Monika Helfer - Man wird immer besser

Veröffentlicht am 18.03.2021
Von Brigitte Winter
„Man fühlt sich wohl, wenn man schreibt. Es ist eine eigene Welt“, so Monika Helfer in einem Interview. Sie will und muss „schreiben, bis ich umfalle“. Nach eigenen Angaben begann sie mit elf Jahren zu schreiben: „Damals starb meine Mutter, ein absoluter Schock. Ich schrieb kleine Zettelchen, das war mein Trost, meine Rettung“.
Ihr Debüt „Eigentlich bin ich im Schnee geboren“ erschien 1977, seither hat Helfer zahlreiche Romane, Erzählungen, Theaterstücke und Kinderbücher veröffentlicht und damit mehr kleinere als größere Erfolge gefeiert. Im Vorjahr ist ihr dann ein internationaler Bestseller mit ihrem Buch „Die Bagage“ gelungen. „Schreiben ist ein Handwerk“, meinte sie einmal, „man wird immer besser.“
Geboren wurde Monika Helfer am 18. Oktober 1947 in Au im Bregenzerwald und wuchs in einem Kriegsversehrtenheim bei Bludenz auf, wo ihr Vater, der im Krieg ein Bein verloren hatte, als Verwalter arbeitete.
In einem Interview mit der „Wiener Zeitung“ erzählte sie davon: „Aufgewachsen sind wir auf der Tschengla, das ist eine Parzelle oberhalb von der Gemeinde Bürsenberg, in der Nähe von Bludenz. Mein Vater arbeitete als Verwalter in einem Erholungsheim für Kriegsversehrte. Da er selbst kriegsversehrt war, bekam er diesen Job. Wir wohnten auch in diesem riesigen Haus und fühlten uns wie die Fürstenkinder. Obwohl meine Mutter oft krank war, hatten wir es wahnsinnig schön. Damals gab es in dieser Gegend noch keinen Fremdenverkehr, nur ein paar Bauernhöfe und eben dieses Heim. Im Winter sind wir mit den Skiern, und sonst zu Fuß in die Schule gegangen. Wir hatten einen langen Schulweg - mindestens zwei Stunden, aufwärts um einiges länger. Selten durften wir mit der Seilbahn fahren, die war nämlich nur für die Urlaubsgäste vorgesehen.“
Schließlich verlor sie ihr Zuhause, die Kinder wurden in der Verwandtschaft aufgeteilt. Sie kam mit ihren Schwestern zu einer Tante nach Bregenz. Sie habe sich verlassen gefühlt, sagt Helfer, obwohl sie oft mit sechs anderen Kindern und Erwachsenen in einem einzigen Zimmer wohnte, wo es stickig war und eng. Es gibt zwei Dinge, die sie seither mit Sicherheit weiß: „Jeder braucht ein eigenes Zimmer, wo er tun kann, was er will.“
Sie glaubt, dass ihr Interesse oder ihre Zuneigung für Kinder aus dieser Zeit stammt, als sie und ihre Schwestern plötzlich allein waren: „Die Tante hat sich schon um uns gekümmert, aber ich fühlte mich einfach völlig verlassen. Ich dachte mir oft, wenn ich am Abend nicht heimkomme, merkt das bei so vielen Leuten ohnedies niemand. Gerade in diesem Alter empfindet man sehr intensiv. Einerseits wird man hart, aber man wird auch ganz weich - weich mit Gleichgesinnten, mit Menschen, die auch verletzt worden sind.“
Und: „Ich bin nicht verwöhnt worden. Ich bin zäh, das ist fürs Schreiben kein Schaden.“
Sie schrieb viel, wollte weg aus Vorarlberg und studieren, wollte „die sein, die auf dem Buchrücken steht“. Dann heiratete sie doch mit 19 Jahren und bekam zwei Kinder. „Doch es bröckelte alles. Das war einfach nicht ich“, so Monika Helfer weiter.
Bei den „Randspielen“, einem Gegenfestival zu den Bregenzer Festspielen, lernte sie Michael Köhlmeier kennen, den sie 1981 heiratete. „Es war schicksalhaft. Aber wir verdienten beide kaum etwas, waren nicht einmal versichert. Wir waren Meister im Mit-wenig-Geld-leben“, erzählt Helfer. Sie bekamen zwei gemeinsame Kinder: Lorenz Helfer wurde Maler; Tochter Paula, die ebenfalls Schriftstellerin war, verunglückte 2003 bei einem Spaziergang am Hohenemser Schlossberg tödlich.
Ihre Tochter Paula sei für sie immer präsent. Auf den Schlossberg, wo sie verunglückte, gehe sie so oft wie möglich: „Dabei kann ich gut denken. Und Paula geht immer mit. Man kommt dem nicht aus. Es ist ein extremer Schock, wenn deine Kinder vor dir sterben. Da stimmt nichts mehr“.
Zwischen den Eheleuten Köhlmeier/Helfer gibt es, meint sie, kein Konkurrenzdenken: „Ich freue mich für meinen Mann, wenn er Erfolg hat und umgekehrt. Neid auf andere, etwa bei Preisverleihungen, ist mir fremd, für sowas hatte ich nie Zeit“. Über Auszeichnungen hätte sie sich zwar gefreut, gerechnet habe sie aber nicht mit ihnen: „Es wäre ja lächerlich, wenn man dringend auf einen Preis wartet.“
Auf ihre ersten Auszeichnungen musste sie auch lange warten. Ihr Debütroman Eigentlich bin ich im Schnee geboren erschien 1977 in der kleinen Edition Roetzer, seither hat sie zahlreiche Romane, Erzählungen, Theaterstücke und Kinderbücher veröffentlicht.
Ihr erster Roman „Die wilden Kinder“ (1984) handelt von den Problemen pubertierender Mädchen, die sich mit dem Erwachen der Sexualität und der Welt der Erwachsenen herumschlagen. In einer fremden und chaotischen Welt der Erwachsenen haben Bella und Angela ihre eigenen Träume vom Glück. Bella hofft beim dritten Ehemann ihrer Mutter auf ein geordnetes Leben, Angela setzt auf ihre frühreif-sinnliche Ausstrahlung. Es ist ein humorvoller, klarsichtiger Roman eines Sommers am Bodensee, in dem die beiden Protagonistinnen mehr und mehr feststellen müssen, dass sie auch selbst langsam erwachsen werden.
Nach „Mulo“ (1986), einer Sage, erschienen unter dem Titel „Ich lieb Dich überhaupt nicht mehr“ (1989) Geschichten Monika Helfers vom Zerbrechen der alten und vom mühevollen Werden neuer Beziehungen. Zugleich naive und raffinierte Beziehungsgeschichten, angesiedelt auf dem kurzen Weg vom Siebten Himmel auf den harten Boden der schmerzhaften Tatsachen.
In „Der Neffe“ (1991) soll Isabella aus Berlin drei Wochen lang, während der seine Eltern eine verspätete Hochzeitsreise machen, ihren elfjährigen Neffen in der österreichischen Provinz hüten. Albert freut sich auf Freiheit und Abenteuer. Nicht weniger erwartungsvoll ist Isabella: Nach einer verunglückten Liebschaft wittert sie dort das geeignete Revier für sexuelle Abenteuer. Doch es kommt ganz anders. Schließlich muss sich Albert einigermaßen gegen seine Tante zu Wehr setzen.
Helfers nächster Roman „Oskar und Lilli“ (1994) handelt von zwei Kindern, die von ihren Eltern verlassen werden und sich mit Witz, Phantasie und kindlichem Charme durchs Leben schlagen. Die Mutter der beiden Kinder muss auf Dauer in einer Psychiatrie behandelt werden, und ohne Vater werden die Geschwister von der Fürsorge getrennt und übergangsweise bei "Zieheltern" untergebracht. Oskar kommt zu den "Lehrers", einer Ökofamilie von Vegetariern mit Energiesparhaus und Sparwahn. Lilli hat mit Rut das bessere Los gezogen, denn die kümmert sich gut um sie, verspricht ihr, dass sie auf Dauer bleiben kann, wenn Rut mal heiraten sollte, und setzt sich für Lilli ein, als sie in der Schule Probleme bekommt. Die Klassenkameradin Elvira berichtet Lilli nämlich, dass sie ihre Mutter beim Diebstahl im Kaufhaus erwischt habe und wisse, dass ihr Vater eine Geliebte hat. Nun werde ihr jeder Wunsch erfüllt, damit sie diese beiden Geheimnisse für sich behalte. Aber Lilli möchte mit solchen Erpressungen nichts zu tun haben und sich lieber von Elvira fernhalten. Diese rächt sich, indem sie Lilli systematisch mobbt.
Lilli freundet sich dann mit der dicken Betti an. Manchmal leidet diese immens und hasst ihren übergewichtigen Körper, dann wieder tröstet sie sich, sie könne ja nach Afrika gehen, wo füllige Frauen begehrt sind. Bettis Schwester, die "Tschäin", ist drogenabhängig. In letzter Zeit spritzt sie sich mehr und mehr. Woher hat sie das Geld? "Hast du ihr etwas gegeben?" fragt Betti Lilli, die ihr schon zweimal heimlich viel Geld zum "Äitschschießen" zugesteckt hat. Sie waren gemeinsam auf dem Schlossberg, Lillis geheimem Ort, und dort hat sie die vielen Einstiche in den Armen der Tschäin gesehen. Welches Elend! Lilli war so erschüttert, dass sie einfach helfen musste – aber Betti kann sie die Wahrheit nicht sagen. Und keiner kann helfen, nicht mal die Muttergottes. Immer wieder betet Lilli zu ihr, bittet darum, ihren schützenden Mantel über ihre Feinde, Freunde und sich selber zu werfen.
"Die Lehrers" (die Mutter ist Turnlehrerin, der Vater unterrichtet Biologie) haben soviel mit sich selbst, ihrem immer schreienden Baby und der pflegebedürftigen Oma Erika zu tun, dass Oskar für sie nur ein ungeliebter, undankbarer Störenfried ist. Dabei zahlt doch das Amt für ihn, und zum Babysitten und zum Füttern der Oma können sie ihn gut gebrauchen. Zwischen Oma Erika und Oskar entwickelt sich schnell ein intensives Vertrauensverhältnis. Im Gegensatz zu anderen kann er die Worte, die unkoordiniert aus ihrem Munde fallen, verstehen. Für ihre Arme erfindet er Zugbänder, um ihr ständiges Zittern etwas zu mildern. Und sie teilen zwei Geheimnisse miteinander, von denen die "Lehrers" nichts ahnen: Erika hat in einem Versteck viel Geld, das er nach ihrem Ableben erhalten soll, und sie bittet ihn um Sterbehilfe – ein Kopfkissen, einen Stromschlag oder Ähnliches. In der Tat stirbt Erika später während eines technischen Unfalls mit einem Heizkörper ... Wenn Oskar nun also viel Geld erbt, was wird dann aus seinem Traum: Venezuela?
Es ist ein melancholischer Roman über zwei ganz auf sich selbst gestellte Kinder, die ihre Kindheit nicht ausleben dürfen. Im Gegenteil: Sie werden in die Probleme der Erwachsenenwelt derart stark hineingezogen, dass sie überfordert werden, auch wenn sie reifer als andere ihres Alters sind. Erzählt wird aus der Perspektive der Kinder.
In „Wenn der Bräutigam kommt“ (1998) braucht Bruna einen Vater, und ihre Mutter sucht einen Mann. Vasko Honka schien der Richtige zu sein, bis er eines Tages verschwand und beide schwanger von ihm waren. 15 Jahre später wird dann die unerwartete Todesanzeige Vasko Honcas zur Gelegenheit, Sonja und Judy, seinen beiden Töchtern, von der Rolle zu erzählen, die er damals gespielt hat. Eine wahrlich tragikomische Geschichte über die Fallgruben der sogenannten modernen Liebe.
In „Bevor ich schlafen kann“ (2010) fragt Josi Bartok:
"Wo gibt es für eine wie mich einen Mann, den ich lieben kann?" Doch noch ehe sie diese Frage stellt, wird das Leben der Frau, die als Psychiaterin auf der Baumgartner Höhe arbeitet, in seinen Grundfesten erschüttert. Brustkrebs wird diagnostiziert, sie muss operiert werden, und ihr Mann outet sich nach mehr als zwei Jahrzehnten Zusammenleben samt zweier Kinder (beide um die Zwanzig) als Homosexueller. Josi lässt Familienheim, ihren Mann, dessen Freund und Job hinter sich und bezieht eine Wohnung im achten Wiener Gemeindebezirk.
Eine Reise zur griechischen Insel Hydra, wohin sie aufbricht, um ihr Sexualleben aufzufrischen, wird zum Dreh- und Angelpunkt ihres neuen, beschädigten Lebens. Sie nimmt an einer Art Erzählseminar des Schriftstellers Michael Köhlmeier teil, der mit seiner Gattin, einer „besonders lieben Frau“, und seinen zwei Kindern angereist ist – eine Pointe, die jeder schnell aufzuschlüsseln weiß. Monika Helfer macht sich solcherart zur fiktionalen Gestalt im eigenen Roman. Und Josi Bartok, die Hauptfigur des Romans, lernt dann einen verheirateten Mann kennen, der sie interessieren könnte – und ein Mädchen namens Paula, das ihr Leben verändern wird ... Mit diesem Mädchen fand Monika Helfers und Michael Köhlmeiers Tochter Paula Eingang in ihre Literatur, als Figur, die der orientierungslosen Protagonistin den rechten Weg weist. „In dem Fall war Literatur Medizin. Sonst halte ich nicht viel davon, zur Therapie zu schreiben, denn Literatur ist Literatur, sonst nichts“, so Helfer in einem Interview. Bemitleidet werden möchte sie wegen ihrer Schicksalsschläge nicht, denn „dein Leben macht dich ja zu dem, der du bist“.
Möglicherweise wollte Monika Helfer durch das Aufgreifen vieler Themen den biografischen Aspekt zurückdrängen: Homosexualität, Lebens- und Identitätskrisen, Sinnsuche, Freundschaft, auseinanderbrechende Familie. Eine riesige Themenvielfalt, die sich zum Teil aus der psychischen Befindlichkeit Josis erklärt. Sie hat nämlich keine Lebensrezepte mehr parat, kann und will auch keine solchen liefern und flüchtet sich in Zynismus oder in Wut – und zeigt aber auch wohltuende Ansätze von Humor. Es ist ein tiefgründiger Roman über Liebe, Trauer, Sehnsucht und Freundschaft.
Der Band „Die Bar im Freien“ (2012) versammelt über hundert unwahrscheinlicher Geschichten, die kaum vorauszusehen und doch denkbar sind, so wie es der Untertitel verheißt: „Aus der Unwahrscheinlichkeit der Welt“. Es sind Geschichten, in denen nicht von ungefähr die verschiedenen Figuren miteinander oder aneinander vorbei ins Sprechen kommen. Nicht selten ist es das Alter Ego der Autorin selbst, das dem Leser in verschiedenen Situationen und Konstellationen begegnet. Immer mal wieder etwa trifft sie auf den „kleinen Mann“ und lässt sich von ihm in ein Kindergespräch verwickeln. Die Erzählungen machen sich oft klein – nicht nur, was ihre Länge angeht. Sie bücken sich ein wenig, lassen sich herab zu ihrem Gegenstand und gewinnen dadurch an Statur. Sie handeln von Eckenstehern und Randfiguren, von jenen, die ein bisschen haltlos sind, denen der Untergrund wackelig geworden ist und die sich deshalb an einem brüchigen Geländer entlanghangeln müssen. Heimatlose, Trauernde, Vertriebene, Zwangsverheiratete, Orientierungslose, Kranke – das ist das Personal dieses prosaischen Welttheaters. Viele der Figuren, die ihre Kurz- und Kürzest-Auftritte haben, sind gerade dabei, etwas zu verlieren, oder sie haben den Verlust bereits hinter sich und müssen nun sehen, was von ihrem Leben noch übrig ist. Manchmal beginnt ihr Unglück mit einem bösen Zeichen.
Wie sie ihre besondere Wirkung erzeugt, erklärt die Autorin in „Sag es regnet“. Die Erzählerin dieser Geschichte antwortet auf die Fragen des Mädchens Sumy, das bei einem Schreibseminar von ihr erfahren möchte, wie man Schriftstellerin wird. „Beobachte genau. Beobachte die Menschen“, sagt sie. „Hör ihnen beim Reden zu, schau, wie sie sich bewegen, wie sie sich einander zuwenden, merke, was sie reden, denke aber nicht, du könntest das Geredete einfach übernehmen. Du hörst es, es geht durch deinen Kopf hindurch, du formst es um für deine Geschichte, erfindest eine Person, die diesen Satz sagen könnte. Das überhaupt (...) ist das Heiligste: Stell dir vor, du kannst einen Menschen erfinden, du kannst aus ihm machen, was du willst, du kannst ihn gut oder schlecht machen.“
In „Die Welt der Unordnung“ (2015) macht die Schriftstellerin eine schreckliche Entdeckung: Auf dem Friedhof, den sie jeden Tag besucht, hängt ein totes Baby im Geäst einer Thuja. Ist es der kleine Bruder von Samira, den das neunjährige Mädchen bei der Polizei als vermisst meldet? Mit ihm, ihrer Mutter Mirjam, Onkel Wolf und seinen Freunden Orang und Utan lebt sie in einer Welt, in der so manches in Unordnung ist, in der die Armen, Elenden und Opfer häufig Kinder sind. Diese Welt kennt auch Inspektor Swini nur zu gut (wäre alles in bester Ordnung, es bräuchte keinen Inspektor). Swini hat Talent zur Tragödie, er wird zu Samiras Beschützer, aber er weiß auch, wie schwer eine Schuld wiegen kann, die einem ein Leben lang keiner abnimmt.
Was mit Tatort-Klischees beginnt, entwickelt mittels schneller Schwenks, knapper Schilderungen und eingestreuter Bremskapitel, die den bibelfesten Inspektor mit sich hadern sehen, eine Welt, in der keiner unschuldig ist.
Mit ihrem folgenden Roman „Schau mich an, wenn ich mit dir rede!“ stand sie 2017 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Vordergründig erzählt sie darin von einer vertrackten Familienaufstellung mit Scheidungskind, Rabenmutter, Neo-Geliebter, Patchwork-Vater, von galoppierendem Gefühlschaos, kleinkrämerischen Empfindlichkeiten, sich gabelnden Schicksalswegen. Die junge Vev lebt getrennt von ihrer Mutter Sonja, die sich mit einem schwachbrüstigen Typen, der sich "The Dude" (ja, nach dem aus „Big Lebowski“) rufen lässt, über das Auseinanderbrechen ihrer Ehe hinwegtröstet. Vevs Vater Milan übt derweil mit seiner neuen Frau ein frisches Bund-fürs-Leben-Drama.
Die Kinder lernen schnell, wie das Spiel läuft, und spielen es bald besser als die Erwachsenen. Es sind skandalös alltägliche Verhältnisse, die Monika Helfer in den Blick nimmt. Sie geht nahe heran an die Menschen, die darin leben, die mit sich und den anderen zurechtzukommen versuchen. Ihr Blick ist entlarvend, aber auch voller Empathie, schonungslos, aber immer im Dienst der Aufrichtigkeit. Und was aus größerer Entfernung wie eine Familie aussieht, ist bei näherer Betrachtung eben oft nicht mehr als ein fein austariertes System von Eigeninteressen.
Ihr Roman „Die Bagage“, voriges Jahr erschienen, entwickelte sich zu einem internationalen Bestseller. Darin leuchtet sie in ihrer typischen reduzierten Sprache die dunklen Flecken ihrer Vorarlberger Herkunft aus, wofür sie von Feuilleton und Publikum gefeiert wird. Lange hat sie auf so einen Moment gewartet. Es zehrte an ihr, dass ihr der große Durchbruch so lange nicht gelang, meinte sie in einem Gespräch in der „Zeit“: „Ich war schon oft verzagt … Aber der Michael hat dann immer gesagt: 'Die Karten werden jedes Mal neu gemischt' – und es ist wahr.“
„Die Bagage“ ist wohl ihr bestes Werk. Die Geschichte ihrer Familie aus dem Bregenzerwald, die den Stoff lieferte, wollte sie schon früher verarbeiten. Aber sie ließ es lange bleiben, weil sie niemanden habe verletzen wollen, sagt sie. „Ich habe gewartet, bis alle gestorben sind.“ Und nicht alles, was sie schließlich in diesem Roman erzählt, hat sich tatsächlich so zugetragen. Das Buch setzt Ende 1914 ein und reicht bis in die Gegenwart des Jahres 2003, bis zum tragischen Tod ihrer Tochter Paula. Sie erzählt von ihren Großeltern, Maria und Josef Moosbrugger, die als ärmliche Außenseiter am Rande eines Bergdorfs leben und vom Rest des Dorfes nur die „Bagage“ genannt werden. Von Maria, die so schön ist, dass es ein Fluch ist – die Männer im Dorf steigen ihr nach, die Frauen verachten sie. Von Josef, der in den Krieg ziehen muss, und von dem attraktiven Mann aus Hannover, der plötzlich im Hause Moosbrugger auftaucht. Von Grete, der Mutter der Autorin, mit der Maria schwanger wird und die ihr Leben lang von Josef nicht angeschaut wird, weil er glaubt, dass sie nicht sein eigenes Kind ist.
In ihrem Roman geht es auch weniger um das Leben auf dem Land, sondern um die Frage, wie sehr Erfahrungen und Verwerfungen innerhalb einer Familie über Generationen nachwirken. „Wann und wo endet die Bagage?“, fragt die Erzählerin. „Gehöre ich noch dazu? Gehören meine Kinder noch dazu? Gehört mein Mann dazu?“ Der autofiktionale Roman handelt von Erfahrungen, Vorstellungen und Vorurteilen, die sich über Generationen vererben, von der Großmutter über die Mutter bis zur Tochter: „Meine ‚schöne‘ Großmutter war Vorbild und Vorwurf. Alles Gute hing an ihr, aber wenn meiner Mutter etwas an mir nicht passte, sagte sie, ich solle aufpassen, dass ich nicht werde wie sie.“
Nach der Geschichte der Großeltern und der Mutter während der Zeit des Ersten Weltkriegs im Bregenzer Wald in der Erinnerungserzählung „Die Bagage“ widmet sich ihre literarische Spurensuche in „Vati“ der familiären Herkunft über die Wege (und Umwege) der eigenen Erinnerung auf die Figur des Vaters, Josef Helfer. Dessen Lebensgeschichte von seiner Kindheit bis zum Tod im Alter von nur 67 Jahren bildet den Erzählfaden des Romans. Eine Fotografie, das den Vater in der Außenseiterposition zeigt, wird zum Ausgangspunkt des literarischen Aufarbeitens seines Lebens: „Auf der Fotografie, die ich über meinem Schreibtisch an die Wand geheftet habe, steht er links, abseits. Er sieht aus, als gehöre er nicht dazu. (…) Niemand würde vermuten, der links auf der Seite ist unser Vater. Er sieht aus wie ein Städter, der dazugetreten ist. Zu dem einer gesagt hat: Komm, stell dich mit her!“ Es bietet den Anlass für ein Gespräch zwischen der Erzählerin und ihrer Stiefmutter.
Diese Fotografie steht von Beginn an im Zentrum des Romans, das Erzählen, das sich dem historischen Moment der Aufnahme immer weiter annähert, dringt zugleich immer tiefer zum Verständnis des Bildes – und damit der Lebensumstände und des „Wesens“ des Vaters – vor. Der Mann, der sich von seinen Kindern mit „Vati“ ansprechen lässt, weil es so „modern“ klingt, will so gar nicht in seine Rolle als ‚moderner‘ Familienvater passen. Und dennoch wollte er „vor uns und durch uns einen Mann erfinden, der in die neue Zeit hineinpasste.“ Aufgewachsen in den ärmlichsten bäuerlichen Verhältnissen, als unehelicher Sohn einer Magd, bringt er sich mehr oder minder selbst das Lesen bei. Er ist ein guter Schüler und entdeckt früh seine Leidenschaft für Bücher, die fortan sein gesamtes Leben bestimmt. Der Dorfpfarrer erkennt seine Intelligenz und ermöglicht ihm den Besuch des Gymnasiums. Doch kurz vor der Matura wird Josef in den Kriegsdienst eingezogen und an die Ostfront geschickt. Dort wird er schwer verwundet, verliert ein Bein und trifft im Lazarett auf die Krankenschwester Grete Moosbrugger, die seine Frau wird. So weit die Vorgeschichte.
Mehr erzählerischer Raum ist jener Lebensphase der Eltern gewidmet, die diese, gemeinsam mit ihren drei Kindern Renate, Monika und Richard auf der Tschengla verbringen, einem Hochplateau oberhalb von Bludenz, „1220 Meter über dem Meer“. Dort hat der Vater eine Anstellung als Verwalter des Kriegsopfererholungsheims, das 1959 in ein Berggasthaus umgewandelt wurde. Das Glück der Familie wendet sich, als der Vater einen Selbstmordversuch begeht. Er überlebt, ist aber lange Zeit krank; kurz nach seiner Rückkehr zu seiner Familie erkrankt die Mutter an Krebs und stirbt bald darauf; Monika ist elf Jahre alt. Die Familie droht auseinanderzubrechen, der Vater ist dem Kummer nicht gewachsen und flieht in die abgeschiedene Welt eines Klosters, die Mädchen leben, nurmehr geduldet, bei Verwandten. Schließlich gelingt es, eine zweite Ehe für den Vater zu arrangieren: eine zweite Chance auf ein geglücktes Familienleben.
Wohin die eigene Erinnerung nicht trägt, das wird Thema von Erinnerungsgesprächen, die die Erzählerin mit ihrer Schwester und der Stiefmutter führt und Unterbrechungen des Erzählflusses bilden. Sie führen in die Gegenwart des Erzählens und verweben die zentralen Themen des Romans – Erinnerung und Verlust – auf den verschiedenen Zeitebenen miteinander. Diese Erinnerungsgespräche (zwischen den Generationen) lassen die Bruchstellen des Erinnerns aufscheinen, das mit dem Tod eines Menschen für immer Verlorene; sie zeigen auch die Perspektivität allen Erinnerns. Wer sich erinnert und woran, das hängt immer auch mit der eigenen Rolle zusammen.
Monika Helfer schrieb ein wunderbares Buch über ihren Vater, das ganz ihm, dem Büchernarr, gewidmet ist und das durchaus nicht nur traurig stimmt. Sie bleibt dabei in gewisser Distanz, nicht allein dem Vater, sondern auch der eigenen Person gegenüber; sie wertet nicht, sondern sucht nach einem Weg des Verstehens.
In einem Interview verriet Monika Helfer bereits, dass sich „Die Bagage“ und „Vati“ mit einem weiteren Band zu einer Trilogie fügen soll: „Ich habe jetzt in der Corona-Zeit angefangen, ein Buch über meinen Bruder zu schreiben, über Richard, der sich mit 30 das Leben genommen hat. Ich war sehr eng mit ihm und er ist auch eine erzählenswerte Figur. Ich denke, wenn es gut geht, dann kann es im nächsten Frühjahr erscheinen, und es wird ‚Löwenherz‘ heißen.“
Foto: (c) Isolde Ohlbaum