Marlen Haushofer - Schreckliche Treue

Marlen Haushofer - Schreckliche Treue

Veröffentlicht am 13.03.2024

Ein Porträt der noch immer unterschätzten Autorin. Von Brigitte Winter.

Marlen Haushofer ist (trotz der Verfilmung und Neuauflagen ihres Romans „Die Wand“) immer noch unterschätzt. Ihre Romane sollten längst zu den großen Klassikern der Weltliteratur zählen, wie Antje Rávik Strubel zu Recht meinte. Eine neue schöne Werkausgabe von Marlen Haushofer bietet jetzt neuerlich Gelegenheiten, eine der wichtigsten deutschsprachigen Autorinnen des letzten Jahrhunderts kennenzulernen.

Vor allem mit ihrem Roman „Die Wand“ (1963), in dem sie von einer Frau, die in einem Tal in Oberösterreich durch eine riesige gläserne Wand vom Rest der Welt abgeschnitten wird, erzählt, wurde sie in Zeiten der Corona-Epidemie immer wieder als Auto-rin erwähnt. In der katastrophischen Dystopie „Die Wand“ gibt es hinter der Wand kein Leben mehr, nur die Natur existiert weiter, und die Frau richtet sich in einem Jagdhaus und später auf einer Alm zusammen mit einem Hund, einer Kuh, einem Kalb und ein paar Katzen ein. So lernt sie das Überleben und schreibt darüber einen Bericht.

Ihr Roman lässt sich, so ihre Biografin Daniela Strigl, „als Parabel der Existenz ebenso gut lesen wie als Bild eines psychischen Ausnahmezustands oder als zeitkritischer Kommentar zum Wettrüsten und zur Sattheit der Wirtschaftswunderknaben – oder als autobiografisches Bekenntnis. Gerade in jenem Buch Marlen Haushofers, in dem die äußere Freiheit der Protagonistin am engsten begrenzt ist, findet diese zu einer inneren Befreiung. (…) Der Roman trägt feministische, apokalyptische, utopische und zivilisationskritische Züge.“ Und er lasse sich auch als Dokument eines selbstbe-stimmten, freien, der Zeit enthobenen Lebens lesen: „Die Alm lag außerhalb der Zeit. Wenn ich später, während der Heuernte, aus der Unterwelt der feuchten Schlucht zurückkehrte, schien mir dies die Rückkehr in ein Land, das auf geheimnisvolle Weise mich von mir selbst erlöste.“

Haushofers Ich-Erzählerin hält sich zurück mit Reflexionen über ihr Leben, bevor die Wand gezogen wurde. Trotzdem finden sich in dem Roman dezente autobiografische Spuren. Von einer „schweren Last“ ist zum Beispiel die Rede, die für sie die Familiengründung mit Mann und zwei Kindern bedeutete, „und von da an war sie immer eingezwängt in eine beklemmende Fülle von Pflichten und Sorgen. (...), obendrein in einer Welt, die den Frauen feindlich gegenüberstand und ihnen fremd und unheimlich war.“

2012 wurde „Die Wand“ mit Martina Gedeck in der Hauptrolle verfilmt. Der Roman wurde bereits in den 80er Jahren von der Frauen- und der Friedensbewegung wiederentdeckt, und lässt sich tatsächlich vielfältig interpretieren. „Wer nur ‚Die Wand‘ kennt, ihr berühmtestes Werk“, so Daniela Strigl, „den wird das Bild der Autorin als still in der Provinz vor sich hin werkende Zahnarztsgattin und Mutter zweier Söhne befremden. Wer wiederum nur die übrigen Bücher der Haushofer gelesen hat, Dokumente einer beeng-ten Häuslichkeit, einer versklavten und sich auch selbst versklavenden Weiblichkeit, den mag die eigensinnige Stärke der realen Person überra-schen. Zwischen dem fantastischen Realismus der Wand und dem literarisch noch so sublimen Hausfrauenreport klafft jedenfalls eine Kluft.“

DAS PARADIES KINDHEIT

Vieles in den Büchern von Marlen Haushofer hat ihren Ursprung in ihrer Herkunft und Kindheit. Daniela Strigl hat dies in ihrer großartigen Biografie über Marlen Haushofer detailliert herausgearbeitet (worauf ich mich hier immer wieder beziehe). Geboren wurde Marlen Haushofer am 11. April 1920 unter dem Namen Marie Helene Frauendorfer als Tochter eines Försters und einer Kammer-zofe in Frauenstein, einem Ortsteil der oberösterreichischen Gemeinde Molln. Das Forsthaus am Effertsbach blieb für sie ihr Leben lang ein Be-zugspunkt. Es dient nicht nur als Schauplatz von Ferienerlebnissen in ihren Kinderbuchklassikern „Brav sein ist schwer“ und „Schlimm sein ist auch kein Vergnügen“.

Immer wieder wird in ihrem Werk die Kindheit als entschwundenes Paradies beschworen, das doch zugleich sinnlich höchst gegenwärtig ist. Daniela Strigl: „Nicht zufällig also erzählt Marlen Haushofer ihren autobiografischen Roman ‚Himmel, der nirgendwo endet‘ im Präsens. In ihm, gewiss einem der schönsten österreichischen Kindheitsbücher, unternimmt sie eine Verteidigung der Kindheit und der Kinder gegen die abge-stumpfte Welt der Erwachsenen, und das ohne alle Nostalgie: So heiter und poetisch Haushofer hier die Geschehnisse aus dem Blickwinkel ihres kindlichen Ich schildert, harmlos ist diese Geschichte nicht. Die Familienkonstellation wirkt in so manchem Text nach: der freundliche, gütige, aber jähzornige Vater, die streng katholische, energische, ehrgeizige Mutter, der jüngere Bruder, der das Mädchen von seinem angestammten Platz verdrängt. Marlen Haushofer blickt sehnsüchtig auf dieses Kind zurück, das sie war – oder glaubt, gewesen zu sein: ein Wildfang, ein Trotzkopf, ungebärdig und widerspenstig, ein Mädchen, das die Sphäre der Küche meidet und partout kein ‚Pflichtmensch‘ werden möchte wie seine Mut-ter und daher sicherheitshalber gleich lieber ein Mann. Stattdessen folgt das Schockerlebnis des Ursulineninternats in Linz, auf das sie mit Verstö-rung und Krankheit reagiert.“

Noch vor ihrer Matura wird Österreich „heim ins Reich“ geholt. Marlens Eltern gehören als Christlichsoziale nicht zu den Jublern, die Tochter fiebert nach acht Klosterjahren jedoch dem Abenteuer Reichsarbeitsdienst im fernen Ostpreußen entgegen. Den Mann, den sie dort kennen lernt, trifft sie später in Wien wieder, wo sie Germanistik studiert; die Verlobung endet mit einer Enttäuschung und einem Kind, das sie heimlich in Bayern zur Welt bringt und für einige Jahre bei der Mutter einer Freundin lässt. Der „Retter“ tritt sodann in der Gestalt des Medizinstudenten Haushofer auf, der die junge ledige Mutter zur Frau nimmt und ihr solcherart ein bürgerliches Leben auferlegt. Ein zweiter Sohn wird geboren, der Krieg geht zu Ende, die Familie lässt sich in Steyr nieder.

DÄMONIE UND IDYLLE

In der Zeit danach widmet sie sich zunehmend dem Schreiben. 1946 wurde ihre erste Kurzgeschichte in einer Zeitung veröffentlicht. Sporadisch beginnt sie, Wiener literarische Zirkel zu besuchen. Hermann Hakel, jüdischer Remigrant und Entdecker von Ingeborg Bachmann, wird ihr Mentor, Agent, Geliebter und Vertrauter, dem sie ihr Herz über die Provinz ausschütten kann. Daniela Strigl: „Die Faszination für das Ineinander von Dämonie und Idylle, zu der Marlen Haushofer sich ausdrücklich bekannt hat, bestimmte schon ihre ersten beiden Romane, die verschollen sind, weil Hans Weigel sie nicht goutierte: Wie andere Schützlinge Hakels war Haushofer zu Weigels Kreis im Café Raimund übergewechselt. Der eine Roman erzählte vom ungesühnten Mord einiger Frauen an einem Mann. Weigel fand das Buch großartig, aber unmoralisch.

Mordgelüste mögen Marlen Haushofer zu jener Zeit nicht fremd gewesen sein: Der frisch etablierte Zahnarzt Dr. Haushofer machte sich in Steyr als Damenfreund einen Namen. 1950 wurde ihre Ehe geschieden, der Scheidungsverlauf bestätigt Marlen Haushofers berüchtigte Passivität: Nicht sie klagte ursprünglich, sondern er, als Reaktion auf ihre angeblich unmäßige Eifersucht. Die Scheidung hatte keinerlei Konsequenzen, Marlen Haushofer konnte sich nicht dazu aufraffen, ihren Mann zu verlassen, sie versorgte weiterhin die Kinder wie den verhassten Haushalt und flüchtete von Zeit zu Zeit nach Wien. Die Scheidung hielt sie lange geheim, in Steyr traten die beiden weiterhin als Ehepaar auf. Marlen Haushofer litt an Depressionen, über die sie nur mit Hans Weigel offen sprach. Ihr Doppelleben in der Hauptstadt behan-delte sie äußerst diskret, eine ernsthafte Beziehung zum Schriftsteller Reinhard Federmann ging in die Brüche. Acht Jahre nach der Scheidung heiratete sie ihren Mann ein zweites Mal. – ‚Schreckliche Treue‘ heißt eine Erzählung Marlen Haushofers. Dieser reale Goldene Käfig bestimmt deutlich den Horizont ihrer Heldinnen.“

MÖGLICHE WEGE IN DIE UNABHÄNGIGKEIT?

„Eine Handvoll Leben“ (1955), ihr erster Roman, erzählt die Biografie einer Aussteigerin, ohne ein Happy End. Eine junge Frau täuscht ihren Tod vor, um von ihrer Familie fortzukommen. Nach Jahren gesellschaftlicher und häuslicher Fesseln will die junge Frau nun aus der Rolle der Ehefrau, Mutter und Geliebten ausbrechen: ein eigenes Leben aufbauen, statt ein fremdbestimmtes Doppelleben zu führen. Jahre später kehrt sie schließlich zurück in das Haus, das sie einst verließ, unerkannt vom eigenen Sohn, voll der Erinnerungen, aber ohne Reue. In diesem Roman verdichtet sie die unterschiedlichen Lebensent-würfe einer Frau, die sich für den Weg in die Unabhängigkeit entscheidet.

In „Die Tapetentür“ (1957) schildert Marlen Haushofer die scheiternde Beziehung der introvertierten Frau zu ihrem beruflich erfolgreichen, extro-vertierten, untreuen Ehemann. Annette, eine nach kurzer Ehe jung verwitwete Bibliothekarin, lebt allein und schätzt ihre Privatsphäre. Bisherige sexuelle Beziehungen zu Männern haben kaum emotionale Spuren hinterlassen. Die Abreise ihres aktuellen Freundes für eine halbes Jahr nach Paris sieht sie daher nur mit Erleichterung. Ihr Vater hat die Familie verlassen, als sie noch ein Kind war, und seither keinen Kontakt mehr zu ihr gesucht. Als er stirbt, lernt sie bei der Testamentseröffnung den Juristen Gregor Xanther kennen, der sie durch sein ihr komplett entgegengesetz-tes Naturell sowohl anzieht als auch verstört. Sie lässt sich auf eine Beziehung ein, wird von ihm schwanger und sie heiraten. Diese erste tiefere Liebeserfahrung reißt sie einerseits aus ihrer bisherigen Lethargie und vermittelt ihr erstmals ein Gefühl von Geborgenheit, zwingt sie aber ande-rerseits zur permanenten Verstellung, da der oberflächliche Gregor wenig Interesse an ihr zeigt. Annette gibt auf seinen Wunsch hin ihren Beruf auf, um ganz Hausfrau und Mutter zu sein. Er geht zunehmend fremd, sie verliert ein Kind und erleidet einen Nervenzusammenbruch. Sie möchte keine Belastung für Gregor sein und lässt ihn ziehen. Marlen Haushofer variiert hier weibliche Lebensgeschichte als Fallbeispiel einer (nicht bloß sexuellen) Hörigkeit: Eine emanzipierte Frau stürzt sich in das Abenteuer einer bedingungslosen Liebe und scheitert.

TÖTEN

In ihrer Meisternovelle „Wir töten Stella“ (1958) spult Marlen Haushofer das Geschehen mit der Zwangsläufigkeit einer griechischen Tragödie ab: Ein honoriger Anwalt verführt ein Mädchen, das in seinem Haus als Gast lebt, und treibt es in den Tod. Seine Frau sieht dem zu, ohne einen Finger zu rühren. „Ihre Untat ist ihre Untätigkeit, und so entsteht ein indirekter Bezug zur NS-Vergangenheit, direkte Bezüge gibt es bei Haushofer selten“ (so Daniela Strigl). „Man müsste sich angewöhnen, an den Menschen und Dingen vorbeizuschauen“ – doch Marlen Haushofer kann das nicht. Strigl: „Gerade weil sie den Anforderungen des bürgerlichen Lebens im Grunde nicht gewachsen ist, sieht sie es so scharf. Ihr Realismus ist unheimlich durch seinen doppelten Boden. Ihre Radikalität liegt nicht in der Form, sondern in jener subjektiven ‚Wahrheit‘, die sie rücksichtslos mitteilt.“

„Himmel, der nirgendwo endet“ (1966) beschreibt die Welt aus der Perspektive des kleinen Mädchens Meta und knüpft damit an ihre frühe Erzäh-lung „Das fünfte Jahr“ (1952) an. Marlen Haushofer nannte das Buch selbst „eine Autobiographie meiner Kindheit“. Beschrieben wird das Leben im väterlichen Forsthaus im Effertsbachtal am Fuße des oberösterreichischen Sengsengebirges (Gemeinde Molln), die dominante, katholisch-bigotte Mutter, die in ihrem Dienst am Haushalt das abschreckende Beispiel eines „Pflichtmenschen“ darstellt, der nachsichtige, aber jähzornige Vater, der Geschichten vom Feldzug in Russland erzählt, der kleine Bruder, der Meta aus der mütterlichen Aufmerksamkeit verdrängt, all das sind Facetten der Familie Frauendorfer.

Haushofer ergreift in diesem Buch die Partei der Kinder gegen die Erwachsenen, gegen ihr Abgestumpftsein und ihre schwer verständlichen Regeln. So werden „durch die heiteren Seiten des Kindseins hindurch“, so Daniela Strigl, „Konflikte und tiefenpsychologische Wahrheiten sichtbar. Der Roman zeigt das Abenteuer der Weltaneignung und wie sich die Lust, die Dinge zu begreifen und sich einzuverleiben, in die Lust verwandelt, schreibend Macht über sie zu gewinnen. Haushofer erzählt von häuslichen Verhältnissen im ländlichen Milieu der 1920er Jahre, vom Nervenkrieg mit der Mutter und der vertrauten Zweisamkeit mit dem Vater, von ersten Leseerlebnissen und vom geliebten Hund Schlankl, mit dem es ein böses Ende nimmt, von sommerlichen Verwandtenbesuchen, von Identifikationsfiguren und Schreckensgestalten und von der großen Zäsur, die der Auszug aus dem Forsthaus und der Eintritt ins katholische Internat der nahen Stadt für die Zehnjährige bedeuten.“ Marlen Haushofer verzichtet darin auf durchgehende Handlung, sondern setzt locker chronologisch angeordnete Episoden, so dass der Text eher einem Bericht gleicht.

Ihr letztes Buch, „Die Mansarde“ (1969), einen bösartig witzigen, souverän lakonischen Eheroman, schrieb Marlen Haushofer schon schwer krank. Er „enthält die Summe ihrer beklemmenden Kunst“ (Daniela Strigl). Eine klaustrophobische Situation wird geschildert, ein tödlicher Stillstand auf allen Linien, ein müdes Arrangement mit dem Gegebenen – und doch deutet sich für die Ich-Erzählerin die Möglichkeit an, zumindest in der Mansarde des bürgerlichen Hauses einen Freiraum des (Selbst-)Schöpferischen behaupten zu können.

Neben der Rolle der Hausfrau in den 60er Jahren befasst sich der Roman auch mit dem Thema der Vergangenheitsbewältigung und lässt sich durchaus als Inszenierung von kollektiver Amnesie und kulturellem Gedächtnis interpretieren. Jedes Werktagskapitel endet mit der Verbrennung der an diesem Tag zugesandten Tagebuchaufzeichnungen. Die darin beschriebene Zeit in der Waldeinsamkeit stellt eine traumatische Episode im Leben der Erzählerin dar – zu einer Aufarbeitung dieses Traumas ist sie jedoch nicht bereit. Die Verdrängung des privaten Traumas spiegelt sich auf kollektiver Ebene in der Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg. Verunsicherung und Überforderung bringen sie dazu, die Verdrängung als einzige Option zu sehen. Statt die Vergangenheit aufzuarbeiten, verwendet sie alle Kraft zur Wiederherstellung des Status quo. Das Stillschweigen und das Verdrängen als Verhaltensmaxime verhindert jede Hoffnung auf Verhaltensän-derung.

Am 21. März 1970 starb Marlen Haushofer, die an Knochenkrebs erkrankt war, nach einer Opera-tion in einer Wiener Klinik drei Wochen vor ihrem 50. Geburtstag.

Foto: (c) Manfred Haushofer