Leutgeb Kurt - Berlin & Paris
Veröffentlicht am 08.11.2024
Ein aus wechselnder Perspektive erzählter Künstlerroman.
Es sind zwei Ikonen der Rock-Musik, denen sich Kurt Leutgeb in seinem neuen Roman widmet: David Bowie und Jim Morrison. Beide befinden sich in einer Umbruchphase. Und beide zieht es nach Europa. Weil David an Flugangst leidet, überquert er den Atlantik auf einem Ozeandampfer. Die Welt liebt den in kleinbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsenen kleinen dünnen Engländer mit Sonnenbrille und Hut. Aus der Anbetung, die ihm widerfährt, bezieht er jene Energie und Inspiration, die er braucht, um neue Lieder zu schreiben. Berlin scheint dafür der richtige Ort. Zu konzentrierter Arbeit kommt er jedoch nur nachmittags von Dienstag bis Freitag. Sonst stehen Drogen, Sex und Regenerieren im Mittelpunkt.
Jim Morrison geht es ähnlich. Wissend, dass dauerhafte Perfektion nicht einmal mit Heroin zu haben ist, versucht er „jenes produktive physiologische Zusammenspiel von Restrausch und Ausgeruhtheit“ zu erreichen, das ihm die besten Einfälle liefert. Noch als Student ein Stubenhocker, der gern liest, entwickelt er sich als Rockstar schnell zum Dionysiker. Er lebt exzessiv, wird verhaftet und verurteilt. Doch noch ehe sein Pass eingezogen wird, gelingt ihm die Ausreise nach Paris, wo er ein Leben als Dichter führen will. Lust, Konzerte zu spielen, hat er keine mehr; will lieber herausfinden, ob sich das Leben als Krankheit geriert, von der einem nur der Tod heilen kann.
David ist anders, will eine Großbritannien-Tournee machen, kommt nach London, leistet sich bei der Begrüßung der ihn erwartenden Menge aber einen Fauxpas. Die Presse spricht von „Nazigruß“. David versucht die Sache als Problem mit der Schulter abzutun. Als dann aber der „Sunday Mirror“ herausfindet, dass man ihn an der sowjetisch-polnischen Grenze wegen Nazi-Memorabilien festgenommen hat und in seiner Berliner Wohnung außerdem der Schreibtisch von Joseph Goebbels steht, folgt eine Welle der Entrüstung. Westdeutschland verhängt sogar ein Einreiseverbot.
Jim, der zwischen apollinischen Tagen, an denen er ins Kino geht, Zeitung liest, Briefe und mitunter ein paar Zeilen in sein Schriftstellertagebuch schreibt, und dionysischen Tagen, wo er säuft, aus fahrenden Taxis kotzt und im Morgengrauen über der Klomuschel kauert, hin und her pendelt, erfährt von Davids Hitlergruß aus der Zeitung. Jim empfindet Mitleid, ist aber nicht nur von derartigen Gesten weit entfernt, sondern auch nicht der Rockstar, der sich ein Schloss kauft. Ihm schwebt eher „Wildes“ vor: „einen Weltenbrand entfachen oder wenigstens löschen“. Und doch ist es ein Schloss (und zwar eines außerhalb von Paris), in dem sich Jim und David schließlich begegnen, wissend, dass ihr Leben als Star eine Flipperkugel ist: „Man rollt, rollt, rollt, die Welt leuchtet und klingelt, man wird getroffen und geschubst und rollt“. David kann inmitten dieses Rummels nicht richtig erwachsen werden. Jim hat sich ausgeklinkt und begründet seinen Ruf als ernstzunehmender Dichter. Ihren Ruhm sehen beide aber immer kritisch als „tiefen, starken Sumpf aus Lorbeer“, der einen zwingt, sich von Zeit zu Zeit neu zu erfinden, um nicht schon tot zu sein, bevor man gestorben ist.
Kurt Leutgeb findet dafür in seinem zehn Kapitel langen, aus wechselnder Perspektive erzählten Künstlerroman, der auf einer Novelle fußt und als richtiges Leseglück bezeichnet werden kann, sehr schöne sprachliche Töne, die „spannend und vielgestaltig“ sind.
Andreas Tiefenbacher
Leutgeb Kurt - Berlin & Paris
Roman. Klagenfurt: Sisyphus 2023. 280 S. - kt. : € 23,00 (DR) ISBN 978-3-903125-74-2