Miljenko Jergović - „Niemand von uns hier hat nur eine Identität“

Veröffentlicht am 27.09.2022
Ein Porträt des bosnischen Autors. Von Peter Klein.
„Miljenko Jergović ist ein streitbarer Humanist und ein präziser Chronist gesellschaftlicher Konfliktlinien, so Benedikt Föger, Verleger und Präsident des Hauptverbands des Österreichischen Buchhandels zur Verleihung des Ehrenpreises des Österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln an den Bosnier kroatischer Muttersprache. „Miljenko Jergović scheut sich in seinen preisgekrönten Reportagen und Essays nicht, den Finger in die Wunden der europäischen Gesellschaft und Geschichte zu legen. In seiner Prosa widersetzt er sich bewusst allen politischen Einflüssen und lässt sich durch keine Form des Nationalismus vereinnahmen. Er widersteht damit auch allen Versuchen, die Vergangenheit ruhen zu lassen“, so die Erklärung der Jury.
Miljenko Jergović ist nicht nur ein außergewöhnlicher Erzähler der Irrungen und Wirrungen im ehemaligen Jugoslawien, sondern auch einer der streitbarsten Publizisten Kroatiens. Der aus Sarajevo stammende Autor floh 1993 während der Belagerung aus seiner Heimatstadt und ist in all seinen Büchern ein Chronist, der den Weg des Vielvölkerstaats in die blutigen Bruderkriege nachzeichnet. Er zeigt dabei nicht nur, was alles verloren ging, sondern auch, was zuvor schon schiefgelaufen ist und zu Wut und schließlich zur Gewalt führte.
Die ersten Zeitungsartikel von ihm erschienen Ende der 1980er Jahre. Neben der journalistischen Arbeit begann er, Gedichte zu schreiben. Für seine ersten Gedichtsammlungen (seit 1988) bekam er einige Poesiepreise. Er war Redakteur beim Fernsehen und berichtete für die Zagreber Wochenzeitung „Nedeljna Dalmacija“ aus dem seit dem 5. April 1992 von der Jugoslawischen Volksarmee belagerten Sarajevo, das er 1993 verließ. Seitdem ist er in Zagreb als politischer Kolumnist für verschiedene kroatische und internationale Zeitungen tätig. Er ist Mitbegründer der „Group 99“.
Sarajevo Marlboro
Im Jahr nach seiner Ankunft in Zagreb erhielt er 1994 für seinen ersten Erzählungsband „Sarajevo Marlboro“ den kroatischen Nationalpreis. Der Band besteht aus drei Teilen, nämlich dem Prolog „Unumgängliches Detail der Biografie“, dem Hauptteil „Rekonstruktion der Ereignisse“ und dem Epilog „Who will be the witness.“ Der Erzähler erinnert sich an einen Busausflug als Kleinkind nach Jajce. Während der Fahrt werden die Businsassen Zeugen eines tödlichen Verkehrsunfalls. Die Fahrt wird fortgesetzt, als ob nichts gewesen wäre. Im Hauptteil wird kleineren Ereignissen im Vorfeld und während des Bosnienkrieges Aufmerksamkeit geschenkt. So erinnert sich der Erzähler an einen Ausflug nach Hvar 1990. Danach trauert er während des Krieges um seinen eingegangenen Kaktus und einen VW-Käfer, auch wenn es ihm schwerfällt, um Menschen zu trauern. Hinzu kommen Erinnerungen an seine 1986 während der Fußballweltmeisterschaft 1986 verstorbene Großmutter, deren Grabstein irrtümlicherweise auf 1996 vordatiert worden war. Der Buchtitel kommt schließlich daher, dass die bosnische Marlboro angeblich dem dortigen Rauchergeschmack angepasst wurde. Im Epilog wird darüber reflektiert, wie es sich anfühlt, wenn eine Privatbibliothek in Flammen aufgeht und dass Bücher in Privatbibliotheken zum größten Teil nicht gelesen werden. Jergovićs Helden sind die kleinen Leute, beschädigt und zerstört von den Schrecken des Krieges, der ihren Alltag und das Zusammenleben im Vielvölkerstaat völlig aus den Fugen hebt. Die einfachen Dinge des täglichen Lebens spiegeln die große Tragödie im Kleinen und lassen Schrecken und Verzweiflung unmittelbar spürbar werden.
In seinem Erzählband „Karivani“ (1995) erzählt er in lose verknüpften Geschichten knapp und lakonisch vom Leben in Bosnien – von den Eroberungen durch die Türken, über die Präsenz der Österreicher bis herauf zum jüngsten grausamen Krieg. Die Geschichten handeln von Akrep, der zur Legende wurde, weil er einen Skorpion durch das Dorf getragen hatte und mit dem schrecklichen Safet, dem Türkenbesatzer, ein einziges Mal gesprochen hatte; von Dado, dessen Hundemännchen nach seiner ehemaligen Geliebten Majda benannt war und von dem er durch den Krieg getrennt wurde, oder von Josip, dem Niemand, der weder Serbe, noch Muslim, auch nicht Kroate ist, da nicht getauft. Jergović verwebt Legenden mit historischen Fakten, indem er sie konkret an den Personen festmacht. Die Erzählungen von Mama Leone (1999) wurden im Schatten der Jugoslawienkriege geschrieben, sind jedoch nie von ihnen verdunkelt. Die in einem Zyklus miteinander verbundenen Geschichten führen die Leser aus einer Welt frühreifer Kindheitswunder und urkomischer Erfindungen, in der die Verführung durch eine gut erzählte Lüge mehr wert ist als tausend Wahrheiten, hinaus in Welten, die von der Unpracht des Erwachsenwerdens dominiert sind. Er schreibt dabei wunderbarerweise aus der Kinderperspektive, aber ohne diesen Blick zu infantilisieren. Letztlich geht es um das Ende einer Kindheit und ein vom Krieg zerstörtes Beziehungsgefüge.
Buick Rivera
In Buick Rivera (2002) kann der Bosnier Hasan Hujdur eigentlich mit seiner Existenz zufrieden sein. Vor etlichen Jahren den politischen Auseinandersetzungen in Jugoslawien entflohen, hat er sich in Toledo, Oregon niedergelassen und vertreibt sich seine Zeit mit Pool-Billard. Während alle Träume von einer Hollywood-Karriere längst zerstoben sind und seine Ehe bereits Abnutzungserscheinungen zeigt, bleibt große Liebe, sein wertvollster Besitz: der Buick Rivera, Baujahr 1963. Als Hasan mit seinem Wagen in einer Winternacht im verschneiten Straßengraben landet, kommt ihm ausgerechnet ein Landsmann, der Serbe Vuko Šalipur, zu Hilfe, der soeben seine reiche Frau mit 15.000 Dollar in der Tasche verlassen hat.
Vuko findet Gefallen an dem alten Buick, gerade, weil er herausfindet, dass Hasan den Wagen abgöttisch liebt und bietet ihm eben die 15.000 Dollar für den Wagen. Schweren Herzens lässt sich Hasan auf das Geschäft ein. Vuko, der inzwischen den Schlüssel für seinen eigenen Geländewagen in einer Kurzschlussreaktion weggeworfen hat, findet heraus, dass der Buick keine Standheizung besitzt, so dass er nicht in dem Wagen übernachten kann. Er gerät darüber innerlich in Wut auf Hasan. Nach einem Unwetter in Toledo ist dieser spurlos verschwunden, Vuko setzt das Gerücht in die Welt, er habe sich in Afghanistan den Taliban angeschlossen und wird mit der Meldung reich und berühmt. Am Ende wird Toledo als verwahrloster Ort beschrieben und erwähnt, dass der Buick immer noch im Straßengraben liegt.
Das Walnusshaus
In „Das Walnusshaus“ (eigentlich lautet der Titel übersetzt: „Walnussgerichte“) erhält der Holzschnitzer August Liscar im Jahr 1905 einen ungewöhnlichen Auftrag: Er soll ein passendes Spielzeug für das ungeborene Enkelkind eines Mannes aus Dubrovnik anfertigen. Eine schwierige Aufgabe: Aus Walnussholz fertigt er also das verkleinerte Abbild des Hauses der Familie seines Auftraggebers, samt Einrichtung und Bewohnern. Ein großartiges Geschenk für die kleine Regina. So endet das Buch. Der Beginn der Geschichte spielt in der Gegenwart, auf einer Polizeistation, wo sich eine gelangweilte Beamtin mit den ungewöhnlichen Umständen des Todes der verrückten Manda konfrontiert sieht, die eben jene 1905 geborene Regina Sikiric ist. Und um das Leben dieser Regina, 1905 in Dubrovnik geboren und 2002 dort gestorben, und um ihre Familie ranken sich solcherart Geschichten, die über ein Jahrhundert das wechselvolle Schicksal der Region, von der dalmatinischen Küste bis ins bosnische Sarajevo, beschreiben.
Dies alles wird in dem Roman in einer umgekehrten Chronologie des Lebens dieser Frau, die im Alter von 97 Jahren in Dubrovnik starb, erzählt. Anhand ihrer Geschichte und der Geschichte ihrer Familie wird ein intimer Blick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts rekonstruiert, genauer gesagt auf die Ära, die 1878 mit der österreichisch-ungarischen Besetzung Bosnien-Herzegowinas und mit den Kriegen des 18. Jahrhunderts begann endete 1990er. Die Geschichte spielt in Dubrovnik, Sarajevo, Trebinje, Paris, wo Familie und historische Logik die Familien Sikirić und Delavale leiteten.
Es sind hundert Jahre Balkan, auf 600 Seiten im Zeitraffer vor und zurück eingefangen – dabei kommt man natürlich nicht ohne die Schrecken von Krieg und Zerstörung aus. Und so sind es immer nur Atempausen, in denen es friedlich zugeht. Liebe flackert da nur heftig auf und verlöscht sofort wieder. Die Helden leben nicht lange und erleiden meistens einen grausigen Tod. Langlebig sind nur die alten Frauen. Die erzählerische Suada von Miljenko Jergović ist von überbordender Kraft, bilderreich und sehr oft überaus komisch und auch sarkastisch. Partisanen, Ustascha, Spione, Kommunisten, Mörder, Opportunisten und Titos Getreue – am Ende sind fast alle tot, im Irrenhaus oder sie flüchteten sich in den Alkohol. Bloß das hölzerne Mädchen, das der alte Schnitzer vor das Walnusshaus gestellt hat, scheint glücklich zu sein.
Ruth Tannenbaum
In seinem großen Roman „Ruta Tannenbaum“ (2006, „Ruth Tannenbaum“) zeichnet Jergović ein Angstpanorama voller grotesker, blutiger und absurder Szenen. Sympathisch ist in hier niemand, nicht einmal die titelgebende Hauptperson mit ihren riesigen Augen, ein Kinderstar, der seine jüdische Identität verleugnet. Ruth Tannenbaum, mit etwa acht Jahren als „kroatische Shirley Temple„ entdeckt, feiert große Erfolge auf den kroatischen Bühnen. Es stört sie nicht, für ihre triumphalen Auftritte im eben ans Deutsche Reich angeschlossenen Wien den Namen „Christine Horvath“ annehmen zu müssen, weil Tannenbaum zu jüdisch klingt. Deutsche Kritiker loben gleich die „geistig starke“ Persönlichkeit Horvaths, sie sei „der Fels ihres kroatischen Stammes“. Tatsächlich leidet wie alle ihre Stammesgenossen unter Angst und Minderwertigkeitsgefühlen. Bei der kleinsten Gelegenheit erschlagen die Ustascha Serben, Roma, Juden. Aus Furcht will Ruths Großvater Abraham Singer daher nicht, dass seine Enkelin Sarah oder Rahel heißt. Und Ruths Vater Salomon, auch „Angsthasen-Moni“ genannt, fürchtet nichts mehr als Jude zu sein, weshalb er sich bei jeder Gelegenheit von ihnen distanziert. Das macht sich sein Nachbar Radoslav zunutze. Er überzeugt Salomon, Ruth einmal in der Woche seiner Ehefrau Amalija zu überlassen. Ruths Mutter Ivka beunruhigt der Vorschlag, denn Amalija ist nach dem Tod ihres Sohnes dem Wahnsinn nahe. Salomon überredet seine Frau mit dem Argument, sie als Juden könnten in Zukunft die Hilfe der christlichen Nachbarn brauchen. Amalija, die die Tannenbaums als Kreuziger von Jesus verachtet, liebt Ruth bald stärker als ihren verstorbenen Sohn – eine Sünde, die in der gläubigen Christin neue Ängste wachsen lässt.
Als 1941 die Wehrmacht Kroatien besetzt und die Macht der Ustascha übergibt, katzbuckelt Salomon Tannenbaum erst recht vor dem Nachbarn, zumal Radoslav die Bewährungsprobe als Mörder im KZ Jasenovac glänzend bestanden hat und die Uniform der neuen Herren trägt. Und noch während Salomon von einem Ustascha-Schergen auf der Straße totgeschlagen wird, fürchtet er noch, dass ihn Passanten als Juden erkennen könnten. Auf solch grausige Szenen läuft der Roman voller Vorahnungen und ihren höchst beredten Verleugnungen zu. Jergović hat sich dabei an das historische Schicksal des Kinderstars Lea Deutsch angelehnt.
Dieser grandiose Roman über eins der finstersten Kapitel nicht nur der jugoslawischen Geschichte brachte Jergović den geballte Hass derjenigen ein, die von literarischer Aufklärung über den kroatischen Antisemitismus nichts hören wollten. Als er im selben Jahr für den Islam als eine der angestammten balkanischen Religionen eintrat, geriet er erneut unter Beschuss, selbst der ehemalige Vizepräsident des kroatischen PEN griff ihn öffentlich an. Am 16. April 2007 trat er aus dem kroatischen Schriftstellerverband mit der Begründung aus, dass seine Mitgliedschaft im Gegensatz zu seiner Haltung und seinem Verhältnis zur kroatischen Literatur und Literatur insgesamt stehe. Jahre später, nachdem der von ihm mitbegründete Schriftstellerverband Bosnien-Herzegowinas am 5. Mai 2020 einen Protestbrief gegen die am 16. Mai 2020 stattfindende Gedenkmesse in der Herz-Jesu-Kathedrale (Sarajevo) für die Opfer des Massakers von Bleiburg veröffentlichte, trat er auch aus diesem Schriftstellerverband aus. Er verurteilte die Verharmlosung des Unabhängigen Staats Kroatien durch die Messe selbst, wie auch die Passivität des Schriftstellerverbands bei den zuvor stattfindenden Straßennamensnennungen von Ustascha-Mitlangern in Sarajevo.
Freelander
In „Freelander“ (2007) erhält der pensionierte Gymnasiallehrer für Geschichte Karlo Adum ein Telegramm, das ihn zu einer Testamentseröffnung in seine Geburtsstadt Sarajevo zitiert. Widerwillig und eigens mit einer Pistole bewaffnet, verlässt er Zagreb und begibt sich auf eine abenteuerliche Reise. Je näher er in seinem alten Volvo dem Ziel seiner Reise kommt, desto mehr Erinnerungen steigen in ihm auf. Etwa an seine hübsche, grausame „Mama Cica“, die gern mit deutschen und italienischen Offizieren flirtete, an den verrückt gewordenen Vater, an die von der Ustascha erhängten Kommunisten vor der Kathedrale, an die Fahrt zum Meer in einem Bus mit geistig behinderten Kindern und an seine eigenen Verfehlungen in einer Welt voller nationaler Auseindersetzunen. Der Roman ist zugleich eine Road Novel, ein Bildungsroman und ein Melodram. „Freelander“ ist ein Roman über die vergehende Zeit, ein Buch der Angst, des Zorns und vor allem eines der Trauer. Es ist ein literarisches Geschichtsbuch, das im Blick zurück auch von verpassten individuellen wie gesellschaftlichen Anschlüssen an heute erzählt.
Nach „Buick Rivera“ und „Freelander“ schickt er in seinem neuen Roman „Volga, Volga“ (2009, „Wolga, Wolga“) wieder einen einsamen Helden auf die Reise. So entsteht eine Geschichte, die das Schicksal eines Mannes in zahlreichen Rückblenden mit der politisch-historischen Vergangenheit des ehemaligen Jugoslawiens verbindet. Während des Kommunismus der 70er Jahre sucht der vom Leben gestrafte Dzelal Pljevljak im islamischen Glauben Trost und fährt regelmäßig mit seinem schwarzen Wolga von Split an der dalmatischen Küste nach Livno ins benachbarte Bosnien-Herzegowina, um in der Moschee zu beten. Durch die Begegnung mit einer ebenfalls muslimischen Familie beginnt seine Einsamkeit in einem Land voller Bespitzelung und Verrat gerade zu schwinden, da nimmt die Geschichte auf einer dieser Fahrten plötzlich eine tragische Wendung. Spät erst erfährt man, dass Dzelal im Gefängnis sitzt, weil er mit dem Wolga in der Silvesternacht eine Familie totgefahren hat. Betrunken. Ausgerechnet er, der sein ganzes Dienstleben lang den Freitag freigenommen hat, um zur Moschee zu fahren. Der Unfall löst im Land eine Debatte aus über Alkohol und Religion, welches von beidem nun schädlicher ist, und ob Fanatismus oder Rausch Unfallursache waren. Der Roman mischt Erinnerung, Unfallbericht und auch Verdrängung.
In „Vater“ (2015) taucht Jergović nun in die Abgründe seiner eigenen Familiengeschichte ein und gibt gleichzeitig Einblicke in die verworrene und hassdurchzogene Geschichte Jugoslawiens. Am Beginn steht die Nachricht vom Tod seines ihm nahezu unbekannten Vaters, eines angesehenen Arztes, der sich (ungeachtet der ethnischen Zugehörigkeit) aufopfernd für jeden Patienten eingesetzt hatte. Damals keine Selbstverständlichkeit, zumal dem Vater selbst einst von der eigenen Mutter dringend benötigte Hilfe schlicht verweigert wurde. Sie war nämlich während des Zweiten Weltkriegs fanatische Ustascha-Anhängerin und er hatte für Titos Partisanen die faschistische Ustascha bekämpft. Für die Mutter war das derart unverzeihlich, dass sie sich ihres Sohnes, als der später an Typhus erkrankte, eben nicht annahm. „Vater“ ist sowohl berührendes Dokument persönlicher Erinnerungen als auch dringliches Plädoyer für Toleranz und Verständigung zwischen verfeindeten Lagern.
Die unerhörte Geschichte meiner Familie
„Weil in jeder Familiengeschichte alles Wichtige der Weltgeschichte steckt“, hat Miljenko Jergović sich in „Rod“ (2013, „Die unerhörte Geschichte meiner Familie“) auf die Spuren seiner Familie begeben. Als seine Mutter, zu der er kein einfaches Verhältnis hat, im Sterben liegt, reist er nach Sarajevo und bringt sie zum Erzählen über die Vorfahren. Dort, wo jede Straße ihn in die Vergangenheit seiner traumatisierten Heimat führt, setzt er sich in einem schmerzlichen Prozess mit ihrem Erbe auseinander. Sie waren Kinder des einstigen Habsburgerreichs, als Eisenbahner Zugereiste und jeder Krieg stellte ihre Identitäten und Loyalitäten neu auf die Probe. Fakten mit Fiktion vermischend und in konzentrischen Kreisen erzählend, zeigt Jergović in diesem großen Weltentwurf, was das Leben in einem Vielvölkerstaat für den Einzelnen bedeutet, vor allem wenn er nicht zur Mehrheit gehört, sondern zu den „Anderen“.
Das Buch besteht aus Erzählungen, Dokumenten, Skizzen, Fragmenten, in denen sich fiktive und nicht-fiktionale Teile abwechseln und Reales und Imaginiertes vermischen. Mit vielen autobiografischen Elementen schreibt Jergović hier eine Saga über die Familie seines Urgroßvaters Karel Stubler. Karlo Stübler, ein Donauschwabe, geboren in Bosovice im rumänischen Banat, war von Beruf Eisenbahner und verbrachte sein Leben in Bosnien. Seine Töchter heirateten in Bosnien, sein Sohn studierte in Wien und Graz. In seinem Haus wurde Deutsch gesprochen, außerhalb des Hauses Serbokroatisch. Das Land, mit dem er nach Bosnien kam, hieß Österreich-Ungarn, aber er lebte den größten Teil seines Lebens in Jugoslawien. Sein Enkel starb 1943 als deutscher Soldat in Slawonien. Zwei Jahre später holten die Partisanen Karl Stübler ab, um ihn in ein Lager für Angehörige der deutschen Volksgruppe in Jugoslawien zu bringen, aus dem er nach Deutschland deportiert werden sollte. Er wird von seinen Nachbarn gerettet, die er während des Krieges beschützt und in seinem Haus versteckt hat. Der große Roman verfolgt die Geschichten von Karls Kindern und Enkelkindern bis zum Tod seiner letzten Enkelin, die in Sarajevo lebte, und durchbricht die Familienlinie.
In „Herkul“ (2019, „Der rote Jaguar“) warnt Jergović vor den Gefahren alter Konflikte auf dem Balkan. Dabei beschreibt er auch eine mögliche Zukunft, die erschreckend real scheint. Die Wege zweier Männer kreuzen sich dabei auf dem Balkan. Der titelgebende Jaguar (darin sitzen Zoran und seine Frau Borka) fährt auf einer kroatischen Küstenstraße. In einem ehemaligen Urlaubsort erfasst das Auto Herkul, den geliebten Sohn des Bürgerkriegsgenerals Ante Gavran, genannt Ćumur. Dieser „Held“ des Jugoslawienkriegs ist so skrupellos wie chauvinistisch, Emporkömmling des Krieges. Voller Stolz verhilft er weiterhin dem faschistischen Erbe der Ustascha mit Gewalt zur Geltung. Der Unfall wird, angeheizt durch im Internet verbreitete Fake-News, zum Anlass für antiserbische Pogrome, die von offizieller Seite als „unliebsame Vorfälle“ abgetan werden, denn der Ruf Kroatiens soll keinen Schaden nehmen. Die Regierung will die Situation für sich nutzen. Der Furor des Nationalismus bricht sich Bahn, Menschen rotten sich zusammen, um ihre Mitbürger zu ermorden. Das Buch ist eine mörderische, warnende Satire gegen alle, insbesondere gegen Nationalismus und lokalen Faschismus. Es ist ein kurzer Roman über die Gefahr allen Fanatismus und der allzu leichten Verwendung großer Worte.
2016 erschien sein Roman „Wilimowski“ auf Polnisch. Anlass war der 100. Geburtstag des Dribbelkünstlers Ernst Willimowski, der nach der Torausbeute pro Spiel der effektivste Stürmer sowohl der polnischen als auch der deutschen Nationalmannschaft war.
In einem kürzlichen Interview meinte Jergović, dass „niemand von uns hier nur eine Identität“ hätte. Denn: „Nehmen Sie meine Familiengeschichte: Einer meiner Urgroßväter war ein Banater Schwabe, der in Sarajevo Beamter bei der Eisenbahn wurde. Ein anderer Urgroßvater, ein Schmied, stammte aus Slowenien und fand Arbeit bei den Metallarbeiten am Dom von Sarajevo. Der dritte stammte aus Kroatien und arbeitete in Sarajevo bei der Post, der vierte war aus Ungarn nach Bosnien gekommen. Sie alle aber hätten einander nie kennengelernt, hätte nicht der österreichische Kaiser Franz Joseph I. ein imperiales Bedürfnis verspürt und mit seiner Armee Bosnien-Herzegowina besetzt. Das ist wichtig. Auf diese Weise, nach dieser Logik, bin ich selbst auch ein Zagreber.“
Foto: (c) Miodrag Trajkovic