Kögl, Gabriele - Brief vom Vater

Kögl, Gabriele - Brief vom Vater

Veröffentlicht am 01.03.2024

Ein Roman als genaue Nachzeichnung eines individuellen Parforce-Ritts.

Rosa entstammt einer Arbeiter:innenfamilie aus der Südsteiermark. Der Vater (Werkzeugmacher), die Mutter (halbtags beim Konsum) erwirtschaften keine Reichtümer, aber ein Haus, das später der Stadtumfahrung weichen muss, was der Vater nicht überlebt. Auf einem Feuerwehrfest lernt sie, die als Friseurin arbeitet, den Tischler Sigi kennen, mit dem als Schützenkönig man sie auf Fotos im Bezirksblatt immer wieder bestaunen kann.

Als Sohn Severin auf die Welt kommt, richtet Sigi als „geschickter Handwerker“ lieber am Haus etwas her, als sich um sein Kind zu kümmern. Damit Rosa wieder arbeiten gehen kann, passt die Schwiegermutter auf. Sigi nimmt kaum Anteil und hat außer der Schießerei wenig Interessen. Meistens sitzt er mit einer Flasche Bier und einem Packerl Zigaretten vor einer Sportsendung im Fernsehen, während Rosa es liebt, „auszugehen, Menschen zu treffen, an den Wochenenden wegzufahren und sich Sehenswürdigkeiten anzuschauen“. Aufgrund ihrer schlanken Figur und langen dunkelblonden Haare wird sie immer noch als attraktive Frau wahrgenommen. Prompt verliebt sich der geschiedene und etwas „stämmige“ Drogeriebesitzer Klaus in sie.

Hätte Rosa gewusst, dass sie bei ihm Chancen hat, hätte sich nicht nur er die Ehe mit einer Zahnarztassistentin erspart, sondern auch sie sich die Heirat mit Sigi, über den sie gedacht hat, dass er als Schützenkönig vom Bezirk schon etwas „Besonderes“ ist. Umso mehr genießt sie es, durch Klaus „gesellschaftlich aufgerückt“ zu sein, während Sigi darunter leidet, dass seine ganzen Pokale es nicht geschafft haben, Rosa auf Dauer zu beeindrucken und sie jetzt einen Mann hat, der ihr mehr bieten kann. Trotz finanzieller Sorglosigkeit ist es allerdings auch mit Klaus nicht immer einfach, der in seiner Eifersucht Rosa solange bedrängt, bis sie zusagt, in der Drogerie mitzuarbeiten. Severin ist zwischen der Liebe zu seinem Vater und der Freude am Luxus, den Klaus ihm bietet, hin- und hergerissen, macht aber dann doch eine Lehre als Tischler wie Sigi, wird jedoch nicht recht glücklich dabei. Nach einer Knieoperation mit langwieriger Rehabilitation macht er beim Bundesheer die Ausbildung zum Kraftfahrer und beginnt mit dem Fernfahren.

Mit der Stadtumfahrung ist ein Einkaufszentrum entstanden. Durch die Konkurrenz des Drogeriemarkts erleidet Klaus starke Umsatzeinbußen. Und als Bank und Optiker wegziehen, heißt es auch noch Mieteinnahmen zu kompensieren. Der Verkauf der Eigentumswohnung seiner Mutter, die überraschend stirbt, schafft wieder finanziellen Spielraum. Klaus richtet in den leerstehenden Geschäftsräumen im Haus eine Galerie ein, die zwar als „wunderbarer Auftakt für die Wiederbelebung der Stadt“ gesehen wird, allerdings zu wenig abwirft, um die Schulden bei der Bank zu bedienen. So ist der Konkurs unabwendbar.

Wenigstens hat Rosa noch das alte Haus und kann sofort wieder als Friseurin anfangen. Der Umzug ist „grausam“, vom Glanz der Stadtwohnung nichts mehr zu sehen. Und dann beginnt Klaus auch noch unter Erbrechen, Völlegefühl und Magenverstimmung zu leiden. Die Diagnose heißt Bauchspeicheldrüsenkrebs. Operation und Chemotherapie helfen nicht. Klaus stirbt, ohne für Rosa eine Botschaft zu haben, die sie hätte „trösten“ können.

Dafür hinterlässt Sigi, der mit junger Frau und kleinem Sohn in der Nähe von Innsbruck lebt, einen „Abschiedsbrief“, in dem er seinen Selbstmord damit begründet, dass Elvira und ihr Geliebter es abgelehnt haben, die Liebesbeziehung zu beenden. In diesem Brief, den er von seiner Mutter erhält, findet Severin kein einziges Wort über oder an sich, was ihm seine „Offenheit und Lebensfreude“ mit einem Schlag wieder raubt, die er nach dem Tod von Klaus, für den er nur ein „geduldetes Anhängsel“ gewesen ist (im Wissen, seine Mutter jetzt ganz für sich alleine zu haben), entwickelt hat. Er bricht auch die Beziehung zur sympathischen, unkomplizierten Tina, mit der er „so glücklich wie noch nie“ gewesen ist, einfach ab und zieht sich immer mehr zurück. Denn er empfindet die Nichterwähnung im „Brief vom Vater“ als „Schmach“ und verfällt in Schweigen, bis ihn dieses Schweigen erdrückt.

Von ländlicher Idylle ist in diesem um Krankheit und Tod, gesellschaftlichen Aufstieg und Fall, aber auch um städtische Devastierung und ihre Folgen kreisenden Roman nicht viel zu spüren. Schon der Einstieg in die Handlung ist dramatisch, wie überhaupt diese schnörkellos und detailliert erzählte Geschichte sehr abwechslungsreich und spannend verläuft und seiner Heldin Einiges abverlangt. Denn das Schicksal schlägt ganz schön wild zu. Glücklicherweise verfügt Rosa über eine stark ausgeprägte Resilienz. Man merkt ihr, deren Gesicht von den vielen Achteln und Mischungen aufgeschwemmt ist, die Anstrengungen und Sorgen der letzten Jahre zwar an, aber selbst der härteste Schlag haut sie nicht um, von der Reserviertheit, mit der man ihr begegnet, um zu verdeutlichen, dass sie in den Kreisen, in die sie durch einen Mann und sein Ansehen kurz aufgestiegen ist, als nur noch „Angestellte beim Friseur“ nichts mehr verloren hat, erst gar nicht zu reden.

Neben der genauen Nachzeichnung dieses individuellen Parforce-Ritts geht Gabriele Kögl auch auf bauliche Eingriffe in die Infrastruktur ein: So wird das Geschäftssterben in der Innenstadt in Kauf genommen, weil das Einkaufszentrum so gut läuft, dass „die Stadtgemeinde wesentlich mehr Steuereinnahmen lukrieren“ kann als vorher. Kritisch beleuchtet sie aber auch bürgerliche Geschäftspraktiken (das An-der-Steuer-vorbei-Schmuggeln oder das Leute-im-Winter-Abmelden-und-Stempeln-Schicken, um sich die Abfertigung zu ersparen), die ärztliche Schweigepflicht, die in einer Kleinstadt nur auf dem Papier zu existieren scheint, oder die bäuerliche Sturheit, die gerade Männer lieber auf alles verzichten lässt, als dass sie „von ihrem Stolz auch nur ein Gramm herzugeben“ bereit wären.

Bei all diesen Themen kommt Beklemmung auf. Denn Gabriele Kögl erzählt mit einer Dynamik und Präzision, ja einer Schonungslosigkeit, die einem den Atem raubt.
Andreas Tiefenbacher

Kögl, Gabriele - Brief vom Vater
Roman. Wien: Elster & Salis 2023. 208 S. - fest geb. : € 25,50 (DR) ISBN 978-3-03930-051-8

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