Leïla Slimani - Der Duft des Landes der Anderen

Veröffentlicht am 10.02.2025
Brigitte Winter über das Leben und das Werk von Leïla Slimani.
Leïla Slimani bezieht sich nicht nur in ihren Büchern auf die gesellschaftliche und politische Lage, besonders auf die Situation von Frauen. Ihr feministischer Blick auf Mutterschaft, Sexualität und Migration machte sie zu einer der bedeutendsten französischsprachigen Autorinnen unserer Zeit. Seit Beginn ihres Schreibens zeigt sie soziale Missstände auf und engagiert sich besonders für Frauenrechte und Meinungsfreiheit in der arabischen Welt. 2017 ernannte sie der französische Präsident Emmanuel Macron denn auch zur „Repräsentantin der Frankophonie“ für die Förderung der französischen Sprache und Kultur.
2016 gewann Leïla Slimani mit ihrem Roman „Chanson douce“ („Dann schlaf auch du“) den Prix Goncourt und der Jurypräsident sagte, dass der Preis normalerweise die Vergangenheit ehre, diesmal aber ein Buch über die Gegenwart auszeichne. Es war eine Wahl, die nicht nur literarisch, sondern auch politisch geschickt war: „Nicht nur weil die Akademie damit den Vorwurf zurückweisen konnte, sie zeichne vornehmlich weiße Männer aus (…). Sondern auch weil das Einwanderungsland Frankreich zwar einerseits viele arabischstämmige Politiker, Künstler und Geschäftsleute vorweisen kann, andererseits aber auch mit rassistischer Gewalt und Terrorangst zu kämpfen hat. Es war wie eine Botschaft nach innen und außen: Den Franzosen sagte sie, dass die arabische Welt auch ein emanzipiertes und weibliches Gesicht hat. Den Marokkanern zeigte sie, dass die frühere Kolonialmacht Frankreich inzwischen begriffen hat, dass große französischsprachige Literatur auch in anderen Teilen der frankophonen Welt ihre Wurzeln hat. In einer Zeit, in der viele westliche Gesellschaften auf viele muslimische Einwanderer treffen, scheint Slimani die ideale Übersetzerin zu sein: eine Feministin für die Ära der Globalisierung“ (Khuê Phạm, Zeit-Magazin, 22.8.2018).
Leïla Slimani wurde am 3. Oktober 1981 in Rabat, Marokko, als mittlere von drei Töchtern geboren, wuchs in einem liberalen, französischsprachigen Haushalt auf und besuchte französische Schulen. Ihre Großmutter mütterlicherseits, Anne Dhobb (geb. Ruetsch; 1921-2016), war im Elsass aufgewachsen. 1944 hat sie während der Befreiung Frankreichs ihren zukünftigen Ehemann Lakhdar Dhobb kennengelernt, einen marokkanischen Oberst der französischen Kolonialarmee. Nach dem Krieg war sie ihm zurück nach Marokko gefolgt, wo sie in Meknès lebten. Anne Dhobb war die erste Schriftstellerin in der Familie, ihr autobiografischer Roman wurde 2003 veröffentlicht. Ihre Tochter (Slimanis Mutter) ist Béatrice-Najat Dhobb-Slimani, eine HNO-Ärztin, die den in Frankreich ausgebildeten marokkanischen Ökonomen Othman Slimani geheiratet hat, einen Bankier. Ein wichtiger Bruch in Leïlas Slimanis Kindheit ereignete sich 1993, als ihr Vater fälschlicherweise in einen Finanzskandal verwickelt und als Präsident der CIH Bank entlassen wurde (später erfolgte seine offizielle Entlastung).
Zwischen Marokko und Frankreich
Sie kam früh mit Büchern in Berührung und las schon als junge Frau die französischen Klassiker (Gustave Flaubert, Guy de Maupassant und Marcel Proust nannte sie öfter als die für sie wichtigsten Autoren). Gleichzeitig lebte sie in einem patriarchalischen, konservativen Umfeld, was ihre spätere literarische Auseinandersetzung mit Frauenrechten und gesellschaftlichen Normen prägte. Seit jeher fühlt sie sich sowohl als Französin als auch als Marokkanerin: „Ich wurde mit der französischen Nationalität geboren und fühlte mich immer zu 100% französisch und zu 100% marokkanisch, also hatte ich nie ein Problem damit. Das Aussehen der anderen Person ist mir völlig egal. Ich lasse mich nicht auf Identitäten festlegen. Es wäre etwas unangebracht, mich zu beschweren, wenn es für Menschen, die in Frankreich geboren wurden, nordafrikanische Namen tragen und ständig auf ihre nordafrikanische Identität zurückgeführt werden, viel schmerzhafter ist. Bei mir ist es anders. Ich habe eine ‚echte‘ Doppelstaatsbürgerschaft, eine echte Doppelzugehörigkeit. Wenn mich die Leute also zu meiner marokkanischen Identität zurückbringen, dann ist das gut, ich bin Marokkanerin“, erklärte sie dazu in einem Interview (TelQuel, 3.11.2016).
Mit 17 Jahren verließ sie Marokko und zog nach Paris, um an der Sciences Po und der ESCP Europe Politikwissenschaft und Medienwissenschaften zu studieren. Nach ihrem Studium besuchte sie eine Schauspielschule und spielte in zwei Filmen in Nebenrollen. 2008 heiratete sie den Pariser Bankier Antoine d’Engremont, den sie 2005 kennengelernte hatte, und begann im selben Jahr als Journalistin für die Zeitschrift „Jeune Afrique“ zu arbeiten. Sie schrieb vorwiegend über Nordafrika und den Maghreb und war viel auf Reisen. Nachdem 2011 ihr Sohn auf die Welt kam (2017 folgte eine Tochter) und sie während ihrer Berichterstattung über den Arabischen Frühling in Tunesien verhaftet wurde, beschloss sie, bei „Jeune Afrique“ aufzuhören, um freiberuflich tätig zu sein – und ihren ersten Roman zu schreiben.
All das zu verlieren
Das Romanmanuskript wurde von vielen Verlagen abgelehnt. Doch 2013, als sie an einem Schreibworkshop von Jean-Marie Laclavetine (Romanautor und Herausgeber bei Gallimard) teilnahm, interessierte sich dieser für ihr Manuskript und half ihr, es zu verbessern. So konnte sie im Jahr 2014 „Dans le jardin de l’ogre“ („All das zu verlieren“) veröffentlichen. Der Roman kam bei französischen Kritiker:innen gut an und erhielt in Marokko einen bekannten Literaturpreis. In ihrem ersten Roman erzählt Leïla Slimani von einer Frau, die wegen ihrer sexuellen Sucht langsam die Kontrolle über ihr Leben verliert. Die Idee zu ihrer Geschichte entstand bei Slimani durch die Berichte über den Missbrauchsskandal um den französischen Politiker Strauss-Kahn.
„Seit einer Woche hält sie durch. Eine Woche schon ist Adèle standhaft geblieben. Vernünftig. In vier Tagen ist sie zweiunddreißig Kilometer gerannt. (…) Sie hat keinen Alkohol getrunken und ist früh ins Bett gegangen. Aber heute Nacht hat sie davon geträumt und konnte nicht mehr einschlafen. Ein lustvoller, endlos langer Traum, der wie ein heißer Lufthauch in sie eingedrungen ist. Seitdem kann Adèle an nichts anderes mehr denken. Sie steht auf und trinkt einen starken Kaffee. In der Wohnung ist es still. Allein in der Küche tritt sie von einem Fuß auf den anderen und raucht eine Zigarette. Unter der Dusche würde sie sich am liebsten Fingernägel in die Haut bohren, sich entzweireißen. Sie schlägt die Stirn gegen die Wand. Sie will, dass man sie packt, dass ihr Kopf gegen die Scheibe prallt. Sobald sie die Augen schließt, hört sie die Geräusche: das Stöhnen, die Schreie, das Klatschen der Körper. Ein nackter, keuchender Mann, eine Frau, die kommt. Sie will nur ein Objekt inmitten einer Meute sein. Gefressen, ausgesaugt, mit Haut und Haar verschlungen werden.“ So beginnt der Roman.
Wie in vielen Vorgängerromanen befasst sich Leïla Slimani darin mit der emanzipatorischen Kraft von Sex als literarischem Thema und nimmt dabei ebenso den Bruch von Tabus in Kauf. Im Mittelpunkt von „All das zu verlieren“ steht jedoch nicht der Sex als emanzipatives Potenzial, sondern die mittels Sex mögliche Erforschung von Machtverhältnissen. Über ihre Hauptfigur schreibt sie: „Sie verstand rasch, dass das Begehren keine Rolle spielte. Sie hatte kein Verlangen nach den Männern, denen sie sich näherte. Ihr ging es nicht um die Körper, sondern um die Situation. Genommen werden.“
Und: „Über Sex zu schreiben ist vielleicht das Schwerste. Weil das Vokabular, das uns dafür zur Verfügung steht, entweder pornographisch oder erotisch ist. Die Sache nüchtern zu beschreiben, einfach so, wie sie ist, das ist extrem kompliziert.“ In „All das zu verlieren“ gelingt ihr der Balanceakt, indem sie nicht nur den (mitunter in Gewalt kippenden) Sex, sondern auch die ungeheuerlichen Lügen, die diesen begleiten, genau und geradezu sachlich beschreibt.
Dann schlaf auch du
Mit dem Roman „Chanson douce“ („Dann schlaf auch du“) gewann sie 2016 schließlich den Prix Goncourt. Durch den Roman wurde sie zum literarischen Star in Frankreich und er machte sie auch einem internationalen Publikum bekannt. Erzählt wird darin die Geschichte einer Pariser Familie, die eine scheinbar fast perfekte Nanny engagiert. Inspiriert ist die Geschichte von einem wahren Kriminalfall, der Ermordung der Krim-Kinder durch ein Kindermädchen 2012 in Manhattan.
„Das Baby ist tot. Wenige Sekunden haben genügt“, lauten die beiden ersten Sätze des Romans. Nach den ersten Seiten, in denen in der Folge die Tat geschildert wird, geht die Erzählerin in der Zeit zurück und erzählt vom normalen Alltag der Pariser „Bobo“-Familie. Paul und Myriam sind beide Mitte dreißig, er Musikproduzent, sie Juristin, und leben im gutbürgerlichen 10. Arrondissement. Sie haben viele gute Prinzipien, die aber auch gerne über Bord geschmissen werden, denn die Familie steht über allem. Da ist es dann nicht frauenfeindlich, dass die Nanny keine Kinder haben soll, weil sie so unflexibler wäre.
Myriam ist das Leben als Mutter und Hausfrau bald zu viel, also wird Louise als Nanny engagiert. Sie ist perfekt, kümmert sich um die Kinder (die sie lieben), um den Haushalt (der nun nicht mehr wie ein unbesiegbares Monster erscheint), sie kocht, wäscht und putzt. Und sie ist immer da, wenn man sie braucht, aber doch so diskret, dass sie nicht stört. Myriam und Paul genießen es, leben auf. Sie machen sich Sorgen darüber, ob sie gute Chefs sind, bemühen sich, die soziale Kluft zwischen ihnen und ihrer Angestellten zu verdecken – Myriam versteckt sogar ihre neuen Kleider, da sie fürchtet, durch ihren eigenen (sehr relativen) Wohlstand die Nanny zu demütigen. Wie es wohl für diese Frau ist, den Kindern derart viel Liebe zu geben, alles mit ihnen zu teilen und dabei zu wissen, dass sie irgendwann, bald, wieder gehen muss und schnell vergessen sein wird – darüber macht sie sich keine Gedanken. Die Erzählperspektive wechselt immer wieder, es wird sehr eindringlich beschrieben, wie die vielen Trennungen, diese merkwürdigen Aufenthalte in der Intimsphäre anderer Menschen die Nanny langsam, fast unmerklich zerfressen. Irgendwann denkt sich Louise: „Ich kann nicht mehr lieben“, und da geht dann alles ziemlich schnell.
Der Roman zeigt gesellschaftliche Abgründe auf, soziale Klassenunterschiede und den unsichtbaren Druck auf Frauen in der modernen Gesellschaft. Dass westliche Frauen ihr selbstbestimmtes Leben oft nur mit Hilfe überwiegend migrantischer Frauen bewältigen können, die dafür wiederum die eigenen Kinder in der Heimat zurücklassen, wird immer wieder diskutiert. Leïla Slimani wendet die Thematik anders an. Denn hier „hat die Mutter Myriam nordafrikanische Wurzeln, während Louise jener Schicht französischer Kleinbürger:innen entstammt, die den Lebensstandard nicht halten konnte und ins Prekariat abgerutscht ist. Es sind dieser Abstieg und die damit einhergehende Kränkung sowie die Gewissheit, mit den eigenen Problemen alleingelassen zu werden, die Louises explosiven Gefühlscocktail zusammenrühren. Leïla Slimani erzählt davon in einem unheimlichen Realismus: ein Sittenbild, wie mit dem Rasiermesser ausgeschnitten“, so reüssiert Sandra Kegel (FAZ, 1.9.2017).
Vielfältig ist Leïla Slimanis gesellschaftliches und politisches Engagement. So schrieb sie am Tag nach den Anschlägen vom 13. November 2015 in Frankreich in „Le 1“ einen Artikel mit dem Titel „Integralisten, ich hasse euch“. Bei der Präsidentschaftswahl 2017 unterstützte sie Emmanuel Macron, um „dem Niedergang und Hass“ entgegenzuwirken, den Marine Le Pen in ihren Augen verkörpert. Anschließend lehnte sie jedoch Macrons Vorschlag ab, Kulturministerin zu werden, akzeptierte aber die Position der persönlichen Vertreterin von Macron für die französischsprachige Welt. Dennoch veröffentlichte sie 2018 als Reaktion auf einen Austausch zwischen Emmanuel Macron und einem Veteranen in Verdun über illegale Einwanderer:innen eine Broschüre, in der sie die Missachtung letzterer anprangerte. Im Oktober 2019 widersetzte sie sich öffentlich der Ausweisung von Samira, einem 10-jährigen Mädchen aus der Elfenbeinküste, das schlussendlich in Frankreich bleiben durfte. Im Juni 2017 wurde sie von einem Journalistenverband ausgezeichnet, weil sie die Kriminalisierung von Homosexualität in Marokko kritisiert hatte.
„Sex und Lügen“ und „Der Duft der Blumen bei Nacht“
In dem Buch „Sexe et Mensonges“ (2017, „Sex und Lügen“) mit Gesprächen mit Frauen aus der islamischen Welt fasste sie Berichte vieler Frauen zusammen, die sie während einer Lesereise durch Marokko interviewt hatte. Die Gespräche zeigen die aus dem religiösen Konservatismus geborene sexuelle Frustration in der arabischen Gesellschaft und dass sich daran trotz Globalisierung bis heute kaum etwas geändert hat. In Marokko wird außerehelicher Sex nach wie vor mit bis zu einem Jahr Gefängnis bestraft. Die jungen Frauen, die Slimani traf, sprechen über die Heuchelei, das religiöse Korsett, in dem sie stecken, und die ständige Bevormundung, die durchaus auch in Bösartigkeit ausarten kann. Die Vorstellung, das sei eben so im Islam, lehnt Slimani ab, sie nimmt sich stattdessen das Recht heraus, „eigenständig zu denken“.
2021 erschien „Le parfum des fleurs la nuit“ („Der Duft der Blumen bei Nacht“). In diesem außergewöhnlichen Buch erzählt sie von einem Wunschtraum, den viele haben und den sie sich erfüllt hat: eine Nacht allein in einem Museum zu verbringen. Sie erzählt also von einer ungewöhnlichen Nacht, die sie im Museo Punta della Dogana in Venedig verbrachte, dem einstigen venezianischen Zollgebäude. Es ist ein Ort, an dem sich seit jeher Orient und Okzident begegnen und der für Leïla Slimani zu einem Ausgangspunkt für eine Reise durch ihr Leben wird. Sie berichtet von ihrer Familie, ihrer Kindheit in Rabat, vom Alltag in Paris als Mutter und Autorin, vom Leben zwischen den Kulturen, von ihrem gesellschaftspolitischen Engagement als Frau und reflektiert über den Beruf des Schriftstellers. Am Morgen nach ihrer Museumsnacht verlässt sie dann beinahe fluchtartig die Stadt, um an ihren Pariser Schreibtisch zurückzukehren und die Arbeit an dem (damals) im Entstehen begriffenen Romanzyklus „Das Land der Anderen“ wiederaufzunehmen.
Das Land der Anderen
2021 zog Slimani mit ihrer Familie nach Lissabon, um dort in Ruhe an ihrer Romantrilogie arbeiten zu können, die seit 2020 erscheint. Ihre autobiografisch gefärbte Trilogie „Le Pays des autres“ („Das Land der Anderen“) erzählt die Geschichte einer marokkanisch-französischen Familie über drei Generationen.
Der erste Band, der im Original den Titel „La guerre, la guerre, la guerre“ trägt (auf Deutsch: „Der Krieg, der Krieg, der Krieg“; er erschien jedoch im Luchterhand Verlag unter dem Gesamttitel der Trilogie „Das Land der Anderen“) hat Marokkos Weg nach dem Zweiten Weltkrieg bis zur Unabhängigkeit von Frankreich 1956 als Hintergrund. Im Mittelpunkt steht das Leben ihrer Großeltern mütterlicherseits während der Dekolonialisierungszeit Marokkos in den 1950er Jahren.
Mathilde, eine junge Elsässerin, verliebt sich am Ende des Zweiten Weltkriegs in Amine Belhaj, einen marokkanischen Offizier im Dienst der französischen Armee. Die beiden heiraten und lassen sich in der Nähe von Meknès, am Fuß des Atlas-Gebirges, nieder, um auf einem abgelegenen Hof, den Amine von seinem Vater geerbt hat, zu leben. Während er versucht, dem steinigen Boden einen kargen Ertrag abzutrotzen, zieht Mathilde die beiden Kinder groß. Voller Freiheitsdrang hatte sie als Europäerin den Aufbruch in ein neues, unbekanntes Leben gewagt und muss nun ernüchternde Erfahrungen machen: Sie erlebt den alltäglichen Rassismus der französischen Kolonialgesellschaft, in der eine Ehe zwischen einem Araber und einer Französin nicht vorgesehen ist, die patriarchalischen Traditionen der einheimischen Bevölkerung und dann auch das Unverständnis ihres eigenen Mannes.
Durch die Macht der Umstände erkennt sie, dass er („obwohl er kein übler Mann ist“) es nun sein wird, der bestimmt, wo es langgeht: „So ist das hier!“ Bei einem Besuch im Elsass nach dem Tod ihres Vaters überlegt sie, in Frankreich zu bleiben und Ärztin zu werden. Doch aus Liebe zu den Kindern nimmt sie ihr Schicksal an, möchte daraus etwas machen und fühlt sich dabei stark. „Stark, nicht mehr frei zu sein.“ Zugleich hasst sie sich dafür. Aber sie gibt nicht auf, kämpft weiter um Anerkennung und ihr eigenes Leben in der Fremde. Leïla Slimani verknüpft hier auf beeindruckende Weise Kolonialgeschichte und Familienhistorie, kulturelle Gegensätze und die Suche nach den eigenen Wurzeln.
In „Regardez-nous danser“ (2022, „Schaut, wie wir tanzen“, dem zweiten Band der Trilogie, Wie schon in „Das Land der Anderen“) steht auch hier mit Aïcha, der in Marokko geborenen Tochter der Elsässerin Mathilde und des Marokkaners Amine, wieder eine Frau zwischen zwei Welten. Amine, der Vater von Aïcha, einst von den Franzosen „Kameltreiber“ geheißen, findet nun als erfolgreicher Zitrus- und Olivenfarmer Anerkennung und wird bei den Rotariern aufgenommen. Aïcha studiert in Straßburg Medizin. Sie lässt sich die Haare glätten, trägt moderne Kleidung in Gestalt des Minirocks, um auch als junge Frau aus dem Maghreb den Eintritt in eine moderne Welt zu markieren. Doch die Heimat mit ihrer Enge ist ihr bald nicht weniger fremd als Frankreich, wo die anderen Studierenden über den Historischen Materialismus, das Schicksal der Schwarzen in den USA und den israelisch-palästinensischen Konflikt diskutieren, während Aïcha strebsam lernt und zu all diesen Themen keine Meinung hat. Aber ihr wird klar, dass sie keine gute Medizinerin sein kann, wenn sie die Welt nicht besser begreift.
Am Abend der Mondlandung begegnet sie in einer Strandbar bei Casablanca einem Wirtschaftsstudenten, den alle nur „Karl Marx“ nennen. Er ist Teil einer intellektuellen Jugend, die das Land erneuern möchte, konfrontiert sie mit dem Gedanken, dass sie in einem „schuldhaften Individualismus“ lebe und ihr Vater ein Ausbeuter sei. Sie heiratet ihn. Später wird „Marx“ im Widerspruch zu seinen Idealen einen Posten als hoher Regierungsbeamter im korrupten und attentatsgeschüttelten monarchistischen Unrechtsstaat Marokko annehmen. Es sind die Brüche, die politischen und jene zwischen Tradition und Fortschritt, von denen Leïla Slimanis beeindruckender Roman einer Familie handelt. Sie erzählt von den gesellschaftlichen Umbrüchen Ende der 60er Jahre, bietet ein Zeitpanorama Marokkos nach der Unabhängigkeit von Frankreich 1956 bis hinein in die Mitte der 1970er Jahre, in die Zerrissenheit zwischen kolonialem Erbe und einer autoritären Monarchie.
Band 3 der Trilogie, „J’emporterai le feu“ (2024, „Ich werde das Feuer mitnehmen“) ist auf Deutsch noch nicht erschienen. Er spielt in den 1980er bis 2000er Jahren und zeigt eine neue Generation, die zwischen Tradition und Globalisierung steht, autobiografisch gefärbt durch die Figur des Vaters Mehdi, der wie Slimanis Vater ins Gefängnis muss.
Foto: © Francesca Mantovani Editions Gallimard