankivsk war Provinz. Als ich studierte, versuchte ich alles so einzurichten, dass ich niemals hierher, zu meinen Eltern, meinen Lehrern, meinen alten Freunden zurückkehren musste. Ich wollte diese Stadt endgültig verlassen, und sollte mir das nicht gelingen, bedeutete das, dass ich versagt hatte. – Tja. Es ist mir nicht gelungen, und mit diesem Gefühl kam ich 1982 wieder hierher zurück. Das Einzige, was mir da noch blieb, war die Imagination: die Vorstellung, dass dies hier in Wahrheit das Zentrum der Welt ist. Ich musste alles für mich selbst neu zum Leben erwecken, indem ich es anders beschrieb. (…) Ich hatte keine andere Wahl, als hier zu leben, und ich machte es zu meiner persönlichen Weltanschauung, dass die Wirklichkeit die Realität unserer Phantasien ist: Wir sind, was und wie unser Bewusstsein ist. Wenn man so denkt, ist jede noch so kleine Stadt eine Welt.“

Bereits seit 1982 wurden erste Gedichte von ihm in Literaturzeitschriften veröffentlicht. Die von ihm Mitte der 80er Jahre mitbegründete Gruppe BuBaBu (Burlesk-Balagan-Buffonada) galt als poetischer Aufbruch im Geist der Moderne. 1985 erschien sein erster Gedichtband („Himmel und Plätze“). Es ging um eine Poesie, die sich vom staatlich geschützten Sozialistischen Realismus mit frechen Pointen und gezielten Tabu-Brüchen absetzt. In seinen Texten mischt sich poetische Spielfreude mit Weltläufigkeit. Es sind Erzählgedichte der besonderen Art, wunschfreudig und abgebrüht, nachdenklich und spontan.

Seine Armeezeit verarbeitete er satirisch in sieben Kurzgeschichten und einem Drehbuch, das der Regisseur Andrei Dontschyk 1991 für den Film „Oxygen Starvation“ verwendete. Sie erschienen 1989 unter dem Titel „Links, wo das Herz schlägt“. Und er wandte sich solcherart vollends der Prosa zu: "1991 habe ich aufgehört, Gedichte zu schreiben. Ich dachte, es wäre für einen Mann von über 30 lächerlich, weiterhin zu dichten. Ein Gedichtband, 2004, das war noch ein Rückfall. Mittlerweile ist mir klar: Die Prosa liegt mir mehr als die Poesie." In den Jahren von 1989 bis 1991 belegte Andruchowytsch am Moskauer Maxim-Gorki-Institut Kurse für Fortgeschrittene Literatur und im November 1989 war es ihm möglich, eine Lesereise durch mehrere US-amerikanische Universitätsstädte zu machen.

Karpatenkarneval

Sein erster Roman „Karpatenkarneval“, geschrieben im September/Oktober 1990, erschien auf Deutsch erst 30 Jahre später und trägt im Original den Titel „Rekreacii“, was "Wiederherstellung", "Erholung" oder auch "Urlaub" bedeutet. Es ist der legendäre Bilderstürmertext eines 30-Jährigen, der die ukrainische Literatursprache zerstörte, um sie neu zu erfinden. Damals ein kleiner Skandal. Erzählt wird von einem „Fest des auferstehenden Geistes“ im entlegenen ukrainischen Tschortopil, zu dem Jung und Alt, seltsam gestrig wirkende Bürgerliche und Adlige ebenso wie die dichterische „Blüte der Nation“ mit allerlei Fahnen zu Fuß, im Zug oder auch mit einem Oldtimer anreisen. Organisiert wird diese Mischung aus Woodstock und Geisterbeschwörung, Konzert und Dichterlesung, Performance und Drogentrip von einem „ORGKOM“, garniert mit der Unterschrift Fellinis. Oder war es die von Hitchcock? Man nimmt es nicht so genau. Das Treiben in den Karpaten ist erst freudig, dann schreckenerregend und lässt sich hinreichend ziemlich genau mit Sex, Drugs and Poems umschreiben. Insbesondere die Drogen führen in eine Vergangenheit, in der die Bürger einer unabhängigen Ukraine noch eine heitere Zukunft vor sich glaubten, während der Stationenroman am Ende die gewaltsame Besatzung der nach Unabhängigkeit strebenden Ukraine parodiert. Die Invasion erweist sich jedoch als inszeniert.

Vier Männer stehen für die Macht der Dichtung: der Dichterstar Martofljak, der bereits ein US-Visum in der Tasche hat und mit seiner Ehefrau Marta, einer „Sexbombe“, anreist; Chomskyi, ein Leningrader mit ungenauer sexueller Orientierung, womit er den ukrainischen Machos gleich doppelt als Außenseiter erscheint, sowie Hrytsch und Nemyrytsch. Hrytsch, dessen Eltern unter Stalin nach Kasachstan deportiert wurden, lässt sich die langen Haare zur Kosakenlocke scheren und erhält für seine „Marmorjeans“ die Uniform der Ukrainisch-Galizischen Armee. In Tschortopil fehlt ein gewisser Andruchowytsch, weil er, wissen die vier Dichter, jetzt Prosa schreibe. Selbstreferenzielle Scherze dieser Art sind häufig in „Karpatenkarneval“: Unter den Teilnehmern des Festes befinden sich neben Gottesengeln, Zigeunern, Kosaken und Bären auch Bubabisten. Es mangelt dem Roman nicht an greller Komik und bunten Masken. das Spektakel findet in Tschortopil statt – der Name des fingierten Städtchens bedeutet "Teufelsburg", und da hat auch ein bisschen Satanismus Platz in diesem chaotisch-kreativen Gemisch aus Mystizismus, Folklore und Kunst. Und der Roman, etliche Symbole, Szenarien und Traumata der Ukraine auferstehen lässt, ist nicht zuletzt auch ein überbordendes Sprachkunstwerk.

Moscoviada

In "Moscoviada" (1993) setzt Juri Andruchowytsch Moskau ein Denkmal seiner Hassliebe, denn von hier ging zwar der russische Imperialismus aus, doch hierhin führten auch alle Wege der kulturellen Intelligenzia. Hierhin kommt auch Otto von F., an das Literaturinstitut, womit er ganz Alter Ego des Autors ist. Die Ereignisse lassen den Helden die Höhen des russischen Studentenlebens im Wohnheim erleben und die Abgründe der Staatsgewalt: Der KGB zwingt den Helden, selbst Spitzel zu werden.

Der Roman spielt an einem regnerischen Tag im Frühjahr 1991, verarbeitet aber Erfahrungen aus den Jahren 1989 bis 1991, in denen der Autor als Literaturstudent in Moskaulebte. So kann man hier eine Reise rückwärts durch die Geschichte antreten, und doch wirkt dieses Buch erstaunlich frisch und aktuell, als hätte sich seither gar nicht so viel verändert. Er habe „all die imperialen Gespenster vertreiben” wollen, schreibt Juri Andruchowytsch im Nachwort. Doch vierzehn Jahre später muss er konstatieren, dass sie „sehr viel standfester, lebendiger, mithin gar keine Gespenster” waren. Otto von F. wohnt in einem Studentenwohnheim (mit seinem charakteristischen Geruch aus "Müllschlucker, Alkoholfahne und Sperma") und bricht von dort zu einer Odyssee durch die Stadt auf, die ihn zunächst in eine Bierhalle führt, zu einer Freundin, von der er im Streit und mit einer Prügelei scheidet, in einen Imbiss, der mittels einer Handgranate in die Luft fliegt, in die U-Bahn, in der es angeblich auch eine verborgene Linie gibt, die einst allein für Stalin angelegt wurde und die an verglasten Folterkellern vorbeiführt. Otto von F. landet schließlich nicht bei seinem Freund, der mit ihm an einer ukrainischen Literaturzeitschrift arbeiten möchte, auch nicht im Kaufhaus „Kinderwelt”, denn er hat längst vergessen, was er dort eigentlich wollte, sondern in der Unterwelt der Kanalisation, wo der Geheimdienst eine Armee von Riesenratten züchtet, die der Demokratiebewegung zu Leibe rücken sollen. Der Held gerät in ein Verhör.

Er berichtet von Anwerbungsversuchen durch den KGB, die er als Student durchleiden musste und richtet schließlich, getarnt mit einer Clownsmaske, ein Massaker in einer Konferenz der Toten an, wo die Gespenster der Vergangenheit – von Iwan dem Schrecklichen bis zu Lenin – über die Zukunft der Welt beraten. Doch es fließt kein Blut, es rieseln bloß die Sägespäne. Am Ende jagt sich der Held eine Kugel in den Kopf jagt, um ins Leben zurückzukehren und besteigt anschließend unbeschädigt den Nachtzug nach Kiew, um zurück in die Heimat zu fahren. Mit tiefsinnigem Witz variiert Andruchowytsch in diesem Russland-Panoptikum, in dem er Otto von F. eine eintägige Reise durch die russische Metropole unternehmen lässt, diverse Handlungsmodelle der Weltliteratur.

Perversion

„Perversion“ (1996), der dritte Roman von Juri Andruchowytsch, spielt im heutigen, modernen Venedig. Im Mittelpunkt steht Stanislaw Perfezki, ein Dichter, Künstler, Provokateur und Held der ukrainischen Untergrundbewegung. Er wird zu einem Symposium zum Thema „Postkarnevalistischer Irrsinn der Welt – was dräut am Horizont?“ nach Venedig als Referent eingeladen und beginnt somit seine Reise nach Europa. Allerdings hält ihn das Schicksal auf seinem Weg noch in Polen, Österreich und Deutschland fest (wo er überall etwas Neues erlebt), in Situationen, in denen er sein Wissen und seinen Charme einsetzen kann. Auf dem Weg lernt er eine Frau kennen, die als Übersetzerin und wahrscheinlich als Spitzel auf ihn angesetzt wurde. Die Liebe zu Ada zieht sich wie ein roter Faden durch den ganzen Roman, der auch in Venedig endet, in einem Hotel am Canal Grande. Nach der Vorlesung Perfezkis wurden nur zwei Schuhe auf dem Fensterbrett seines Zimmers gefunden, seine Leiche dagegen nicht. Am Ende weiß man als Leser nicht, ob Stanislaw gestorben ist.

"Perversion" ist kein Roman in chronologischer Reihenfolge, sondern eher als eine Aufzählung verschiedener Situationen gestaltet. Der Erzähler zeigt dem Leser Ausschnitte aus dem Leben von Stanislaw Perfezki auf seinem Weg nach Europa, und zwar in Form von tagebuchartigen Einträgen, Diktaten auf dem Diktaphon, Spitzelberichten, Einladungen, Programmheften, Interviews und anderen Fragmenten "unbekannter Herkunft". Neben der mysteriösen Geschichte ist die zweite starke Seite des Romans die Sprache. Es ist ein Meisterwerk, mit einer kongenialen Erzählstimme, die durch alle Tonlagen wandert: eine hinreißende Mischung aus übermütiger Hoffnung und Trauer, aus Fatalismus, überschäumender Begeisterung und trotziger Sehnsucht. Staunend und so liebenswert stur wie Don Quichote irrt er durch das labyrinthische und stinkende Venedig.

Zwölf Ringe

In seinem bekanntesten Roman „Zwölf Ringe“ (2003) ist die Ukraine (es sind die 90er Jahre) ein Staat in den Geburtswehen, vom postsozialistischen Chaos grell aufgeschminkt. Karl-Joseph Zumbrunnen, ein österreichischer Fotograf mit galizischen Wurzeln, ist fasziniert von den harten Kontrasten brutal geschmackloser Kommerzialisierung, rückwärtsgewandter Huzulen-Folklore, Resowjetisierung und Habsburg-Nostalgie. All das kommt ihm reizvoller vor als sein langweiliges Leben im Westen, vor allem, seit er sich in Roma Woronytsch verliebt hat, seine Dolmetscherin. Juri Andruchowytsch schöpft in diesem grotesken Roman aus dem vollen Geschichtenreservoir seiner Heimat und erzählt so mitreißend, dass man Karl-Joseph Zumbrunnen am liebsten nachreisen möchte.

„Zwölf Ringe“ ist eine postmoderne Karpatengroteske, ein postsozialistischer Heimatroman mit surrealer Note. Es ist absurd und komisch, bizarr und unglaublich, verworren und verwirrend, was hier geschieht. Juri Andruchowytsch zündet ein Feuerwerk von Ideen, Ansätzen, Schreibweisen und Perspektiven. Das Ergebnis ist ein in jedem Fall ungewöhnliches Leseerlebnis. Aufgetischt wird: Die von der Sowjetunion missbrauchte Huzulen-Folklore (der vom Autor selbst erstellte Anmerkungsapparat des Romans definiert die Huzulen als "Indianer Europas", zumindest aber als "die farbenprächtigste Volksgruppe in der Ukraine"), sämtliche Klischees vom von mafiösen Strukturen kontrollierten Osten, eine ganze Menge Schnaps, Nuss-Schnaps vor allem, der 1937 in Lemberg jung verstorbene Dichter Bohdan-Ihor Antonytsch, der als allgegenwärtiges Gespenst in Zitaten durch den Text irrlichtert, ihn grundiert und strukturiert und dessen (wiederum stark stilisierten) Leben „Zwölf Ringe“ ein eigenes Kapitel widmet, sämtliche moderne und archaische Mythen, von den Waldgeistern bis zu den Skispringern.

Auf den letzten dreißig Seiten hebt dieser Roman ab, denn Franz-Joseph Zumbrunnen erhebt sich in die Lüfte. Vor seiner postumen Rückkehr nach Wien geschieht allerdings noch eine ganze Menge: Während der Fotograf vergeblich um Roma kämpft und sich sogar ein Duell mit Artur liefert, erfährt Kolomeja nach und nach, worin die Bedeutung der zwölf Ringe besteht, die Antonytsch ebenso in einem Gedicht besungen hat wie das Wirthaus „Auf dem Mond“. Der Regisseur dreht sein Video, eine huzulische Blocksberg-Orgie, und fällt schließlich ebenso einem zufälligen Gewaltverbrechen zum Opfer wie Zumbrunnen, den ein groteskes Missverständnis das Leben kostet. Letztlich muss er sterben, weil er sich in der fremden Sprache nicht verständlich machen kann. Der Verdacht fällt auf Artur und seine Frau Roma, die von brutalen Milizionären verhaftet werden, die auf der Lohnliste des Tycoons Warzabytsch stehen. Es ist ein absurder Tanz, wie ein Albtraum, den dieser Roman mit immer wieder neuen und überraschenden Volten und Perspektivwechseln vollführt, anspielungsreich und auf eine Weise verschachtelt und gebrochen, die an manche postmodern Autoren der 80er Jahre erinnern.

Das letzte Territorium

Sein Essay-Band „Das letzte Territorium“ (2003) ist in Deutschland umfassend rezipiert worden – ein kleines Wunder in der üblicherweise auf dicke Romane versessenen Literaturlandschaft. Entzückt bestaunte man die exotischen Wesen in Kaninchenfellmützen und sackförmigen Trainingshosen, von denen in Andruchowytschs erzählenden Reflexionen die Rede war, ließ sich befremden und rühren vom eigentümlichen Gebaren in der so genannten Wodkazone. In einer Reihe von Essays bringt er den Lesern diese unbekannte Region nahe. Jeder, der einmal die westliche Staatsgrenze der Ukraine überquert hat, erfährt, dass hier auch zehn Jahre nach der Unabhängigkeit noch immer eine Trennlinie verläuft: "zwischen Europa und etwas anderem". Detailliert und voller Ironie beschreibt er die postsowjetische Realität seines Landes: Lemberg und Kiew, Spuren des untergegangenen Galiziens und die Katastrophe von Tschernobyl, den Exodus der Bevölkerung Richtung Westen und die repressive Medienpolitik der Regierung, aber auch die sonderbare Existenz von Künstlern, Schriftstellern und Intellektuellen in einem Land, "aus dem man weggeht".

Wenn man diese Texte heute liest, stockt einem der Atem. Hier kommen genau die Orte vor, die nun im Kriegsgebiet liegen. Andruchowytsch ist kein empörter ukrainischer Nationalist, aber er warnt vor einer weiteren Russifizierung des Landes, die nach der Unabhängigkeit 1991 noch zugenommen habe. Gleichberechtigt werde ukrainisch und russisch nur noch in der West-Ukraine gesprochen, während in der bevölkerungsreichen Ost-Ukraine, im Kohlerevier des Donbas und rund um Charkiv, die russische Sprache dominiere. Deshalb sollten sich nationalistisch gesinnte West-Ukrainer aber nicht von der Kiewer Machtzentrale lossagen, sondern man müsse vielmehr überlegen, „wie die Ukraine (…) den Donbas loswerden könnte. So viele Probleme wären mit einem Mal gelöst! Das kommunistische Wählerpotenzial würde sich um Millionen verringern, der extrem defizitäre Kohleabbau würde die ohnehin schwache Volkswirtschaft nicht noch weiter belasten, es gäbe weniger Arbeitslose, weniger Kriminelle, (…) weniger Russisch. Aber wie soll man nur dort alle überreden, sich abzuspalten?“ „Loswerden“ – das hieße, „an Russland loswerden.“ Das aber wäre politisch inkorrektes Wunschdenken.

Der bekennende Ukrainer Juri Andruchowytsch verklärt, wie nicht wenige intellektuelle Nachfahren anderer Völker aus dem untergegangenen Habsburger Imperium, nostalgisch die Herrschaft „des seligen Österreich, (...) dank der unendlichen sprachlichen und ethnischen Vielfalt dieser Welt das ukrainische Element überdauern konnte. Mag es auch gegen seinen Willen geschehen sein – ohne das alte Österreich gäbe es uns heute nicht (...). Kaum zu glauben, dass es Zeiten gab, da meine Stadt Teil eines staatlichen Organismus war, zu dem nicht Tambov und Taschkent, sondern Venedig und Wien gehörten! Die Toskana und die Lombardei befanden sich innerhalb derselben Grenzen wie Galizien.“ Er befürchtet eine neue Abschottung Galiziens, der Ukraine, denn es sei eine neue, sozusagen „real existierende Grenze“ entstanden. Und „diese verläuft an der westlichen Staatsgrenze der Ukraine, die millimetergenau den Verlauf der alten Grenze der UdSSR wiederholt und das Sein damit in Europa und etwas anderes teilt.“

Es geht ihm immer um Europa, um das Einholen einer vergessenen gemeinsamen Geschichte. Spätestens nach Andruchowytschs „Mittelöstlichem Memento“ allerdings, das 2004 in einem Band mit dem Titel „Mein Europa“ erschien, war sein literarisch-politisches Vorhaben nicht mehr zu verkennen: Osteuropa soll sich als Teil der gesamt-europäischen Geschichte und Gegenwart in Sinnen und Bewusstsein der Leser verankern. Klar war danach freilich auch: Das Europa, das dem welt- und reisefreudigen Westeuropäer von heute geläufig ist, ist das nicht.

Geheimnis

Mit „Geheimnis“ (2007) legte der gerade einmal 48 Jahre alte Andruchowytsch bereits Memoiren vor. „Sieben Tage mit Egon Alt“ heißt das Werk im Untertitel, weil sich der Autor, seiner Abneigung gegen Homestories und Porträts zum Trotz, so lange mit dem von ihm erfundenen deutschen Journalisten in Berlin unterhielt. Bevor Egon Alt (sein Alter Ego) plötzlich auf der Autobahn stirbt, schickt er dem Autor noch sieben CDs mit dem „ganzen Schrott“ zu. „Geheimnis“ ist nun das von Andruchowytsch bearbeitete, 370 Seiten lange Gespräch. Weitgehend chronologisch erzählt er darin aus seinem Leben. Am Anfang steht eine nicht unkomplizierte Familienreise nach Prag 1968, unmittelbar vor dem Aufstand, für Ukrainer ein Vorschein des Westens. Dann verzehrt sich der dickliche Juri lange nach dem ersten Sex. Als junger Mann zieht er von Iwano Frankiwsk in das magische Lemberg, um am Polygrafischen Institut zu studieren und unter abenteuerlichen Umständen im Wohnheim zu leben.

Der Drucker wird Ehemann und Vater und übersteht die katastrophalen Verhältnisse und den rituellen Sadismus in der Roten Armee mit Brom-Vergiftung und einer Hepatitis. In der Perestroika gründet der Dichter mit Gleichgesinnten die Gruppe BuBaBu, deren „lyrischer Karneval“ Hunderte von Zuhörern anzieht. Als er den Gegensatz zwischen nächtlich-dadaistischen Höhenflügen und geregelter Druckerarbeit an einer natürlich zensierten Tageszeitung nicht mehr aushält, geht er nach Moskau, um am Maxim Gorki Institut literarisches Schreiben zu studieren.

Andruchowytschs Schilderungen sind stets dicht und spannend. Der geliebte Vater, der Schriftsteller Mykola Rjabtschuk und viele andere werden überaus plastisch porträtiert. Das erzählerische Glanzstück bringt den Lesern den Autor und einen bewegenden Abschnitt Zeitgeschichte sehr nahe. Besonders die Sequenzen zur russischen Besatzung sind bemerkenswert. Die Zeit des Aufbruchs vor dem Zerfall der Sowjetunion schildert er mit genauso viel erzählerischem Impetus wie die Phase bis zur Orangenen Revolution. Anhand politischer Eckpfeiler wird man mit so viel Schwung durch die Jahrzehnte katapultiert, dass es einem die Sprache verschlägt.

Kleines Lexikon intimer Städte

Juri Andruchowytsch ist ein begeisterter und begeisternder Landvermesser, vor allem ein "poetischer", wie er in der FAZ einmal bezeichnet wurde. Und so sammelte er seine Erfahrungen mit diversen Städten in ein Lexikon, ein „Kleines Lexikon intimer Städte (2011), im Untertitel: Autonomes Lehrbuch der Geopoetik und Kosmopolitik. Ein Geopoet, der es versteht, Geografie in Poesie zu verwandeln, ist er jedenfalls. Die Idee, seine Stadterfahrungen in ein topografisches Lexikon zu fassen, hat er schon länger mit sich herumgetragen. Bei der Übersetzung ins Deutsche musste allerdings die Abfolge der Städte verändert werden, weil das ukrainische Alphabet eine andere Reihenfolge und mehr Buchstaben hat. Doch in der deutschen Übersetzung ist es ohnehin nur eine Auswahl aus den ursprünglich 111 Stadtporträts– 39 sind es in diesem Band, mit immerhin über 400 Seiten.

Das Abc dieser Städte ist so individuell wie lehrreich und unterhaltsam. Was Antwerpen, Czernowitz, Detroit, Graz, Moskau, Riga, Uschhorod oder Venedig gemeinsam haben, ist, dass eben Juri Andruchowytsch sie irgendwann in den vergangenen bald 50 Jahren besucht hat. Dabei erfährt man oft mehr über den Stadtbesucher als über die jeweilige Stadt selbst. Andruchowytsch ist kein Flaneur im klassischen Sinn, eher ein neugieriger Erkunder, ein Sammler von Erfahrungen. So kommt es auch zu interessanten Missverständnissen: In München hört er zum ersten Mal das Wort Fasching und denkt sich: Natürlich, München war ja die "Hauptstadt der Bewegung". Erst später erfährt er, "dass 'Fasching' und 'Faschismus' nicht dasselbe bedeuten". Ein anderes Missverständnis erlebt er in Graz, als er mit dem Flugzeug in Thalerhof landet und sich wundert, wie ein Flughafen so heißen kann: In der Ukraine ist "Thalerhof" als Konzentrationslager aus dem Ersten Weltkrieg bekannt, in dem 1914/15 mehr als dreitausend Menschen zu Tode kamen, ukrainische Zivilisten, die als "Russenfreunde" hierhin deportiert wurden.

An das Alphabet muss man sich dabei nicht halten, man kann in diesem kurzweiligen Buch ganz nach Belieben nachschlagen: Von Odessa an einem nasskalten Novembertag 1994 ist es nur ein Sprung nach Prag, das der Autor im Juli 1968 als den "fröhlichsten Ort auf Erden" erlebte. Andruchowytsch ist tatsächlich ein begeisterter und begeisternder poetischer Landvermesser.

Die Lieblinge der Justiz

Andruchowytschs bislang letzter Werk, „Die Lieblinge der Justiz“ (2017), ist ein aufwühlender und verstörender Roman in Episoden. Recht oder Gerechtigkeit erscheinen als absurd-komischer Reigen von historischen, menschlichen Kuriositäten. Er überschreibt das Werk als "parahistorischen Roman in achteinhalb Kapiteln". Acht davon beschreiben landläufig als böse Buben bezeichnete Zeitgenossen, das letzte halbe Kapitel ist ein autobiographischer Ausflug in die Kindheit des Autors. Den Auftakt bildet etwa "der wundersame Räubersmann Sanijlo" zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Für Andruchowytsch sind seine Antihelden Lebens- und Mordkünstler, die nach eigener Logik das Handwerk des Tötens und Quälens betreiben, also mit ungebändigter Fantasie ihr Unwesen treiben. Sanijlo etwa streift durch die Kneipen, schießt wild mit seiner Muskete um sich, zertrümmert Fenster und Spiegel, schlägt den allzu Frechen die Augen aus, pisst und spuckt ins Bier der Gäste, bricht ihnen die Rippen oder steckt einen korrupten Richter in eine Klo. Die frühere Rechtsprechung, so Andruchowytsch, reagierte gelassen, Gefängnisstrafen fielen erstaunlich gering aus und wurden meistens zur Bewährung ausgesetzt: "Die damaligen Juristen behandelten die erwähnten Verbrechen eher philosophisch als juristisch, mit einer großen Dosis Humor, Ironie und christlicher Barmherzigkeit gegenüber den Delinquenten."

Andruchowytsch entfaltet einen Karneval der Gewalt und der Verbrechen. Er ist der unbestechliche Buchhalter des Bösen – und da schlägt die Realgeschichte zu. Indem er diese grauenhaften Ereignisse in einen Reigen einreiht, stellen diese Verbrechen (bishin zu den nationalsozialistischen Verbrecherfiguren) in ihrer Brutalität all die mehr oder weniger erfundenen Schauergeschichten in den Schatten der Parahistorie. Wirklichkeit übertrumpft alle Erfindungen in dieser Geschichte der Gewalt. Will man einen roten Faden spinnen, so wäre der die Frage nach Opfer und Täter. Oder eher: Wer ist wirklich das Opfer, wer der Täter? Andruchowytsch spielt mit Witz und Aberwitz, mit Sarkasmus und Ironie seine Verbrecherszenarien durch. Und die Sprache funkelt wie in einem Kaleidoskop.

„Diese Gegend, diese Orte verfügen über ein noch lange nicht erschöpftes Potenzial an Erzählungen. Es ist an der Zeit, dass diese Geschichten in die Welt kommen“, sagte er in einem Interview. „Sie können die Welt erschüttern, wie es in den siebziger Jahren die lateinamerikanischen Romane getan haben.“ Nur wenigen Büchern gelingt es wie Andruchowytschs Roman „Zwölf Ringe“ (in der großartigen Übersetzung von Sabine Stöhr), diese vergessene Welt für alle Sinne zu öffnen. Das Entsetzliche wie das Hilflose, das Anrührende, das Wüste, aber auch das bizarr Komische nehmen eine fantastische Wirklichkeit an – „was eben nur ein flüchtiger Eindruck im Vorüberfahren war, hier bekommt es eine Geschichte, die Bilder rücken in einen Zusammenhang, und plötzlich meint man zu spüren, wie es sich anfühlt: das Fremde“.

„Es ist aufregend und berührend, wenn etwas, das bis jetzt für die Außenwelt in tiefem Schweigen lag, eine Sprache, eine Stimme bekommt.“ Juri Andruchowytsch legt diesen Satz dem ukrainischen Nationaldichter Taras Schewtschenko in den Mund, doch er passt ebenso gut auf ihn selbst. Er ist diese Stimme für die Ukraine.

Foto: (c) Ekko von Schwichow / Suhrkamp Verlag