Karl Ove Knausgård - Sein Kampf

Karl Ove Knausgård - Sein Kampf

Veröffentlicht am 26.05.2025

Ein kleines Porträt des norwegischen Bestsellerautors Karl Ove Knausgård. Von Christine Hoffer.

Karl Ove Knausgård gilt – neben dem Literaturnobelpreisträger Jon Fosse – als der wichtigste lebende norwegische Autor. Die Romane seines sechsbändigen autofiktionalen Romanzyklusses „Min Kamp“ („Mein Kampf“) wurden international zu sensationellen Bestsellern und in 35 Sprachen übersetzt. Knausgård arbeitet mittlerweile an einem weiteren großen, auf sieben Bände angelegten „Morgenstern“-Romanzyklus, von dem gerade „Die Schule der Nacht“, der vierte Teil, erschienen ist.

Karl Ove Knausgård hat mit seiner großen sechsteiligen „Min kamp“-Romanreihe für großes Aufsehen gesorgt und stark polarisiert. Für die einen hat er damit ein großes, faszinierendes literarisches Universum erschaffen, in dem sich naturgemäß alles nur um ihn dreht und das sogar mit Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ verglichen wurde. Die anderen waren von der grenzenlosen, obsessiven Egomanie, mit der hier ein Mann sein eigenes Leben in Literatur verwandelt vorlegt, doch eher gelangweilt oder sogar abgestoßen.

Der als Sohn einer Krankenschwester und eines Lehrers am 6. Dezember 1968 in Oslo geborene und mit einem älteren Bruder auf der Insel Tromøy und in Kristiansand aufgewachsene Karl Ove studierte Kunstgeschichte und Literatur an der Universität Bergen. Mit 19 Jahren konnte er an der Schreibakademie Hordaland eine einjährige Schriftstellerausbildung absolvieren, wo u.a. auch Jon Fosse sein Lehrer war. Anschließend hat er die Literaturzeitschrift „Vagant“ mitherausgegeben.

1998 ist sein erster Roman „Ute av verden“ („Aus der Welt“) erschienen, in dem die Hauptfigur Henrik Vankel als Aushilfslehrer in einem kleinen Ort in Nordnorwegen arbeitet (so wie zeitweise auch Knausgård selbst). Er fühlt sich wie aus der Welt gefallen, findet keinen Zugang zu seinen Mitmenschen, lebt einsam, hasst sich selbst und lebt dahin. Traum und Realität verschwimmen ihm, bis er sich eines Tages verliebt – in eine seiner Schülerinnen. Nach einer intimen Beziehung mit dieser 13-Jährigen Schülerin muss er fluchtartig das Dorf verlassen, kommt zurück an seinen Heimatort Kristiansand, wo sich für ihn erst recht seine gegenwärtige Hoffnungslosigkeit und intensive Erinnerungen aus seiner Kindheit und Jugend überblenden.

2004 folgte sein zweiter Roman „En tid for alt“ („Alles hat seine Zeit“), der auf wichtige Texte der Bibel zurückgeht und nicht weniger als „die Geschichte der Engel auf Erden“ zu erzählen versucht. Es geht, die Beziehung zwischen Wissenschaft und Religion untersuchen wollend, um die großen Fragen: Ist das im Alten Testament Geschilderte tatsächlich geschehen? Wie soll denn das Göttliche aussehen? Und hat es die Engel gegeben? Die alttestamentarischen Erzählungen über Kain und Abel, Noah und die Sintflut, Sodom und Gomorrha führen schließlich nach einem historischen Intermezzo auf eine norwegische Insel und ihren einfachen Menschen (auch der aus dem ersten Roman bekannte Henrik Vankel taucht wieder auf). Hier laufen alle Fäden letztlich zusammen.

Sein Kampf

Im Jahr 2009 ließ Knausgård gleich auf einmal die drei ersten Bände seines auf sechs Bücher angelegten Romanzyklus‘ „Min Kamp“ („Mein Kampf“, auf Deutsch wurde der Zyklustitel weggelassen) veröffentlichen. Mit den umfangreichen autobiografischen Büchern trifft er den Nerv der Zeit: „Er nährt den Hunger nach künstlich vermittelter Realität und den Megatrend des radikalen Individualismus“ (so Steffen Damm im „Tagesspiegel“, 22.5.2017). Auf über 4000 Seiten schildert Knausgård seinen persönlichen und privaten Kampf mit den ihm nächststehenden Menschen, seinen Eltern, seiner Frau, seinen drei Kindern, seinen Freunden und Bekannten, räsoniert ausführlich etwa zu Literatur, Kunst, zu aktueller Politik und Geschichte, Gott und die Welt. Vor allem aber soll hier ein Kampf, sein Kampf mit sich selbst umfassend dargestellt werden.

Im ersten Band, „Sterben“, wird ausführlich aus seiner Kindheit und Jugend in den 70er und 80er Jahren erzählt. Ausgehend vom distanzierten, undurchschaubaren strengen Vater, den er stets gefürchtet hat, der sich von der Familie getrennt und in das Haus seiner Mutter gezogen ist, wo er sich zu Tode gesoffen hat. Nachdem Karl Ove und sein Bruder die Todesnachricht überbracht wurde, sind sie hingefahren und finden die Großmutter inmitten von Flaschen und Dreck vor. Sie versichern sich im Beerdigungsinstitut, dass der Vater wirklich tot ist. Beim Aufräumen im Haus kommen viele Erinnerungen hoch und langsam entsteht das Porträt eines Mannes, der die Familie dominierte und den beide Söhne hassten. In der minuziös geschilderten tagelangen Trauerarbeit findet er schließlich zu einer Distanz zwischen sich und dem Toten: „Nun sah ich das Leblose. Dass es keinen Unterschied mehr zwischen dem gab, was einmal mein Vater gewesen war, und dem Tisch, auf dem er lag, oder dem Fußboden, auf dem der Tisch stand …“

Knausgård scheint seinen Kampf, der doch eigentlich so formlos und authentisch erscheinen möchte, nach großen existenziellen Themen geordnet zu haben. Der zweite Band heißt nämlich „Lieben“, und handelt vor allem von der Beziehung zu seiner schwedischen (zweiten) Frau Linda. Es liegt naturgemäß am Thema, dass dieser Band um einiges humorvoller ist als der erste, auch selbstironischer. Obwohl er damals noch mit seiner ersten Frau Tonje in Bergen verheiratet war, war es ihm offenbar bei Linda zum ersten Mal passiert, dass er wirklich lieben konnte. Er schreibt ein Tagebuch mit all den alltäglichen Geschehnissen mit Frau und Kindern. Die Liebe zu Linda verändert seine Sicht auf die Welt genauso wie im ersten Band der Tod des Vaters: Alles, so ist er überzeugt, ist auf einmal „von Sinn durchdrungen“.

„Spielen“, Band drei, beginnt auch mit einer traditionellen Familie: Vater, Mutter und zwei Buben, die nach Südnorwegen in ein Haus in einer neuen Siedlung ziehen Es sind die frühen 70er Jahre, die Kinder klein und die Eltern jung. Knausgård schildert die Kindheit als eine Zeit, in der Leben aus Entdeckungen, Ängsten und Wundern besteht, beschreibt zum Beispiel intensiv das Warten auf die plötzlichen und unvorhersehbaren verbal oder körperlichen Übergriffe des Vaters. Im Band vier, „Leben“, porträtiert er seinen Protagonisten, sein Alter Ego, in einer Zeit der Veränderungen. Nach seinem Abitur haben sich seine Eltern getrennt. Die Begegnungen mit dem Vater werden immer schwieriger, so greift auch junge Karl Ove immer öfter zum Alkohol, von dem er sich eine Befreiung von seinen Komplexen, Nöten und Unsicherheiten erhofft. Unschlüssig, was er mit seinem Leben anfangen soll, geht er für ein Jahr als Aushilfslehrer an eine Schule in einem Dorf in Nordnorwegen und wird dort mit Schülern konfrontiert, die ihn als Autorität nicht ernstnehmen. Doch er ist überwältigt von der grandiosen Landschaft und Natur, erledigt mit möglichst wenig Aufwand seinen Dienst und widmet sich vorwiegend seinen ersten Schreibversuchen.

In „Träumen“, dem fünften Band der Serie, geht es um die 14 Jahre, die er in der Hafenstadt Bergen verbracht hat: zuerst als junges Genie an einer neuen Akademie für Schreibkunst, wo er scheitert, später dann als Literaturstudent, der sich beinahe damit abgefunden hat, stets ein Autor in der zweiten Reihe zu sein. Schließlich flieht er nach Stockholm, als ginge er ins Exil. Es sind die Jahre, in denen er versuchte, als Schriftsteller Fuß zu fassen, in denen seine erste Ehe scheiterte und sich Demütigungen und Höhenräusche ebenso abwechselten wie seine selbstzerstörerischen Alkoholexzesse und die ersten kleinen literarischen Erfolge.

Im sechsten und umfangreichsten Band „Kämpfen“ findet sich dann alles mehr oder weniger belichtet, das in den ersten fünf Bände ausgebreitet worden ist. Nach dem sensationellen Erfolg der Vorgängerbände lässt er nunmehr die wesentlichen Handlungsfäden der vorangegangenen Bände und die darauffolgenden Skandale auf Grund der Preisgabe von vermeintlich intimen Details Revue passieren. In dem Zeitraum, der in diesem Band geschildert wird, vollzieht sich sein Durchbruch als Schriftsteller, fast über Nacht ist er zur umstrittenen Berühmtheit geworden, hat Scherereien mit Menschen, die ihr oftmals eher nicht schmeichelhaftes Porträt, versehen mit ihrem richtigen Namen lesen mussten. Darüber schreibt er hier sowie über den geringen Ärger bei Familienmitgliedern, den er mit seinen Büchern verursachte.

Er räsoniert auch über das Ende dieses grandiosen Projekts der Selbsterforschung und Selbstenthüllung. Zum Abschluss bietet er eine Art „Spiegelung der Selbstbespiegelung, eine skrupulöse Rückschau, und das Fazit ist ernüchternd“ (so Ulrich Greiner, Die Zeit, 23. Mai 2017). Knausgård resümiert zerknirscht: „Will man in die Wirklichkeit eindringen, wie sie für den Einzelnen ist – und irgendeine andere Wirklichkeit gibt es nicht –, will man es wirklich, dann kann man keine Rücksicht nehmen. Und das tut weh. Es schmerzt, wenn keine Rücksicht genommen wird, und es schmerzt, keine Rücksicht zu nehmen. Dieser Roman hat allen in meiner Umgebung wehgetan, und er hat mir wehgetan, und in einigen Jahren, wenn sie groß genug sind, um ihn zu lesen, wird er meinen Kindern wehtun. Hätte ich ihn noch schmerzhafter werden lassen, wäre er noch wahrer geworden. Es war ein Experiment, und es ist missglückt, denn ich habe niemals auch nur annähernd gesagt, was ich eigentlich meine, und beschrieben, was ich eigentlich gesehen habe.“

Doch er schafft es, seine Leser:innen buchstäblich in seine Romane mithineinzuziehen, denn, so Steffen Damm („Tagesspiegel“, 22.5.2017): „Knausgård verlangt uns eine aktive Mitwirkung ab, die auch jenseits der Literatur Voraussetzung ernstzunehmender Bindungen ist. Denn das Gesamtszenario des Romans, zu dem sich seine prägenden Motive wie die Auseinandersetzung mit dem übermächtigen Vater oder die Sehnsucht nach dem eigentlichen Leben nach und nach verdichten, speist sich auch aus den Erinnerungen des Lesers an zurückliegende Textpassagen. Wir selbst fügen die Bausteine dieses postheroischen Bildungs- und Entwicklungsromans zu einer Kausalkette zusammen und gelangen so zu einem sehr viel nachhaltigeren Eindruck als bei der Adaption eines stringenten, überschaubaren Handlungsgefüges. (…) Was Karl Ove Knausgård den Lesern seines sechsbändigen Romanzyklus ‚Min Kamp‘ (Mein Kampf) zumutet, ist aber genau dies: eine Selbstüberwindung, die in wachsendem Maße ein von der Erzählung abgelöstes Eigenleben annimmt. Folgerichtig lautet denn auch die erste Frage, die aufkommt, wenn sich Knausgård-Leser begegnen, nicht ‚Wie findest Du’s?‘, sondern ‚Wie weit bist du?‘. Der Aufwand, den die buchstäbliche Bezwingung dieses epischen Monolithen erfordert, rangiert mindestens gleichberechtigt neben dem Ertrag: der Erschließung einer ‚Selbstgeografie‘, die großflächig in den Erinnerungsschüben des Icherzählers vermessen wird. Dem Leser wird schon durch die Lektüredauer die Erfahrung eines Aufenthalts im raumzeitlichen Koordinatensystem des Textes ermöglicht.“

Bereits die ersten Bände des Romanzyklus‘ sorgen in Norwegen für großes Aufsehen und führen zu heftigen Diskussionen. Sie avancieren zu Bestsellern und Knausgård bekommt dafür die wichtigsten norwegischen Literaturpreise. In Skandinavien steht er mittlerweile in einer Reihe mit literarischen Größen wie Henrik Ibsen und Knut Hamsun.

Die Jahreszeiten

Trotzdem er am Ende der Romanserie, in Kämpfen“, schrieb, er werde „den Gedanken genießen, wirklich genießen, dass ich kein Schriftsteller mehr bin“, erschien vier Jahre später (2015) der erste Band einer Serie zu den Jahreszeiten, die mit dem „Herbst“ begann.

Die Aufteilung auf gleich vier Bücher, so logisch sie erscheint, sei „typisch für seinen Hang zum Ausladenden, zu Ordnungsprinzipien“, so Gerrit Bartels (Tagesspiegel, 20.11.2017). Die Bände bestehen aus kurzen, meist nicht mehr als drei, vier Seiten langen Betrachtungen über diverse Dinge aus dem menschlichen Alltag und über Phänomene in der Natur. Ausgangspunkt sind jeweils die Briefe, die Knausgård an seine ungeborene Tochter schreibt, das vierte Kind, das er mit seiner Frau Linda bekommen wird. So will er ihr die Welt zeigen, in die sie kommen wird, unscheinbare Dinge genauso wie Sonne und Mond, Wasser und Feuer etc. Und da er weiß, dass die Tochter die Welt ja irgendwann mit eigenen Augen sehen wird, konstatiert er: „All das Fantastische, dem du bald begegnen wirst, das du bald sehen darfst, verliert man so leicht aus den Augen, und es gibt fast so viele Arten, dies zu tun, wie es Menschen gibt. Deshalb schreibe ich dieses Buch für dich. Ich will dir die Welt zeigen, wie sie ist und wie sie uns umgibt, die ganze Zeit. Nur indem ich das tue, kann ich selbst sie sehen. Was macht das Leben lebenswert?“ Und er gesteht, „dass ich dies natürlich vor allem mir selbst zuliebe tue: Dir die Welt zu zeigen, meine Kleine, macht mein Leben lebenswert.“

Der Morgenstern

In einem Gespräch mit 3sat bei der Leipziger Buchmesse meinte Knausgård, nun jedes Jahr einen Roman schreiben zu wollen. So schreibt er seit fünf Jahren an seinem sogenannten „Morgenstern“-Zyklus. Darin wird von einer Welt erzählt, in der sowohl die Natur als auch die Menschen auf rätselhafte Weise aus dem Gleichgewicht geraten sind. Am Himmel taucht ein unbekannter Stern auf. Eine Verheißung? Eine Bedrohung? Der Impuls für die Morgenstern-Bücher, so der Verlagstext, sei für Knausgård die Erkenntnis gewesen, „dass der Mensch die Natur nur noch in technisch vermittelten Bildern wahrnehme und darum ihre Zerstörung als weniger gravierend empfinde. Ein Phänomen, das alle Bereiche des Lebens umfasse.“

Im ersten Buch „Der Morgenstern“ (2020) erzählen also einige Menschen während mehrerer Hochsommertage in ihren eigenen Worten aus ihrem Leben. Der Literaturprofessor Arne beispielsweise, der sich selbst in Frage stellt und mit seinem Nachbarn Egil über Gott streitet. Oder die Pastorin Kathrine, die sich in ihrer Ehe plötzlich wie im Gefängnis empfindet sowie der Journalist Jostein, der den rätselhaften Morden an Mitgliedern einer Death Metal Band nachgeht. Sie alle sind verwirrt durch das Auftauchen eines neuen Sterns am Himmel, ein Phänomen, das auch die Astronomen nicht erklären können. Ist es ein Stern, der ausbrennt? Warum hat es noch niemand gesehen oder ist es ein neuer Stern? Das Interesse an den Nachrichten lässt langsam nach, doch im Leben der Menschen treten immer mehr ungewöhnliche Phänomene auf und man fragt sich: „Ist er der Vorbote von etwas Bösem oder im Gegenteil die Verheißung von etwas Gutem?“

Das zweite Buch, „Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit“ (2021), beginnt 1986, als in Tschernobyl in der Sowjetunion ein Atomreaktor explodiert. Der 20-jährige Syvert Løyning kehrt nach seinem Militärdienst nach Hause zu seiner Mutter und seinem Bruder in Südnorwegen zurück. Dort hat er intensive Träume von seinem toten Vater, so als ob der Vater etwas von ihm will. Er geht den Spuren seines Vaters nach, will herausfinden, was von ihm noch übriggeblieben ist. Die Recherchen führen ihn in die Sowjetunion. Der zweite Teil spielt im Russland unserer Zeit. Die Biologin Alevtina fährt mit ihrem Sohn nach Samara, um mit ihrem Vater seinen 80. Geburtstag zu feiern. Sie trifft ihre Freundin Vasilisa wieder, eine russische Dichterin, die ein Buch über den Glauben an das ewige Leben schreibt. Syvert und Alevtina waren beide früh mit dem Tod konfrontiert. Daraus entwickelt das zentrale Thema des Buches, stellt Richard Kämmerlings (Die Welt, 23.02.2023) fest: „Die Haltung eines jeden Menschen gegenüber dem unvermeidlichen Ende seiner Existenz und dem Wunsch nach der Überwindung des Todes. Am Ende lässt der Autor sogar Tote auferstehen und das mit ganz aktuellem politischen Bezug im Moskau kurz vor Beginn des Krieges. Beeindruckend ist, wie mühelos der Autor vom Detail in die metaphysische Reflexion gleitet und hier auch fantastische Elemente einbaut.“

Der „Das dritte Königreich“ betitelte dritte Band spielt in der Gegenwart in Norwegen. Der 60-jährige Neurologe Jarle Skinlo hält sich selbst für „eine langweilige Person, die sich niemals langweilt“. Syvert Løyning (wir kennen ihn vom vorigen Band) ist nun Bestatter, glücklich verheiratet und hat kürzlich erfahren, dass er in der Ukraine eine Halbschwester hat. Die Künstlerin Tove macht mit ihrem Mann und den drei Kindern gerade Urlaub an der Küste. Und der Lehrer Gaute ist davon überzeugt, dass ihn seine Frau betrügt. Doch verändert sich bei ihnen ihr bislang durchschnittliches Leben radikal: Jarle Skinlo muss einen Mann neurologisch untersuchen, der allem medizinischen Anschein nach tot war, aber nun wieder zum Leben erwacht ist. Syvert und seine Kollegen vom Bestattungsinstitut müssen feststellen, dass seit einiger Zeit keine Todesfälle mehr gemeldet wurden, sowohl in ihrer Gemeinde als auch im restlichen Norwegen nicht. Tove kämpft gegen eine unheimliche Stimme an. Und Gaute trifft zufällig auf einen merkwürdigen Mann, der ihm en passant versichert, dass er dessen geheimste Gedanken kennt. Es ist beeindruckend wie Knausgård in diesem Buch, das stark dem Horrorgenre verpflichtet ist, stetig steigernd den Lesern komplementäre Puzzleteile reicht, die sich dann langsam zu einem faszinierenden Ganzen fügen.

Der bislang letzte, der vierte Band, „Die Schule der Nacht“, ist laut Knausgård (im TV-Gespräch auf der Leipziger Buchmesse) „ein finsteres und unangenehmes Buch“. Es erzählt von Kristian Hadeland, einem jungen Mann, der von Norwegen nach London zieht und dort zu einem international renommierten Fotokünstler wird. Kristian ist ein absoluter Egomane, der der Kunst alles opfert und rücksichtlos in seiner Familie ebenso wie gegenüber seinen Kolleg:innen agiert. Das Buch ist auch eine Hommage an den Faust-Mythos, wobei Knausgård sich mehr für den in jungen Jahren unter unaufgeklärten Umständen ermordeten Christopher Marlowe und sein Drama über „Die tragische Historie vom Doktor Faustus“ interessiert und weniger für Goethe. Kristian wird zwar ein weltbekannter Fotograf, doch der Absturz ist immer nur einen Schritt entfernt. Und dass sich alles schnell verwandeln kann, wird er letztlich schmerzlich am eigenen Leib erfahren.

Das Buch ist „ein permanenter Gedankenstrom über die Mühen des Alltags und die Sehnsucht nach Genialität, ein langatmiges Gejammer über sein schweres Schicksal, das ihn schließlich ereilt und aus dem hellen Schein der Kunstwelt auf eine felsige Insel hat flüchten lassen: Das zerrt an den Nerven und strapaziert die Geduld. Hunderte Seiten müssen wir ausharren, bis Kristian, der auf Vergebung und Erlösung hofft, endlich begreift, was wir alle doch längst wissen: Der Teufel, das sind wir selbst. ‚Die Hölle ist hier‘, muss Mephisto nach dem finalen Höllensturz Kristian belehren, der auch noch im Unglück unausstehlich und unsympathisch bleibt: ein notorischer Lügner, widerlicher Frauenverächter, weinerlicher Narzisst“, so Volker Weidermann (Die Zeit, 2.4.2025).

Karl Ove Knausgård hat mit diesem Buch wieder einmal einen eindrucksvollen philosophischen Roman über das Gute und das Böse, die Kunst und das Leben geschaffen, der neugierig macht auf die restlichen drei Bände des „Morgenstern“-Zyklus, die in den nächsten Jahren folgen sollen.

Foto: © Sølve Sundsbø