Maraini, Dacia - Ein halber Löffel Reis

Maraini, Dacia - Ein halber Löffel Reis

Veröffentlicht am 12.08.2025

Kindheit in einem japanischen Internierungslager. 

„Für uns Kinder war im Lager keine eigene Nahrungsration vorgesehen, auch kein Go Reis. Jeder Erwachsene musste pro Tag einen halben Löffel Reis für uns Mädchen abgeben.“ Dacia ist sieben Jahre alt, als sie von 1943 bis Kriegsende mit ihren Eltern und kleinen Schwestern Toni und Yuki in Japan in ein Konzentrationslager für Antifaschisten gesperrt wird.

Ihr Vater Fosco war Anthropologe, hat ein Forschungsstipendium in Japan bekommen und lehrt an der Universität Kyoto, ihre Mutter Topazia Alliata fühlt sich wohl und ist glücklich über ihr neues Umfeld. Sie glauben, dass der Krieg bald vorbei sein wird. Doch Japan ist durch einen Pakt mit Hitler und Mussolini mit den Deutschen und Italienern verbündet und die faschistische Regierung Italiens fordert alle im Ausland lebenden Italiener auf, ein Treuebekenntnis zu unterschreiben. Dacias Eltern werden von den japanischen Behörden vorgeladen, doch sie lehnen es ab, eine solche Erklärung zu unterzeichnen. Daraufhin wird die ganze Familie in ein Gefangenenlager nach Nagoya deportiert, wo man sie zwei Jahre lang einsperrt.

Dacia Maraini beschreibt eindrücklich die schwierigsten Jahre ihres Lebens. Es gibt am Tag nicht mehr als einige Gramm Reis. Zwischen Hunger, Krankheit und Warten müssen sie lernen, zusammen mit anderen Gefangenen an diesem feindlichen Ort zu überleben. Sie sind der Kälte, den Parasiten und den Misshandlungen der Wachen und der ständigen Drohung, sie irgendwann umzubringen ausgesetzt und ernähren sich, da es immer zu wenig zu essen gibt, auch von Ameisen und Schlangen. Während die Mutter versucht, die geringe Solidarität der Internierten zu steigern, rebelliert der Vater gegen die sadistischen Wächter und wirft ihnen vor, selbst die Kinder wie politische Häftlinge zu behandeln.

Nach etwa einem Jahr kommt es zu einer Konfrontation mit den japanischen Soldaten: „Wir hörten den Vater plötzlich brüllen, sahen Blut und begriffen erst da: Mein Vater hatte sich mit einem Beil den kleinen Finger abgehackt und diesen dem Wächter auf die weiße Uniform geworfen. Dieser zog sein Schwert und schien sich auf meinen Vater stürzen zu wollen. Es gab ein riesiges Geschrei, meine Mutter fiel in Ohnmacht. Mein Vater aber kannte die alten Rituale der Samurai und wusste, dass er mit einer solchen Selbstverstümmelung die Wächter ins Unrecht versetzte. Er kam zwar eine Woche in Einzelhaft, doch dann brachte man uns eine kleine Ziege, die uns von da an etwas Milch gab. Diese Ziege hat uns das Leben gerettet.“ Die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, die Hunderttausenden Tod und Leiden brachten, beenden den Zweiten Weltkrieg und somit ist auch das Martyrium der Familie zu Ende. Sie werden freigelassen und können nach Italien, nach Sizilien heimreisen.

Dacia Maraini erzählt zwar aus heutiger Perspektive, versucht jedoch alles durch die Augen eines Kindes zu sehen und es klingt stets ein gleichsam liebender Grundton mit: der Liebe zu Japan und seiner Kultur, die diese entsetzlichen Erlebnisse nicht zerstören konnten, und natürlich der Liebe zu ihrer Familie und deren Durchhaltevermögen auch in Zeiten des ärgsten Hungers. Lange hatte die mittlerweile 89-Jährige ihr Manuskript nicht abschließen können. Nun ist diese Chronik einer schrecklichen Zeit, dieses bedrückende und faszinierende Buch endlich auch in deutscher Sprache (von Ingrid Ickler großartig übersetzt) zu lesen.
Georg Pichler

Maraini, Dacia - Ein halber Löffel Reis
Kindheit in einem japanischen Internierungslager. Wien: Folio 2025. 233 S. - fest geb. : € 25,95 (BB) ISBN 978-3-85256-910-9 Aus dem Ital. von Ingrid Ickler

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