„Naturkunden“ im Matthes & Seitz Verlag - Von der Natur erzählen

„Naturkunden“ im Matthes & Seitz Verlag - Von der Natur erzählen

Veröffentlicht am 21.11.2021

Bernhard Preiser über die Buchreihe „Naturkunden“ im Matthes & Seitz Verlag

Mehr als 60 Bücher sind bisher in einer der außergewöhnlichsten Buchreihen des deutschsprachigen Buchmarktes, den „Naturkunden“ im Berliner Matthes & Seitz Verlag, erschienen, die nicht zuletzt auch zu den schönsten zählen. Die Herausgeberin der Reihe, die Autorin Judith Schalansky, zu ihrem Programm: „In den Naturkunden erscheinen Bücher, die von der Natur erzählen, von Tieren und Pflanzen, von Pilzen und Menschen, von Landschaften, Steinen und Himmelskörpern, von belebter und unbelebter, fremder und vertrauter Natur. Der Name der Reihe ist Programm: Hier wird keine bloße Wissenschaft betrieben, sondern die leidenschaftliche Erforschung der Welt: kundig, anschaulich und im Bewusstsein, dass sie dabei vor allem vom Menschen erzählt – und von seinem Blick auf eine Natur, die ihn selbst mit einschließt.“

Und: „Jedes Buch in dieser Reihe wird, ungeachtet seiner Gattung, eine eigene Kunde von der Natur formulieren und dabei so aufwendig, vielgestaltig und schön werden, wie die Natur ihrer Gegenstände es fordert: bebildert, in historischen Formaten gebunden, fadengeheftet und mit Frontispiz sowie farbigem Kopfschnitt versehen. So feiern die Naturkunden nicht zuletzt die unnachahmlichen und mannigfaltigen Möglichkeiten einer lebendigen Buchkultur.“

Das ist eindrucksvoll gelungen. Die Bände sind alle hochwertig gedruckt, fadengeheftet und mit einem Frontspitz sowie einem farbigen Kopfschnitt versehen. Wer darin blättert, begegnet klassisch-schönen Bildtafeln. Es ist wahrlich eine Freude, ein Buch aus dieser Reihe in die Hand zu nehmen, und es begeistert auch Leser und Leserinnen, die sich nicht zuallererst als Naturfreund sehen würden. Jeder Band zeigt, wie groß der gegenseitige Einfluss ist, den Natur und Kultur im Lauf der Jahrtausende aufeinander ausgeübt hat. Die Herausgeberin Judith Schalansky beauftragte etwa Autoren und Autorinnen, jeweils eine Tier- oder Pflanzengattung von allen Seiten zu beschreiben, ausführliche Tier- und Pflanzenporträts, auch eben kulturgeschichtlich. Hier erschienen bisher Bände über Algen, Brennnesseln, Eidechsen, Esel, Eulen, Fliegen, Heringe, Hirsche, Käfer, Korallen, Krähen, Kröten, Nashörner, Nelken, Schafe, Schmetterlinge, Schnecken, Schweine, Wölfe. 

Und sie hat nicht wenige große Klassiker, Standardwerke des Nature Writung ausgegraben. So das wunderbar poetisch aufgeladene Buch „Der Wanderfalke“ von J.A. Baker, ein Meisterwerk der literarischen Naturbeobachtung, das zuerst 1967 erschien. In den 1960 er Jahren war der Wanderfalke im Aussterben begriffen. In diesem Wissen beobachtete Baker über zehn Jahre diese faszinierenden Vögel. Mit naturwissenschaftlicher Genauigkeit beschreibt er in seinem als Tagebuch angelegten Bericht das Leben eines Wanderfalkenpaares in Ostengland. Tag für Tag folgt er den beiden, beschreibt die Gewohnheiten und Ängste der Raubvögel mit einer beispiellosen Mischung aus Poesie und Präzision – wie besessen davon, dem Geheimnis ihrer Anmut auf die Spur zu kommen. Dabei scheinen im Laufe der Beobachtung Mensch und Vogel zu verschmelzen. Baker wird nach und nach selbst zum falkengleichen Jäger, der die Zeichen in der Landschaft zu deuten weiß.

In einen einzigen Winter, den er in Tagebuchnotizen aufschreibt, gießt er all seine Beobachtungen und findet für jede Bewegung, jede Regung, jedes Wetter und jeden Wind stets neue Worte. Und so ist das Buch nicht nur ein wundervoller Bericht aus der Tierwelt, voller genauer Beobachtungen, auch voller Trauer über das Verschwinden dieser Tiere, die von den Menschen vertrieben und ermordet werden, es ist auch ein sprachliches Meisterwerk, poetisch und mit einer Mystik durchzogen, die von der Metamorphose und Transformation eines Menschen in eine Naturgestalt erzählt. So dicht und nah, so phantasievoll-genau, so dichterisch und melancholisch wird von der Natur selten erzählt. Für den Filmemacher Werner Herzog ist dieses Buch „die schönste Prosa, die ich gelesen habe.“

Die Texte in dem 1949 zuerst veröffentlichten Band „Ein Jahr im Sand County“ von Aldo Leopoldo, des Pioniers des ökologischen Denkens, zählt zu den wirkmächtigsten Schriften über die Folgen des menschlichen Eingriffs in das komplexe Zusammenspiel der Wildnis. Als in den 30er Jahren auch die bisher größte Dürre in den Great Plains nicht zu einem Umdenken in den USA führt, bricht Aldo Leopold nach Deutschland auf, um im Land seiner Vorfahren Anregungen für eine nachhaltige Forstwirtschaft zu bekommen. Begeistert von den dort entwickelten Ideen, wie der des »Dauerwalds«, versucht er nach seiner Rückkehr deren Umsetzung und beginnt mit der Renaturierung des Geländes rund um eine verlassene Farm mit ausgemergeltem Boden am Wisconsin River in Sand County. Seinen Aufzeichnungen über die sich von Monat zu Monat wandelnde Landschaft folgen kurze Prosatexte, die er während seiner über 40 Jahre währenden Forschungen in den Wäldern von Arizona, Oregon und Manitoba verfasst hatte. Seine heute noch drängenden philosophischen Fragen zum Naturschutz beschließen diese so eigenwillige wie prophetische Naturethik eines sich zeitlebens für die Erhaltung von Wildnisgebieten einsetzenden Visionärs. Für viele ist es das bedeutendste Buch des 20. Jahrhunderts über Umwelt.

Die niederländische Philosophin und Schriftstellerin Eva Meijer beschreibt in ihrem abwechslungsreichen und unterhaltsamen Buch „Die Sprachen der Tiere“ tierische Kommunikationsformen. Sie wechselt dabei von wissenschaftlichen Anekdoten zu deren Analyse und von persönlichen Erlebnissen zu philosophischen Reflexionen über Sprache und ihre Funktionen. Die lautlichen Äußerungen von Hunden, Delfinen oder Elefanten beschreibt sie ebenso wie die erstaunlichsten systemischen und körperlichen Kommunikationsformen bei Ameisen oder Bienen. Es geht ihr neben der Entdeckung einer bis heute fast unerforschten Welt auch um die Möglichkeiten der Verständigung von Mensch und Tier. Ihre überraschenden Entdeckungen und Einsichten münden jedoch letztlich in der Frage, ob es nicht an der Zeit wäre, die schwache politische Position der Tiere zu überdenken. Denn wer Sprache hat, ist ein Mensch und damit ein ethisches Subjekt, so jedenfalls eine jahrhundertealte philosophische Überzeugung, mit der man bislang den Menschen über das Tier erheben wollte. Eva Meijer leistet mit diesem glänzenden Buch einen Beitrag zu einer längst überfälligen Debatte.

Inspiriert von Henry David Thoreaus „Walden“ zog sich die 27-jährige Autorin Annie Dillard Anfang der 70er Jahre in die Virginia Blue Mountains zurück, um die vielfältigen Erscheinungen der Natur genau zu studieren und das Wunder des Schauens auf sich wirken zu lassen und „wieder zu Sinnen zu kommen“, wie es Thoreau einst gefordert hatte. Ausgehend von der Erkenntnis, dass „das Detail“ das erste und „sichtbare Faktum der Welt“ sei, unternimmt sie tägliche Wanderungen an den bewaldeten Ufern des Tinker Creek, beobachtet und beschreibt den Wechsel des Lichts und das Wesen des Windes, das Leben der Bisamratten und Heuschrecken, die Schönheit der gegen den Strom schwimmenden Fische und die eines Wassertropfens unter dem Mikroskop. Geleitet von der Frage nach den Absichten einer Schöpfungskraft, die sich in all dem Naturschauspiel zugleich offenbart und verbirgt, verbinden sich so die genauen, überraschenden und oft auch verstörenden Entdeckungen ihrer Streifzüge in die Wildnis mit Gedankengängen aus Literatur, Naturwissenschaft und Mystik. Annie Dillards Sprache ist dabei so klar und poetisch, so erbarmungslos wie der Gegenstand ihrer Erzählung selbst: die lebendige Gegenwart der verwirrend vielfältigen Natur. „Pilger am Tinker Creek“ ist naturphilosophische Meditation, geistige Autobiografie, metaphysischer Lobgesang und poetischer Essay zugleich und nicht zuletzt auch die Chronik einer Suche nach nichts Geringerem als dem Sinn der Schöpfung.

Weitere grandiose „Kult“-Bücher, die hier in den „Naturkunden“ bislang erschienen sind und auf Leser und Leserinnen warten: Nan Shepards „Der lebende Berg“, William Henry Hudsons „Müßige Tage in Patagonien“, Edward Abbeys „Die Einsamkeit der Wüste“, Robert Macfarlanes „Karte der Wildnis“und „Alte Wege“, T.H. Whites „Habicht“, Rudolf Borchardts „Der leidenschaftliche Gärtner“ und „Der Deutsche in der Landschaft“, Wilhelm Lehmanns „Bukolisches Tagebuch“ oder Hanns Cibulkas „Sanddornzeit“. Die Neugier ist groß, welche Schätze noch folgen werden.