Nunez, Sigrid - Eine Feder auf dem Atem Gottes

Veröffentlicht am 05.04.2023
Über das Entwickeln der eigenen Identität
Sigrid Nunez ist seit dem überraschenden Erfolg von „Der Freund“, einem New Yorker Roman über einen Hund und die Freundschaft, mit dem sie 2018 den „National Book Award“ gewann, auch in Deutschland bekannt. Nun hat ihr Verlag ihr Debüt von 1995 neuerlich veröffentlicht. Darin versucht sie im Nachdenken über Herkunft, Kindheit und Erwachsenwerden ihre schriftstellerische Haltung und Identität zu finden und sich zu positionieren.
Geboren wurde die spätberufene Autorin 1951 in New York als Tochter eines panamaisch-chinesischen Vaters und einer deutschen Mutter. Dem Vater ist der erste und auch schmalste Teil gewidmet. Einem Mann, von dem Nunez nur wenig zu wissen scheint, wie wohl auch er selbst. Er war zeitlebens ein arbeits- und schweigsamer Mann, der auch wenig Kontur erhält, aber dessen Tod bei Nunez mit einer umso größeren Heftigkeit wirkte. Im umfangreicheren, zweiten Teil geht es um Mutter Christa, die, halb so alt wie ihr Mann, nach enttäuschter, erster Liebe den verlässlich wirkenden GI als Vater ihrer Kinder auswählt und mit ihm in die USA auswandert und in einer Sozialbausiedlung in Brooklyn landet.
Deutschland bleibt ihre Heimat und der nichteingelöste und so sehr ersehnte Lebensentwurf zeigt sich in einer Eigenwilligkeit und auch in der Bitterkeit der schönen Mutter, die sie sprachlich und in starken Bildern einzufangen weiß. Sigrid Nunez und ihre Schwester erhalten beispielsweise deutsche Namen, die dem Vater unaussprechlich bleiben. Im dritten Teil geht es vordergründig um ihre frühe Liebe zum Tanz und ihren Ballettunterricht und gleichzeitig zeigen sich darin Klassenunterschiede und es wird die eigene Weiblichkeit entdeckt. Im vierten Teil gibt Nunez, die als einzige in ihrer Familie das College besucht hat, Englischunterricht für Migranten, wobei sie Vadim kennen und lieben lernt. Auch hier ist die Bedeutung von Sprache zentral für das Entwickeln der eigenen Identität, einem Gefühl von Zuhause und der Möglichkeit menschlicher Beziehungen. Ein intensives und merkenswertes Romandebüt, das mit seinen Referenzen und seiner Form noch lange nachwirkt.
Julie August
Nunez, Sigrid - Eine Feder auf dem Atem Gottes
Roman. Berlin: Aufbau 2022. 222 S. - fest geb. : € 22,70 (DR) ISBN 978-3-351-03876-2 Aus dem Amerikan. von Anette Grube