Marcel Proust - Diese Substanz war vielmehr nicht in mir, sondern ich war sie selbst

Marcel Proust - Diese Substanz war vielmehr nicht in mir, sondern ich war sie selbst

Veröffentlicht am 30.05.2021

Brigitte Winter zum 150. Geburtstag von Marcel Proust

Marcel Proust schuf mit seinem siebenbändigen Romanwerk (das je nach Ausgabe 4000-5000 Seiten umfasst und von 1913 bis 1927 erschien) ein literarisches Meisterwerk des 20. Jahrhunderts und inszenierte dabei zwei soziale Schichten: den machthungrigen Adel und das aufstrebende Bürgertum. Er komponierte ein monumentales Panorama der Pariser Aristokratie, des Großbürgertums und leuchtet dabei nahezu alle Winkel menschlicher Existenz mit einer grandiosen Detailtreue aus. Weder seine frühen Prosaversuche noch seine Tätigkeit als Übersetzer und Literaturkritiker deuteten auf ein Werk vom Umfang und Gewicht der "Recherche" hin.

Der am 10. Juli 1871 in Auteuil geborene und seit seiner Kindheit an Asthma leidende, aufgrund seiner Fähigkeit zu geistreicher Konversation bei der Pariser Aristokratie geschätzte und nicht zuletzt wegen seiner homoerotischen Beziehungen zur schillernden Dandy-Figur stilisierte Autor von Essays und Kunstkritiken beeinflusste die Literatur des 20. Jahrhunderts durch sein großes Werk "A la recherche du temps perdu" (7 Teile, deutsch "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit").

Der Sohn des Arztes Adrien Proust und dessen jüdischer Frau Jeanne Weil verbrachte seine Kindheit in Illiers und Paris, wo er ab 1882 das Lycée Condorcet besucht. Während der Schulzeit verfasst der sich später in einem Brief an seinen Freund Robert Dreyfus als „Décadent“ bezeichnende Marcel bereist kleinere Artikel. Er gilt als Mitbegründer einiger ästhetizistischer Literaturzeitschriften des Gymnasiums. Nach Abitur und Militärdienst studiert er ab 1890 Rechts- und Literaturwissenschaft. Das Jurastudium beschließt der finanziell stets Unabhängige 1893 mit dem Diplom als Jura-Lizentiat. Er arbeitet jedoch nur kurzzeitig als Bibliothekar in der Bibliotheque Mazarine in Paris. Bereits 1892 gründet er zusammen mit vier anderen die Zeitschrift „Le Banquet“, in der mehrere Artikel veröffentlicht, die später in die Textsammlung „Les plaisirs et les jours“ (1896, „Freuden und Tage“) eingehen.

Er unternimmt einige Reisen, insbesondere in die Normandie und die Bretagne, aber auch in die Schweiz und nach Venedig. Vor allem die Besuche in den nordfranzösischen Kathedralen wecken sein Interesse an der gotischen Architektur. Dieser nähert er sich später auch über die Beschreibungen des englischen Künstlers John Ruskin an, dessen „Bible of Amiens“ er 1899 übersetzt.

Freuden und Tage

Sein erstes umfangreiches, zunächst wenig beachtetes Werk „Les plaisirs et les jours“ („Freuden und Tage“) erscheint von ihm selbst finanziert 1896 mit einem Vorwort von Anatole France. Negative Rezensionen wie diejenige Jean Lorrains, die Proust veranlasste, den Verfasser zum Duell zu fordern, bewirkten, dass nur wenige Exemplare verkauft wurden. Dabei galt die Kritik weniger inhaltlichen oder stilistischen Aspekten der Texte, sondern vielmehr der unverhältnismäßig aufwändigen luxuriösen Ausstattung im Prachtformat. Die ästhetizistisch angelegte Erstausgabe versammelt neben Erzählungen und Prosaskizzen, die deutlich unter dem Einfluss der Prosagedichte Charles Baudelaires stehen, auch Illustrationen von Madeleine Lemaire und Partituren von Klavierstücken von Prousts Freund Raynaldo Hahn. Prousts Texte behandeln in melancholischen Naturbeschreibungen und Schilderungen innerer Befindlichkeiten das Thema der Selbstentfremdung, die aus der unaufhebbaren Differenz zwischen äußerer Wirklichkeit und imaginären Erfahrungsgehalten entsteht. Daneben enthält das Buch Künstlerporträts und Fragmente mit teils satirischem Unterton, die eine kritische Perspektive auf die Adelsgesellschaft und das Großbürgertum der Jahrhundertwende eröffnen, deren Oberflächlichkeit, Ehrgeiz und mangelnde Moral Proust auf subtile Weise bloßstellt. Sein feinsinniger Stil entspricht ebenso wie sein sprachlicher Ausdruck den literarischen Konventionen des Fin de siècle.

Von der Proust-Forschung wurde „Les plaisirs et les jours“ lange allein vor dem Hintergrund der „Recherche“ befragt und entweder als vorbereitendes Werk eingestuft oder als biographisches, psychologisch aufschlussreiches Zeugnis des jungen Proust herangezogen. Bemängelt wurden vielfach das Fehlen eines übergeordneten kompositorischen Konzepts sowie die Unterschiedlichkeit der einzelnen Texte. Erst jüngere Studien gestehen dem Werk einen eigenen Rang im Gesamtwerk zu und betonen die besondere Zusammenstellung der Texte.

Jean Santeuil

1895 beginnt Marcel Proust mit der Arbeit an „Jean Santeuil“, einem umfangreichen Roman, der, vom Autor weitgehend geheim gehalten, unvollendet bleibt und erst 1952 aus dem Nachlass veröffentlicht wird. Aus Unzufriedenheit mit dem Manuskript zerreißt Proust es teilweise. Der Versuch, zuvor erprobte literarische Motive, Stilmittel und Verfahrensweisen in ein ganzes Romankonzept aufzulösen, gelingt nicht ganz. Seinem künstlerischen Anspruch, die Abhängigkeit der Wirklichkeits- und Selbstkonstitution von subjektiven Erinnerungs- und Vergessensprozessen beispielhaft vorzuführen, kann er mit „Jean Santeuil“ nicht gerecht werden, da es auf einer Trennung von erlebendem Helden und berichtendem Erzähler basiert. Motiviert ist diese Trennung durch eine Rahmenhandlung, in der zwei junge Pariser in einem bretonischen Dorf einen älteren Schriftsteller kennenlernen, der ihnen Jahre später auf dem Totenbett das Manuskript eines Romans, die Geschichte Jean Santeuils, anvertraut.

Erst in "A la recherche du temps perdu" ("Auf der Suche nach der verlorenen Zeit") findet Marcel Proust mit der Überblendung des erinnernden und erinnerten Erzählers das geeignete Darstellungsmittel für seine Poetik der Erinnerung. Insofern nimmt „Jean Santeuil“ als idealistischer Entwicklungsroman gegenüber der „Recherche“ den Status eines nicht streng durchdachten Entwurfes ein. Vor der Kulisse des ausgehenden 19. Jahrhunderts erzählt Marcel Proust unter Verwendung persönlicher Erfahrungen und Erlebnisse und mit Bezugnahme auf literarische Vorbilder und historische Bildnisse die Lebensgeschichte des emotionalen, sensiblen Helden Jean Santeuil. Der willensschwache Sohn einer großbürgerlichen Familie, der wie der Erzähler der „Recherche“ eine enge Bindung zu seiner Mutter empfindet, wächst in Paris auf, wo er während der Schulzeit über einen Freund Kontakt zu adligen Kreisen knüpft. Fasziniert von der Eleganz der mondänen aristokratischen Gesellschaft besucht er die Salons des Faubourg Saint-Germain und erlebt als Beobachter den Dreyfus-Prozess. Nach der Schulzeit entschließt er sich, eine literarisch-künstlerische Laufbahn einzuschlagen, die ihm zunehmend Anerkennung in aristokratischen Kreisen gewährt, beginnt aber zugleich auf Druck des Vaters ein Jura-Studium. Berichtet wird von Jean Santeuils Beobachtungen, seinen Liebesbeziehungen und Eifersuchtserfahrungen. Unvermittelt endet der Roman mit einem Kapitel über Santeuils Eltern, in dem der Protagonist als herangereifter, gegenüber den bürgerlichen Traditionen versöhnlich gestimmter junger Mann präsentiert wird. 1899 beendet Proust die Arbeit am Romanfragment und widmet sich der Übersetzung Ruskins.

Die Recherche

Erst ab 1905 unternimmt er erneut den Versuch, die bereits in „Jean Santeuil“ erprobten Themen innerhalb eines Romans umzusetzen. Er beginnt die Arbeit an "A la recherche du temps perdu“. Das Romanwerk schildert aus der Perspektive eines erinnernden Erzählers dessen willkürliche und unwillkürliche Lebenserinnerungen von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter. Es ist die Geschichte einer Berufung bzw. der Bericht über die „Lehrzeit eines Schriftstellers“ (Gilles Deleuze). Schon nach ersten Lektüreerfahrungen in früher Kindheit begehrt der Erzähler, angeregt durch die Bewunderung für den fiktiven Autor Bergotte, Schriftsteller zu werden. Doch seine Bemühungen bleiben bis zum Schluss des Romans fruchtlos, erst in „Le temps retrouvé“ („Die wiedergefundene Zeit“), dem letzten Teil des Werks, offenbart sich dem gereiften Helden das Wesen der Kunst. Er erkennt, dass das zu schreibende Buch bereits als „livre intérieur“, als inneres Buch, in jedem Individuum verborgen liegt und der kreative Neuschöpfungsakt darin besteht, die darin aufgehobenen, verborgenen Zeichen zu entziffern. Zu dieser Erkenntnis verhelfen ihm die Glückserfahrungen der „mémoire involontaire“, der unwillkürlichen Erinnerung. Ausgelöst durch einen äußeren sinnlichen Reiz, öffnet sich die Erinnerung an eine erlebte Situation, die der Erinnernde noch einmal durchlebt. Doch empfindet er die Vergangenheit in der Gegenwart des erlebenden Moments, so dass sich in der Erfahrung der Erinnerung mehrere Zeitschichten überlagern.

Das bekannteste Beispiel für das Wirken der „mémoire involontaire“ findet sich im 1913 erschienenen ersten Teil „Du côte de chez Swann“ („In Swanns Welt“): Der Erzähler beschreibt, wie der Geschmack eines in Tee eingetauchten Gebäckstücks in ihm die Erinnerung an seine Kindheit wach werden lässt, die sich nun auch vor dem Leser ausbreitet.

Der Madeleine-Moment

„Ebenso ist es mit unserer Vergangenheit. Vergebens versuchen wir sie wieder heraufzubeschwören, unser Geist bemüht sich umsonst. Sie verbirgt sich außerhalb seines Machtbereichs und unerkennbar für ihn in irgendeinem stofflichen Gegenstand (oder der Empfindung, die dieser Gegenstand in uns weckt); in welchem, ahnen wir nicht. Ob wir diesem Gegenstand aber vor unserem Tode begegnen oder nie auf ihn stoßen, hängt einzig vom Zufall ab. Viele Jahre lang hatte von Combray außer dem, was der Schauplatz und das Drama meines Zubettgehens war, nichts für mich existiert, als meine Mutter an einem Wintertage, an dem ich durchfroren nach Hause kam, mir vorschlug, ich solle entgegen meiner Gewohnheit eine Tasse Tee zu mir nehmen. Ich lehnte erst ab, besann mich dann aber, ich weiß nicht warum, eines anderen. Sie ließ darauf eines jener dicken ovalen Sandtörtchen holen, die man „Madeleine“ nennt und die aussehen, als habe man als Form dafür die gefächerte Schale einer St.-Jakobs-Muschel benutzt. Gleich darauf führte ich, bedrückt durch den trüben Tag und die Aussicht auf den traurigen folgenden, einen Löffel Tee mit dem aufgeweichten kleinen Stück Madeleine darin an die Lippen. In der Sekunde nun, als dieser mit dem Kuchengeschmack gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt. Mit einem Schlage waren mir die Wechselfälle des Lebens gleichgültig, seine Katastrophen zu harmlosen Missgeschicken, seine Kürze zu einem bloßen Trug unsrer Sinne geworden; es vollzog sich damit in mir, was sonst die Liebe vermag, gleichzeitig aber fühlte ich mich von einer köstlichen Substanz erfüllt: oder diese Substanz war vielmehr nicht in mir, sondern ich war sie selbst. Ich hatte aufgehört mich mittelmäßig, zufallsbedingt, sterblich zu fühlen. Woher strömte diese mächtige Freude mir zu? Ich fühlte, dass sie mit dem Geschmack des Tees und des Kuchens in Verbindung stand, aber darüber hinausging und von ganz anderer Wesensart war. Woher kam sie mir? Was bedeutete sie? Wo konnte ich sie fassen? Ich trinke einen zweiten Schluck und finde nichts anderes darin als im ersten, dann einen dritten, der mir sogar etwas weniger davon schenkt als der vorige. Ich muss aufhören, denn die geheime Kraft des Trankes scheint nachzulassen. Es ist ganz offenbar, dass die Wahrheit, die ich suche, nicht in ihm ist, sondern in mir. Er hat sie dort geweckt, aber er kennt sie nicht und kann nur auf unbestimmte Zeit und mit schon schwindender Stärke seine Aussage wiederholen, die ich gleichwohl nicht zu deuten weiß und die ich wenigstens wieder von neuem aus ihm herausfragen und unverfälscht zu meiner Verfügung haben möchte, um entscheidende Erleuchtung daraus zu schöpfen. Ich setze die Tasse nieder und wende mich meinem Geiste zu. Er muss die Wahrheit finden. Doch wie? Eine schwere Ungewissheit tritt ein, so oft der Geist sich überfordert fühlt, wenn er, der Forscher, zugleich die dunkle Landschaft ist, in der er suchen soll und wo das ganze Gepäck, das er mitschleppt, keinen Wert für ihn hat. Suchen? Nicht nur das: Schaffen. Er steht vor einem Etwas, das noch nicht ist, und das doch nur er in seiner Wirklichkeit erfassen und dann in sein eigenes Licht rücken kann.

Wieder frage ich mich, was das für ein unbekannter Zustand sein mag, der keinen logischen Beweis, wohl aber den Augenschein eines Glückes mit sich führte, einer Wirklichkeit, der gegenüber alle andern verblassen. Ich will versuchen, ihn von neuem herbeizuführen. Ich durchlaufe rückwärts im Geiste den Weg bis zu dem Moment, wo ich den ersten Löffel voll Tee an den Mund geführt habe. Ich finde den gleichen Zustand wieder, doch von keinem neuen Licht erhellt. Ich verlange von meinem Geist das Bemühen, die fliehende Empfindung noch einmal wieder heraufzubeschwören. Und damit sein Schwung sich an keinem Hindernis brechen kann, räume ich alles hinweg, jeden fremden Gedanken, ich schirme mein Gehör und meine Aufmerksamkeit gegen alle Geräusche des Nebenzimmers ab. Dann aber, da ich fühle, wie mein Geist sich erfolglos abmattet, zwinge ich ihn umgekehrt zu jener Zerstreuung, die ich ihm vorenthalten wollte, lasse ihn an anderes denken und sich gleichsam erholen, bevor er noch einmal den Anlauf unternimmt. Dann schaffe ich ein zweites Mal völlige Leere um ihn, ich stelle ihm den noch ganz frischen Geschmack jenes ersten Schlucks gegenüber und spüre, wie etwas in mir sich zitternd regt und verschiebt, wie es sich zu erheben versucht, wie es in großer Tiefe den Anker gelichtet hat; ich weiß nicht, was es ist, doch langsam steigt es in mir empor; ich spüre dabei den Widerstand und höre das Rauschen und Raunen der durchmessenen Räume.

Sicherlich muss das, was so in meinem Inneren in Bewegung geraten ist, das Bild, die visuelle Erinnerung sein, die zu diesem Geschmack gehört und die nun versucht, mit jenem bis zu mir zu gelangen. Aber sie müht sich in zu großer Ferne und nur allzu schwach erkennbar ab; kaum nehme ich einen gestaltlosen Lichtschein wahr, in dem sich der ungreifbare Wirbel der Farben vermischt und verliert; aber ich kann die Form nicht unterscheiden, nicht von ihr als dem einzig möglichen Dragoman erbitten, dass sie mir die Aussage ihres Begleiters, ihres unzertrennlichen Gefährten, des Geschmacks übersetzt, sie nicht fragen, um welche Begebenheit, um welche Epoche der Vergangenheit es sich handeln mag.

Wird sie bis an die Oberfläche meines Bewusstseins gelangen, diese Erinnerung, jener Augenblick von einst, der, angezogen durch einen ihm gleichen Augenblick, von so weit her gekommen ist, um alles in mir zu wecken, in Bewegung zu bringen und wieder heraufzuführen? Ich weiß es nicht. Jetzt fühle ich nichts mehr, er ist zum Stillstand gekommen, vielleicht in die Tiefe geglitten; wer weiß, ob er jemals wieder aus seinem Dunkel emporsteigen wird? Zehnmal muss ich es wieder versuchen, mich zu ihm hinunterzubeugen. Und jedesmal rät mir die Trägheit, die uns von jeder schwierigen Aufgabe, von jeder bedeutenden Leistung fernhalten will, das Ganze auf sich beruhen zu lassen, meinen Tee zu trinken im ausschließlichen Gedanken an meine Kümmernisse von heute und meine Wünsche für morgen, die ich unaufhörlich und mühelos in mir bewegen kann.

Und dann mit einem Male war die Erinnerung da. Der Geschmack war der jener Madeleine, die mir am Sonntagmorgen in Combray (weil ich an diesem Tage vor dem Hochamt nicht aus dem Hause ging) sobald ich ihr in ihrem Zimmer guten Morgen sagte, meine Tante Léonie anbot, nachdem sie sie in ihren schwarzen oder Lindenblütentee getaucht hatte. Der Anblick jener Madeleine hatte mir nichts gesagt, bevor ich davon gekostet hatte; vielleicht kam das daher, dass ich dies Gebäck, ohne davon zu essen, oft auf den Tischen der Bäcker gesehen hatte und dass dadurch sein Bild sich von jenen Tagen in Combray losgelöst und mit anderen, späteren verbunden hatte; vielleicht auch daher, dass von jenen so lange aus dem Gedächtnis entschwundenen Erinnerungen nichts mehr da war, alles sich in nichts aufgelöst hatte: die Formen – darunter auch die dieser kleinen Muschel aus Kuchenteig, die so behäbig und sinnenfroh wirkt unter ihrem strengen, frommen Faltenkleid – waren versunken oder sie hatten, in tiefen Schlummer versenkt, jenen Auftrieb verloren, durch den sie ins Bewusstsein hätten emporsteigen können. Aber wenn von einer früheren Vergangenheit nichts existiert nach dem Ableben der Personen, dem Untergang der Dinge, so werden allein, zerbrechlicher aber lebendiger, immateriell und doch haltbar, beständig und treu Geruch und Geschmack noch lange wie irrende Seelen ihr Leben weiterführen, sich erinnern, warten, hoffen, auf den Trümmern alles übrigen und in einem beinahe unwirklich winzigen Tröpfchen das unermessliche Gebäude der Erinnerung unfehlbar in sich tragen“ (Proust 1979: 63 f.).

Das Kind berichtet als erinnerter Erzähler, zugleich aber werden dessen Erfahrungen und Erlebnisse retrospektiv erinnernden Erzähler kommentiert. Diese Kombination der Erzählperspektiven entspricht der Umsetzung der im Roman selbst vorgestellten Poetik: Die gegenwärtige Erfahrung des Moments, in dem der Erzähler sich erinnert, überlagert sich mit der Erfahrung des früheren, erinnerten Moments und bildet somit einen außerhalb der linearen Zeit erfahrbaren Erinnerungsraum. Des weiteren ist die „Lehrzeit“ des Protagonisten geprägt von der reflektierenden Auseinandersetzung mit bildender Kunst, Musik, Theater und Literatur. Über Freunde knüpft er Kontakte zu den adligen Kreisen des Faubourg Saint-Germain, dessen Salons ihm Gelegenheit zu Beobachtungen über die Gesellschaft der Jahrhundertwende bieten. Deren innere Spaltung manifestiert sich zunächst in der Dreyfus-Affäre. Das volle Ausmaß ihres moralischen Verfalls offenbart sich in „Sodome et Gomorrha“ („Sodom und Gomorrha“), dem vierten Teil, vor der Kulisse des Ersten Weltkriegs als Schauplatz von Gewalt und homosexueller Ausschweifung.

Drei scheiternde Liebesbeziehungen bestimmen die Handlung: Die kindliche Liebe des Erzählers zu Gilberte, der Tochter des Kunstsammlers Swann, präfiguriert die Erfahrungen unerfüllten Begehrens und der Eifersucht. Diese dominieren auch die Erzählung der Liebe Swanns zu der Kokotte Odette de Crécy und avancieren schließlich in „La prisonnière“ („Die Gefangene“) und „La fugitive“ („Die Flüchtige“) zum elementaren Thema.

Die Liebe des Erzählers zu Albertine, die er am Strand des fiktiven Badeorts Balbec kennenlernt, steigert sich zur Besessenheit, als er den Verdacht hegt, Albertine könne ihn mit einer gemeinsamen Freundin hintergehen. Je mehr er die Geliebte bedrängt und für sich vereinnahmt, desto mehr entgleitet sie ihm – bis sie vor ihm flieht und er schließlich durch einen Brief von ihrem Tod erfährt. Die Bewegung des Begehrens und gleichzeitigen Entziehens spiegelt sich nicht allein in den im Roman geschilderten Erinnerungs- und Vergessensprozessen wider, sondern markiert auch das Bestreben nach künstlerischer Betätigung sowie die fortlaufenden Identitätsbildungsversuche des Protagonisten.

Selbstkonstruktion erweist sich als abhängig von Erinnerungsprozessen, die jedoch mit vergangenen Zeiten immer auch vergangene Zustände des Ich aufrufen.

Sein Leben und eine ganze Epoche resümiert der Roman "A la recherche du temps perdu" (7 Teile, erschienen 1913-27; deutsch "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit"). Weder die frühen Prosaversuche noch seine Tätigkeit als Übersetzer und Literaturkritiker deuteten auf ein Werk vom Umfang und Gewicht der "Recherche" hin. Erst die Entdeckung des Romanfragments "Jean Santeuil" 1952 wies das Leben Marcel Prousts als kontinuierliche literarische Anstrengung aus. Der Rückzug aus dem sozialen Leben (1905, nach dem Tod der Mutter) in die Einsamkeit im schallisolierten (mit Kork ausgeschlagenen) Zimmer am Boulevard Haussmann machten (seit 1908) die Arbeit an dem Roman zum einzigen Inhalt dieser Existenz. Im März 1922 beendete er das Werk und betrachtete dies als Erfüllung seines Lebens. Marcel Proust starb im November 1922 in Paris.

Peter Matic, der Wiener Schauspieler mit der außergewöhnlichen Stimme, hat übrigens in über156 Stunden Marcel Prousts Meisterwerk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ gelesen. Die insgesamt 9.380 Minuten dauernde vollständige Lesung sei "eine „Höroffenbarung“ und „eine Großtat von Rundfunkanstalt, Interpret und Verlag“, so die Jury der hr2-Hörbuchbestenliste, als sie Matic den Preis für das Hörbuch des Jahres 2010 verliehen hat. Wochenlang, immer in den Wintermonaten, las Peter Matic seit 2001 in den Studios des Rundfunks Berlin-Brandenburg Prousts Meisterwerk Wort für Wort, Band für Band. Seit 2010 liegt die Gesamtausgabe aller sieben Bände auf 17 MP3-CDs im Hörverlag vor. Dieses Beispiel für „elegante und nuancenreiche Sprechkunst“ von Matic wurde nun auch gesamt als Sonderausgabe wiederauflegt.

Foto: (c) Suhrkamp Verlag