Lexer, Elisabeth - Fluchttiere

Lexer, Elisabeth - Fluchttiere

Veröffentlicht am 29.03.2023

Novelle

Wenn man jung ist, passiert es nicht selten, dass man sich ein Eigenheim, Kinder und Schulden aufhalst und es aufgrund dieser Belastungen irgendwann nicht mehr miteinander aushält. Zumindest ist es Elsa und Adam so ergangen, den Hauptfiguren dieser von genauen Stimmungsbildern getragenen, eindrücklich schildernden Novelle.

Sie ist mit dem zu Erfolg und Geld gekommenen Hans verheiratet gewesen; er mit einer Frau, die nach der Geburt der Kinder auf einmal wie „ausgewechselt“ gewesen ist und ihm Vorhaltungen gemacht hat, er würde zu viel Bier trinken, zu wenig im Haushalt machen und nicht aufmerksam und zärtlich genug sein. Elsa hat, um nicht im „Brackwasser“ ihrer ehelichen Beziehung unterzugehen, immer wieder wild um sich geschlagen und sich geweigert, Kinder zu gebären. Adam hat auch nie eigene Kinder haben wollen. Doch kaum sind welche dagewesen, hat er sich nach den Bedürfnissen seiner Familie gerichtet.

Elsa hat sich immer der Norm widersetzt. Als jugendliche Revoltierende sind ihr bereits ein Lampenschirm und Vorhänge als „bourgeois“ erschienen. Diese Widerständigkeit hat sie sich bewahrt: Sie trinkt Bier aus der Flasche, schläft nackt, serviert den Dorffrauen abgepackten Kuchen aus dem Supermarkt, kontert der aus dem Regionalsender kommenden Blasmusik ihrer Nachbarin mit „rauchigem Jazz“, vernachlässigt ihr Äußeres und nimmt die Zurückweisung ihres Ehemannes schließlich wie eine verdiente Strafe an. Adam gegenüber heißt es von seiner Familie immer nur: „Wir brauchen“. Erst spät erkennt er, dass er in dieses „Wir“ eigentlich gar nicht eingebunden ist. Dass Elsa zu ihm passt, erkennt er aber sofort und reagiert euphorisch. So ziehen die beiden, die aus ihren alten Beziehungen davonrennen, als ob jemand hinter ihnen her wäre, erst einmal in ein unbeheiztes Zimmer und von dort in das erstbeste Haus, das sie finden. Es liegt abgeschieden in einem Tal in den Bergen und erweist sich als verkommen und lieblos, riecht nach Schimmel und in den Räumen ist Beklemmung zu spüren. Außerdem tauchen immer wieder Zweifel auf, ob genug Geld da ist. Schließlich muss Adam für seine Kinder zahlen und Elsa für ihre Pferde.

Die Angst, sich irgendwann gegenseitig vielleicht nur noch auszunutzen, können die zwei am besten beiseite schieben, wenn sie vor dem schlecht ziehenden Ofen Bier trinken und sich über die bürgerliche Moral und den rauschhaften Konsum lustig machen. Da bestärken sie sich auch „in ihrem Anderssein, ihrem Glück und ihrer wiedergewonnenen Freiheit“. Das Leiden an „ihrer Schuld und den selbst herbeigeführten Verlusten“ können sie so nie ganz überwinden; sind sich aber einig, dass in ihrem Glück, endlich zusammen zu sein, Trauer kein Recht und keinen Platz haben darf. So ganz funktioniert das allerdings nicht. Denn das Von-einem-Ort-zum-nächsten-Hetzen ist keine Lösung. Trotzdem will Elsa auch von dem Haus in den Bergen wieder weg, weil es sie stumpf und leer gemacht hat. So ziehen sie in eine Gegend, in der es im Durchschnitt um sechs Grad wärmer ist. Die Umzugskartons stehen noch unausgepackt herum, als ein arges Gewitter hereinbricht, während Adam sich gerade um den Müll kümmert und plötzlich wie vom Erdboden verschluckt scheint. Das Davonrennen und Flüchten, die Suche „nach dem guten, immer besseren Leben“ ist das zentrale Thema dieser Geschichte. Sie erzählt in Rückblenden Elsas und Adams „Irrfahrt durch die Orte“. Es sind vor allem die Gefühlslagen, Vorstellungen und Stimmungen der beiden, die die Autorin mit großer Empathie analysiert. Sie zeigt plausibel und gut nachvollziehbar, dass das, worin die einen das Bewahren ihrer Eigenständigkeit sehen, andere bloß stures Nachlaufen von abstrusen Hirngespinsten erkennen.

Dem Titel des Buches entsprechend sehen sich Elsa und Adam als „Fluchttiere“, denen es darum geht, noch einmal von vorne anzufangen. Sie möchten im Grunde nichts anderes, als endlich wieder „unbeschwert“ sein: Adam will mit Elsa zusammen genießen, dass die Nächte warm sind, will Wein mit ihr trinken, sie „im Arm halten und reden und reden und reden und nicht an den nächsten Tag denken“. Sie will sich nicht ins Dorfleben integrieren, weil ihr vor dem „Alkoholatem“ der Männer graust und sie auch keine Lust hat, sich an den vorwiegend um Rezepte, Sonderangebote und Fernsehserien kreisenden Gesprächen der Frauen zu beteiligen, die ihre Zeit nicht (wie Elsa) mit dem Lesen von Büchern verbringen, sondern sie dem Haushalt, der Wäsche und den Kindern widmen und in einer Bücherwand in erster Linie einen „Staubfänger“ sehen.

Lange genug mitgerannt, wollen Elsa und Adam nicht mehr zu dieser „Herde“ gehören, sondern „möglichst weit weg“ von ihr sein, um ihr privates Glück zu leben. Dass darauf immer wieder dunkle Schatten fallen, wenn ihnen die angestrebte Freiheit zu sehr das Gefühl vermittelt, „in einer Nussschale im Ozean“ zu sitzen, arbeitet Elisabeth Lexer auf bemerkenswerte Weise heraus. Indem sie ihre beiden Hauptfiguren um das Eingestehen, „dass jede Trennung, auch wenn sie aus eigenem Willen geschieht, eine Gewalttat (…)und dem Tod verwandt“ ist, kreisen lässt und ihrer inneren Entwicklung als „unbelehrbare Kinder einer im Sand verlaufenen Revolte“ großen erzählerischen Raum gibt, zeigt die Autorin, was sie für den Spannungsaufbau zu tun vermag. So wird Lesen ein Akt der Freude.

Andreas Tiefenbacher

Lexer, Elisabeth - Fluchttiere

Novelle. Oberwart: edition lex liszt 2022. 141 S. - br. : € 19,00 (DR) ISBN 978-3-99016-229-3