Krechel, Ursula - Sehr geehrte Frau Ministerin

Krechel, Ursula - Sehr geehrte Frau Ministerin

Veröffentlicht am 06.05.2025

Roman um Gewalt, Unterdrückung, Missbrauch und Verdrängung.

„Wir ermitteln in alle Richtungen“, erklärt der Polizeipräsident, nachdem in Essen ein Messerattentat auf die Justizministerin verübt wurde. Der Täter wird schnell gefasst, es handelt sich um den Studienabbrecher Philipp Patarak, der noch bei seiner Mutter Eva lebt, sich aber weigert, mit ihr zu sprechen, und seine Zeit vor dem Computer in seinem Zimmer verbringt, unterbrochen von kurzen Trips zum Kühlschrank in der Küche.

Aber im Mittelpunkt des vielschichtigen Romans steht nicht der junge Mann und man erfährt kaum etwas über seine Motive. Vielmehr sind es Frauen, denen das Interesse der Autorin gilt. Zunächst stellt sie uns Agrippina vor, die ehrgeizige Mutter von Kaiser Nero, die der Sohn töten ließ, als sie ihm zu mächtig erschien. Silke Aschauer, eine Altphilologin, beschäftigt sich in ihrem Leistungskurs mit Tacitus und erarbeitet mit ihren Schülerinnen und Schülern die römische Geschichte. Es ist eine Geschichte von Intrigen, Blut und Gewalt. Außerdem entpuppt sich Silke auch als Schriftstellerin, die über Mütter und Söhne schreiben will und sich für Eva Patarak zu interessieren beginnt. Als „Frau mit roter Mütze“ taucht sie immer wieder im Kräuterladen auf, in dem Eva arbeitet, sodass diese sich beobachtet und sogar verfolgt fühlt. Sie lehnt es kategorisch ab, in Silkes Buch eine Rolle zu spielen, und beschwert sich in einem Brief an die Justizministerin, dass ihre Persönlichkeitsrechte dadurch verletzt werden.

Verletzt ist aber auch Silke selbst. Sie leidet an starken Blutungen, sucht bei Ärztinnen und Ärzten Hilfe und fürchtet sich vor jeder Menstruation. Schließlich muss sie sich einer Hysterektomie unterzeihen und mit dem Gefühl, dass ihrem Körper nun sein „weibliches Zentralorgan“ fehlt, zurechtkommen. Auch sie verfasst einen Brief an die Justizministerin und fragt an, ob sie diese als Figur in ihrem Roman aufnehmen kann. Die namenlose Justizministerin befindet sich im Wahlkampf, arbeitet fast ununterbrochen, ist oft müde und überlastet und sieht ihren Mann und ihre beiden kleinen Kinder nur selten. An den wenigen Abenden, an denen sie an ihrem Bett sitzt, fragt sie „Was war heute schön?“, ihr selbst würde dazu oft keine Antwort einfallen.

Mit überraschender formaler Raffinesse verwebt Ursula Krechel die vielen Handlungsstränge zu einem faszinierenden Ganzen. Worauf immer sie ihren Blick wirft, sieht sie Gewalt, Unterdrückung, Missbrauch und Verdrängung. Die Themen sind uns bekannt, aber ihre literarische Darstellungsform ist kunstvoll und möglicherweise herausfordernder als der Konsum der täglichen Fernsehberichterstattung. Ursula Krechel ist eine umfassend gebildete Autorin, die mühelos zwischen Antike und Gegenwart wechselt, kunstgeschichtliche Exkurse ebenso einstreut wie politische Analysen und über ein sprachliches Repertoire verfügt, das poetisch, aber auch dramatisch und nüchtern sein kann. Bibliotheken sollten sich diesen großartigen Roman nicht entgehen lassen.
Ida Dehmer

Krechel, Ursula - Sehr geehrte Frau Ministerin
Roman. Stuttgart: Klett-Cotta 2025. 368 S. - fest geb. : € 27,50 (DR) ISBN 978-3-608-96653-4

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