Meyer, Clemens - Die Projektoren
Veröffentlicht am 16.10.2024
Ein umfassendes Kriegsepos, das Krieg, Gewalt und Verrohung mit dem Kino verbindet.
In den 1960er Jahren wurden im Velebit, einem einzigartigen kroatischen Gebirgszug nahe der adriatischen Küste (auf Höhe von Zadar), die berühmten, erfolgreichen Karl-May-Filme mit Pierre Brice und Lex Barker als Winnetou und Old Shatterhand gedreht. Dort, wo im Zweiten Weltkrieg die faschistischen Ustascha als Vertreter der deutschen Eroberer und Mörder wüteten, kamen die Deutschen 20 Jahre später, diesmal jedoch mit Platzpatronen und Film-Pistolen. Und 30 Jahre später standen sich auch dort nach dem Zerfall Jugoslawiens Kroaten und Serben als unbarmherzige Kriegsgegner gegenüber, geschahen in den einstigen Filmkulissen grausame Massaker.
Clemens Meyer verschränkt in seinem nicht nur umfänglich großen Roman neben den verschiedenen Zeitebenen auch kunstvoll die Welten des Films (des Kintopp, wie der Film früher genannt wurde) mit den politischen Wirklichkeiten. Immer wieder bricht die Vergangenheit durch wie ein übergangenes Trauma, drängt sich die Gewalt und deren fehlende Aufarbeitung den Protagonisten auf. Schauplätze des Romans sind mitunter auch ein „Bioskop“ in Zagreb (so wird dort das Kino genannt) oder eine Nervenheilanstalt in Leipzig, den selbsternannten Dr. May als Patienten beherbergend, einen merkwürdigen Irren, der von den Ärzten „Fragmentarist“ genannt wird und der unter anderem die Zukunft vorausahnen kann.
Unzählige handelnde Personen begegnen einem in den kunstvoll ineinander verwobenen Gegebenheiten und Konflikten, vom jugoslawischen Monarchisten bis zum Neonazi. Weitgehend durch die Handlungsstränge führt auch ein Fremder, der plötzlich im Velebit auftaucht, genannt der Cowboy, da er wie John Wayne ein Tuch um den Hals trägt, der in einer Hütte eines etwas durchgedrehten Schäfers wohnt. Der Cowboy ist ein von den jeweiligen Umständen stets Getriebener: Ein mutiger Meldegänger bei den Tito-Partisanen, angeblicher Verräter an der Idee des Sozialismus, ein unglücklich Liebender und meist abwesender Vater, ein Kinofan und auch Autor von Groschenromanen. Am Lagerfeuer bei den Plitvicer Seen dolmetscht er zwischen den jugoslawischen Indianern, ihrem französischen Häuptling und seinem Blutbruder aus Hollywood (Lex Barker, immer LEX geschrieben, tritt auf als mythische Figur, als ewig edler Krieger). Später kehrt dieser Cowboy als Offizier im jugoslawischen Bruderkrieg an den einstigen Drehort zurück.
Es ist ein umfassendes Kriegsepos ohne Schlachtbeschreibungen. Clemens Meyer erzählt auf über 1000 Seiten von Krieg, Gewalt und Verrohung, von alten und neuen Nazis, von Utopien, Hoffnungen und Fantasien, von Scheinwelten und politischer Historie und Gegenwart, alles miteinander virtuos verbunden durch das Kino und die Verfilmungen der Romane von Karl May. „Die Projektoren“ sind ein außergewöhnlicher meisterhafter Roman.
Franz Buchgraber
Meyer, Clemens - Die Projektoren
Roman. Frankfurt: S. Fischer 2024. 1056 S. - fest geb. : € 37,95 (DR) ISBN 978-3-10-002246-2