Mechtel, Angelika - Das gläserne Paradies

Mechtel, Angelika - Das gläserne Paradies

Veröffentlicht am 13.01.2025

Ein Familienroman.

Der Roman „Das gläserne Paradies“ beginnt ganz beschaulich mit der Geburtstagsfeier von Amelie – Mutter, Großmutter und die heimliche Protagonistin des Romans. Reihum lernt man an der Tafel im Speisesaal eines noblen Hotels die handelnden Personen der kommenden 400 Seiten kennen – ein gelungenes Setup.

Auf den ersten Blick glaubt man in einer heilen, gutbürgerlichen Familienwelt gelandet zu sein, personifiziert in Amelie, der der Schein und der Anschein der heilen Welt wichtiger als alles andere ist. Scheibchenweise wird diese Welt in der weiteren Handlung auseinandergenommen. Mit kurzen, lakonischen Sätzen erfährt man fast nebenbei, was die handelnden Personen lieber verschweigen und vergessen würden. Sei es die SA-Vergangenheit des mittlerweile rehabilitierten Professors und Ehemanns von Amelie oder Amelies BDM-Mitgliedschaft. Sie ist lieber stolz drauf, die Mutter zweier Söhne zu sein.

Die beiden Söhne, Friedrich jun. und Michael, sind die zentralen Protagonisten des Romans. Anhand ihrer beiden Lebensgeschichten verhandelt die Autorin den Klassenkampf der frühen 1970er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland. Sohn Friedlich wird mit „kleiner“ Unterstützung eines Freundes der Familie ein erfolgreicher Unternehmer, man möchte fast sagen: der Turbokapitalist schlechthin. Sein gesamter beruflicher Erfolg beruht darauf, marode Firmen aufzukaufen und mittels harter Rationalisierungsmaßnahmen zu sanieren. Diese Maßnahmen bestehen hauptsächlich darin, ältere Arbeiter und Angestellte (ältere heißt hier über 45 Jahre!) zu kündigen. Dabei ist er vollständig überzeugt von seiner Rechtschaffenheit und zeigt kein bisschen Empathie für jene, die wenig(er) Glück im Leben haben. Einer dieser Glücklosen ist sein Bruder Michael. Er scheitert mit seiner kleinen Druckerei und muss in ein Angestelltenverhältnis, um seiner Vorstellung als Ernährer der Familie gerecht zu werden. Dabei gerät er auch mit seinem Bruder in einen ausgeprägten Streit – Details dazu sollten unbedingt selbst gelesen werden.

Rund um die Familie platziert die Autorin eine Reihe spannender Nebenfiguren, die das Thema des Romans hervorragend unterstreichen. Wie etwa Onkel Egon, angesehener Arzt mit einer absurden Liebe zu Schrumpfköpfen und einem Hang zu sexuellen Übergriffen. Oder Dr. Hartmann, der Politiker, der genau „versteht“, wie er mit den ihn fütternden Händen umzugehen hat. Oder Mater Ambrosia, die Tante und Nonne, die mit ihrem sozialen Engagement den Kontrast zum gutbürgerlichen Leben der restlichen Familie setzt. Oder Brigitte, die Frau von Michael, die zwischen traditioneller Frauenrolle und Emanzipation hin und her schwankt. Oder Tante Olga, die Frau von Egon, die sich und andere mit ihrem Kulturzirkel von der Leere des gutbürgerlichen Lebens und den Missetaten der Vergangenheit ablenkt.

Angelika Mechtel schafft es meisterlich, die Brutalität des Kapitalismus, die Inhaltsleere von jenen, die alles haben, und die Glücklosigkeit von jenen, die nicht alles haben, in die zwischenmenschlichen und interfamiliären Beziehungen einzuflechten. Das Buch erschien erstmalig im Jahr 1973 und wurde im Rahmen der „rororo-Entdeckungen“ neu aufgelegt, ergänzt um ein informatives Nachwort von Nicole Seifert zur Entstehungsgeschichte des Romans und dem Wirken von Angelika Mechtel.
Julia Stroj

Mechtel, Angelika - Das gläserne Paradies
Roman. Hamburg: Rowohlt 2024. 443 S. - kt. : € 15,95 (DR) ISBN 978-3-499-01628-8

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